Pulp-Krimi, Agententhriller, Liebesschmonzette
Kultur Im neuen Roman »54« des Autorenkollektivs Wu Ming begegnen sich Partisan_innen, Mafiosi und ein sprechender Fernseher
Von Tobias Lindemann
Die Bar Aurora in Bologna. Hier treffen ehemalige Partisan_innen auf junge Kommunist_innen und diskutieren über das politische Weltgeschehen. Pierre, Anfang zwanzig und ein begnadeter Filuzzitänzer, steht tagsüber hinter der Bar, abends trifft er sich heimlich mit seiner Affäre Angela, Ehefrau eines hohen Parteikaders. Hunderte Kilometer entfernt versucht Mafiaboss »Lucky« Luciano nach seiner Ausweisung aus den USA wieder in der Unterwelt Neapels Fuß zu fassen. Seine rechte Hand, Steve »Cemento« Zollo, hat genug davon, Gegenspieler_innen mit Betonschuhen an den Füßen im Fluss zu versenken und sucht eine »berufliche Umorientierung«. Währenddessen bekommt Hollywoodstar Cary Grant Besuch vom britischen Geheimdienst MI6. Grant soll in einem Spielfilm über die Heldentaten Titos mitwirken. So wollen die Alliierten versuchen, das sich von Moskau separierende Jugoslawien auf ihre Seite zu ziehen.
Willkommen im Jahr 1954, wie es das italienische Autorenkollektiv Wu Ming in seinem Roman »54« neu erfindet. Ein Buch wie ein Wimmelbild, in dem viele Erzählstränge parallel geführt werden, um sich irgendwann zu kreuzen - oder auch nicht. Neben den oben Genannten treten auf: der Kommunistenjäger Joe McCarthy, Bao Dai, ehemaliger Kaiser von Vietnam, ein lungenkranker französischer Gangsterboss, Meisterregisseur Alfred Hitchcock, der frisch gegründete KGB, eine bis dato unbekannte Romanfigur namens »James Bond« sowie ein aus den USA importierter Fernsehapparat der Marke McGuffin Electric. Übrigens wird ein Teil der Geschichte aus der Perspektive dieses Fernsehers erzählt.
Bei so vielen Schauplätzen, Protagonist_innen und Handlungssträngen fällt es zunächst schwer, sich zu orientieren. Italien wird 1954 von der christdemokratischen Democrazia Cristiana regiert, faschistische Funktionär_innen sitzen weiterhin an den Schaltstellen von Politik und Wirtschaft. Der Kalte Krieg nimmt weiter Fahrt auf. Triest und Umgebung sind als »Freies Territorium« internationalisiert, ein beständiger Zankapfel zwischen Italien und Jugoslawien. Das Wirtschaftswunder lässt die wichtigen Dienste der Partisan_innen bei der Befreiung vom Faschismus in Vergessenheit geraten, der kulturelle Einfluss der USA und eine neue Lust am Konsum sind spürbar. Fraglich ist auch, wie es mit der KP Italiens weitergehen soll. Wird die Partei nach Stalins Tod einen neuen Kurs finden?
Kein Wunder, dass die Stimmung in der Bar Aurora aufgekratzt ist. Pierre und sein Bruder Nicola, die Wirte, haben zudem den Verlust ihres Vaters zu verkraften. Dieser desertierte 1943 aus der italienischen Armee und schloss sich slowenischen Partisan_innen an. Doch während Belgrad und Rom über die Zugehörigkeit Triests streiten, haben italienische Freiheitskämpfer_innen in Titos Jugoslawien wenig zu lachen. Pierre beschließt, seinen Vater in Dalmatien zu suchen und zur Rückkehr nach Italien zu überreden. Mithilfe des Schmugglers Ettore gelingt ihm der illegale Grenzübertritt. Kurz darauf transportiert Ettore einen geklauten Luxusfernseher von Neapel nach Bologna. Das defekte Gerät landet nach einer Odyssee schließlich in der Bar Aurora. Fernsehen wird gerade zum Massenphänomen. Die Fußballweltmeisterschaft steht vor der Tür, und ganz Italien möchte vor den Bildschirmen dabei sein. Nicola und die Gäste seiner Bar ahnen nicht, dass ihnen der TV-Apparat die Mafia ins Haus bringen wird, die das Gerät unbedingt wieder in ihren Besitz bringen will.
Das historisch stichhaltige Zeitgemälde liegt nicht im Interesse von Wu Ming. Das hatte das Autorenkollektiv bereits mit seinem ersten Roman gezeigt, der noch unter dem Pseudonym Luther Blissett erschien. »Q« hieß das Buch, das 1999 veröffentlicht wurde und zum internationalen Bestseller avancierte. Oberflächlich betrachtet ein historischer Thriller, dessen Plot in der Reformationszeit spielt, offenbart »Q« bei genauer Lektüre etliche Bezüge in die Gegenwart. Findige Leser_innen enttarnten die Romanhandlung als Allegorie auf die Geschichte der Linken in Italien nach 1950. Nach »Q« wuchs das Kollektiv auf fünf Mitglieder an und benannte sich in Wu Ming um, was auf Mandarin »ohne Namen« oder »fünf Namen« bedeutet, je nach Aussprache. Mit »54«, im Original bereits 2002 erschienen, liegt nun der erste Wu-Ming-Roman auf Deutsch vor.
Wie die Inhaltsangabe schon ahnen lässt, ist »54« eine wilde Mischung, nicht nur an Geschichten, auch an Genres. Pulp-Krimi, Agententhriller, Liebesschmonzette und Heldengeschichte treffen hier aufeinander. Bei den Charakteren sind kernige Typen in der Überzahl, der leichtgängige Erzählton kippt immer wieder ins Pathetische und Melodramatische. Für Wu Ming ist diese Hybridisierung Konzept, schließlich rief das Kollektiv 2008 die »Neue Italienische Epik« aus. Programmatisch soll die »NIE« durch die komplexe Verknüpfung massentauglicher Literaturgenres eine andere Art des populären Romans erzeugen, der mittels alternativer Geschichtsschreibung einen neuen Zugang zur Vergangenheit ermöglicht und damit einen Link in die Zukunft setzt: Geschichte wird gemacht, nicht von den Mächtigen, sondern unter Beteiligung von jeder und jedem Einzelnen. Dass diese Taktik linke Inhalte in die Bestsellerlisten befördern kann, hatte Wu Ming bereits mit »Q« bewiesen.
Das Konzept ging auch bei »54« auf. Wie nebenbei werden bei der Lektüre Aspekte linker Geschichte absorbiert, vom Schicksal antifaschistischer Kämpfer_innen bis zu den Diskursen um einen zukunftsfähigen Kommunismus. Außerdem bekommen wir eine Ahnung, wie es im Kopf von Cary Grant aussah, wie die Mafia ins internationale Drogengeschäft einstieg und warum in jeder gastronomischen Einrichtung Italiens immerzu ein Fernseher läuft. Oder ist letzteres eine Parabel auf die von den Massenmedien geprägte Ära Berlusconi? »54« steckt voller kluger Reflexionen und macht Spaß. Ein großes Spiel, das bald weitergehen kann: Der Verlag Assoziation A hat bereits die Übersetzung weiterer Romane von Wu Ming ins Deutsche angekündigt.
Tobias Lindemann ist Redakteur bei Radio Z und bloggt unter dem Namen Libroskop über Literatur. Er schrieb in ak 602 über das künstlerische Konzept der Überidentifikation.
54
Ein Wimmelbild des Weltgeschehens im Jahr 1954 ist der neue Roman des italienischen Autorenkollektives Wu Ming. Wer ein ak-Jahresabo abschließt, kann das Buch als Aboprämie erhalten. Wu Ming: 54. Verlag Assoziation A, Berlin-Hamburg 2015. 540 Seiten, 24,80 EUR.