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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 411 / 12.2.1998

Radikalreformerische Stagnation

"Crossover" diskutiert Konturen eines neuen "New Deal"

Die Zeichen der Stagnation sind unverkennbar. Dabei hatte es so vielversprechend angefangen: Ende 1995 setzten sich große Teile der in den drei Parlamentsparteien SPD, Bündnis 90/Grüne und PDS organisierten Linken zusammen, um "die getrennt verlaufenden Diskurse der Linken in einem Prozeß des ,Crossover` gemeinsam zu verarbeiten und eine neue Vorstellung von radikalreformerischer Politik zu entwickeln". Unter dem gemeinsamen Dach der drei entsprechend parteinahen Zeitschriften Andere Zeiten, Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft (spw) und Utopie kreativ luden sie Anfang 1996 nach Berlin ein. Kämpferisch wandten sie sich gegen das von den vermeintlichen Sachzwängen des Neoliberalismus erzeugte und durch linke Denk- und Verständigungsblockaden zementierte "Verschwinden der Politik".

Fast 200 Menschen kamen damals. Durch die Bündelung und Fundierung alternativer Reformprojekte wollten sie zu einer gesellschaftlich mehrheitsfähigen Gesamtalternative gelangen. Abschließend wurde eine Intensivierung des Dialogs verabredetet. (Vgl. ak 388)

Zwei Arbeitstreffen in Magdeburg und Hannover folgten, doch es dauerte fast zwei weitere Jahre, bis man sich am Wochenende des 13./14. Dezember 1997 erneut öffentlich traf. Dieses Mal kamen deutlich weniger Menschen; an der von der studentischen Streikwelle gezeichneten Ruhr-Universität in Bochum war von den alten Aufbruchsgefühlen nur mehr wenig zu spüren. Zog man damals, angesichts der scheinbar totalen politischen Flaute, seine Energie aus einem erfrischenden "Jetzt erst recht", so wähnte man sich nun wieder mit dem geschichtlichen Trend in Übereinstimmung, verwies auf die Wahlsiege in Großbritannien und Frankreich und sah den Neoliberalismus an seine Grenzen stoßen.

War vor zwei Jahren noch nicht ausgemacht, welche programmatische und politische Substanz das "Crossover"-Projekt hat, so läßt sich heute dezidierter urteilen.

Eckpunkte eines neuen "New Deal"

"Crossover" eint das Ziel, "unsere Produktions-, Arbeits- und Lebensweise in Richtung ökologischer Nachhaltigkeit umzustellen, entsprechende Innovations- und Investitionsfelder zu fördern, dabei neue Arbeit zu schaffen und den Sozialstaat auf erneuerter Grundlage zu sichern". Eckpunkte eines solchen ökologisch-solidarischen "New Deal" sind:

1. Eine über die bloße Einführung von Ökosteuern hinausführende, sich nicht als bloße nationale Innovationsstrategie verstehende, ganzheitliche Strategie des ökologischen Umbaus. Sie soll auf einer Veränderung des Ordnungsrechtes, einer Konsumwende und der Erweiterung demokratischer Teilhaberechte beruhen.

2. Die Errichtung eines sogenannten dritten Sektors neben staatlichem und privatem, der bislang informell erbrachte Leistungen erwerbswirtschaftlich organisiert, Entgeltanspruch, Steuer- und Sozialversicherungspflicht allgemein durchsetzt und gleichzeitig mit positiven Elementen der Kooperation, der Identifikation und Gebrauchswertorientierung anreichert. Möglichst regional organisiert, soll er den kommunalwirtschaftlichen Sektor, privatwirtschaftliches Handwerk und Kleingewerbe mit Formen neuer Gemeinwirtschaft verbinden und die von der Massenproduktion und vom herkömmlichen Sozialstaat unbefriedigt gelassenen gesellschaftlichen Bedürfnisse bedienen.

3. Klassisch linke Konzepte von Wirtschaftsdemokratie, die an der Produktion ansetzen, sollen um eine Demokratisierung des Konsums (Stichwort Marktwahlen) zur Verbraucherdemokratie zuerst erweitert, dann internationalisiert und durch Investitionslenkung auf möglichst regionalisierter Ebene ergänzt werden.

4. Im Zentrum einer beschäftigungspolitischen Offensive sollen eine radikale Arbeitszeitverkürzung und ein "neues Normalarbeitsverhältnis" stehen. Ziel ist eine generelle Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von oben nach unten und hin zu den Frauen, und ein neuer auf existenzsichernder Erwerbsarbeit beruhender Vollbeschäftigungstyp für alle, die dies wollen.

5. Mit einer den aktuellen Modernisierungs- und Bildungsbedarf aufgreifenden zweiten Bildungsreform soll an die Ziele der Bildungsreform von 1968 ff angeknüpft werden.

Politische Schwächen

Was die Programmatik anbelangt, haben wir es hier mit dem zur Zeit wohl bedeutendsten Versuch zu tun, radikalreformerisch-linke Politik neu zu definieren. Und eine Auseinandersetzung der radikalen Linken mit den teilweise recht detaillierten Vorstellungen von "Crossover" kann einen guten Einstieg bieten in die dringend nötige neue Reformulierung linkssozialistischer Theorie und Praxis.

Die politische Substanz der Vorschläge des "Crossover"-Projektes ist freilich in mehrfacher Hinsicht ausgesprochen schwach. Die Illusionen über den politischen Stand der Dinge sind groß. So wird z.B. erklärt, die Politik der konservativ-liberalen Koalition sei "mehr als verbraucht". Für die Diskussionsteilnehmer schien ein Machtwechsel nach den nächsten Bundestagswahlen offenbar eine ausgemachte Sache zu sein; es gelte lediglich, ihn in einen realen Politikwechsel weiterzutreiben.

Tatsächlich ist die Regierung Kohl jedoch keineswegs verbraucht, schließlich hat sie bisher noch jede wesentliche "Deform" durchgebracht. Auch kann man nicht ernsthaft erwarten, daß ein Kanzlerkandidat Schröder jene unentschlossenen Schichten zur Wahl zu mobilisieren in der Lage ist, die sich eine Änderung der herrschenden Politik wünschen.

Problematisch ist auch die offensichtliche Fixierung auf das durchaus nicht abzulehnende, aber zweifelhafte Geschäft des Parlamentarismus - trotzdem wird die diesjährige Bundestagswahl und eine eventuell daraus entstehende rosa-grüne Regierung zum alleinigen und zentralen Kriterium eines längst fälligen Politikwechsels gemacht. Es ist bemerkenswert ignorant und politisch fahrlässig zu glauben, die Wahlergebnisse in Großbritannien und Frankreich könnten neue Hoffnungen begründen (das sagten übrigens die auf der Konferenz eingeladenen Gäste aus diesen Ländern sehr deutlich). Denn die Wahlergebnisse sind nur die Folge von sozialpolitischen Veränderungen an der gesellschaftlichen Basis, nicht aber ihre Ursache.

Die Stärke der gegenwärtigen europäischen Linken beruht nicht auf ihrer Position in den Parlamenten, viel wichtiger sind die Kämpfe auf der Straße und in den Betrieben. Linke, die nicht vor allem darüber nachdenken, wie diese Kämpfe ausgeweitet und vertieft werden können, müssen sich über ihre Motive befragen lassen.

In den Papieren und Diskussionen des "Crossover"-Treffens fehlt außerdem jedwede politisch-intellektuelle Auseinandersetzung mit den eigenen Parteien. Welche Rolle spielen Grüne wie beispielsweise der Europa-Abgeordnete Frieder Otto Wolf in ihrer eigenen Partei? Welche Rolle wollen sie spielen, wenn die Partei vollständig im Zangengriff des zentristischen Ultra-Realos Joschka Fischer auf der einen und seinem opportunistischen Antipoden Jürgen Trittin auf der anderen Seite gefangen ist und sich dabei offensichtlich auch noch pudelwohl fühlt?

Was ist von einer SPD-Linken zu halten, die augenscheinlich hilflos dem politischen Opportunismus des ,linken` Parteivorsitzenden Lafontaine, der intriganten Rau-Kamarilla und dem dadurch ermöglichten Durchmarsch des Neoliberalen Schröder gegenübersteht?

Was ist von zwei parteilinken Strömungen zu halten, die eine Gelegenheit wie "Crossover" nicht zu einer geharnischten Auseinandersetzung mit den gerade beendeten eigenen Parteitagen von Kassel und Hannover benutzen? Die PDS-Mitglieder, die auf dem Treffen anwesend waren, lösten dieses Problem, indem sie sich weitgehenden aus den großen Konferenzdebatten zurückzogen.

Ein weiteres, damit zusammenhängendes Kardinalproblem von "Crossover" liegt in der mangelnden Fähigkeit, den eigenen politischen Ansatz zuzuspitzen. Man hätte erwarten können, daß zweieinhalb Jahre der gemeinsamen Diskussion - die in der Tat zu einer Homogenisierung dieser Strömung beigetragen haben - ausreichen würden, um jetzt eine Art Manifest zur Erneuerung der Politik zu verabschieden, mit dem man sich sofort in den gemeinsamen Wahlkampf hätte stürzen können. Statt dessen soll ein Koordinationstreffen im Frühjahr etwas Vergleichbares entwickeln. Für eine Strömung, die zu Recht in der Demokratisierung gesellschaftspolitischer Strategienentwicklung den Dreh- und Angelpunkt einer politischen Wende erblickt, ist das nicht nur eine verpaßte Chance, sondern auch ein reichlich undurchsichtiges Verfahren.

Ein weiterer Schwachpunkt ist die mangelnde Vermittlung der theoretischen Alternativen mit einer aktivierenden politischen Strategie. Ausgangspunkt des "Crossover"-Ansatzes ist die Idee - so scheint es immer wieder durch -, daß es vor allem theoretisch-programmatischer Verständigung bedarf, um die öffentliche Debatte so zu öffnen, daß neue alternative Bewegungen aufkeimen können.

Doch das ist bestenfalls die Hälfte des Problems. In einer Arbeitsgruppe auf der Konferenz, zu der der führende IGM-Gewerkschafter Helmut Schauer als Gast eingeladen war, wurden die Schwierigkeiten beispielhaft konkretisiert. Schauer kritisierte den Ansatz, die radikale Arbeitszeitverkürzung in den Mittelpunkt einer alternativen Gesellschaftsstrategie zu stellen. Heute ginge es nicht um eine weitere Verkürzung der Arbeitszeit, sondern um die Verhinderung realer Verlängerungen. In Zeiten des Lohneinbruchs führt Arbeitszeitverkürzung vor allem zu Arbeitsverdichtung. Daher müsse die Linke den Finger erneut auf die Verteilungsfrage legen, andernfalls verliere sie jede Mobilisierungs- und Umsetzungsperspektive. Die anschließenden, teilweise gereizten Reaktionen offenbarten, daß dieser ausgesprochen wichtige Einwand bei vielen auf Unverständnis stieß.

Das Begleitbuch

Parallel zum Kongreß erschien das erste von "Crossover" herausgegebene Buch. 25 Autorinnen und Autoren diskutieren darin in 19 Beiträgen "Konfliktfelder" wie Zukunft der Arbeit, deutsche Ost-West-Spaltung und Demokratie/Mediengesellschaft, sowie die Perspektiven linker Politik im Übergang zum nächsten Jahrhundert. Auch wenn man hier einige interessante Beiträge findet, verstärkt der Gesamteindruck die Enttäuschung. Die oben erläuterten Schwächen finden sich alle auch im Buch. Einzig die allzu platte Fixierung auf das parlamentarische Geschäft wird häufiger in Frage gestellt, z.B. von Willi Brüggen, Frieder Otto Wolf und Horst Dietzel/Wolfgang Gehrcke. Leider sind in dem Buch die programmatisch bereits entwickelten Alternativansätze kaum wiederzufinden; auch die bereits erreichte Homogenisierung der beteiligten Strömungen bleibt weitgehend unsichtbar: Die bisher erarbeiteten gemeinsamen Texte wurden in den Band nicht aufgenommen. Auch der erklärte Wille, "die widerspruchsvolle Geschichte der Linken in Ost und West kritisch (zu) reflektieren", wird bedauerlicherweise nicht umgesetzt. Vom angekündigten Dialog ist also nicht viel zu spüren, die Texte stehen recht unverbindlich und unverbunden nebeneinander und geraten zu Monologen der einzelnen Strömungen. (Einzige Ausnahme ist das Thema "Umbauprojekt und Feminismus".)

Die Tendenz, die proklamierte Erneuerung von Politik im Fahrwasser des Neoliberalismus auf eine bloße Verbesserung herunterzukochen, ist vor allem auf sozialdemokratischer Seite sichtbar, z.B. in Edelgard Bulmahns Beitrag zur Bildungspolitik.

Die meisten Autoren aus dem PDS-Spektrum arbeiten sich hauptsächlich an den verzerrt-verzerrenden Ansichten über die staatsozialistische Vergangenheit ab. Da rollen Dieter Klein und Lutz Brangsch nochmals die angeblich so neue Unübersichtlichkeit und die Ausdifferenzierung der potentiellen Akteure auf; sie beklagen, daß sich Klassenbewußtsein nicht automatisch politisiert und beschwören deswegen ein postmodernes "anything goes". Die Gebrüder Brie reiten ihr postsozialistisches Steckenpferd, die Demokratisierung der Demokratie: Sie proklamieren die bürgerliche Demokratie als "größte politische Leistung menschlicher Zivilisation" und wollen einfach nicht verstehen, warum ihnen da niemand von den Westlinken folgen will.

Erfrischend ist dagegen Frieder Otto Wolfs (bündnisgrüne) Suche nach einer neuen politischen Grundorientierung, die die Spaltung von Arbeiterbewegung und neuen sozialen Bewegungen überwinden möchte. Er wendet sich gleichermaßen überzeugend gegen die Reaktualisierung eines falschen, weil bornierten Arbeiterbewegungstraditionalismus wie gegen die Fortführung postmoderner Diskurse: "Wer heute auf alternativer Seite die ,konsumistischen Massen`, die ,Gewerkschaften als Lohnsteigerungsmaschine` oder die ,patriarchalischen Lohnarbeiter` immer noch für den zu bekämpfenden Kern des Problems hält, reiht sich als freiwillige Hilfstruppe in die neoliberale Spaltungsstrategie ein."

Gefahren und Tendenzen

Eine über die beschreibende Ebene hinausgehende grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem neoliberalen Angriff, seinem gesellschaftspolitischen Diskurs und dessen Logik bleibt bei "Crossover" bisher ebenso aus wie die Reformulierung einer dazu alternativen Logik, von der aus die herrschende Logik verworfen werden könnte. Zudem fehlt eine Auseinandersetzung mit den eigenen versteinerten Parteiverhältnissen und dem problematischen Bezug auf die parlamentarische Ebene. Denn die Konzentration auf den Parlamentarismus nimmt dem real vorhandenen außerparlamentarischen Widerstand die politisch-strategische Zentralität. Damit aber ist die Gefahr verbunden, daß sich eine eventuell erfolgreiche parlamentarische Linke gegen außerparlamentarische Widerstandsbewegungen wenden könnte.

Wir haben es hier mit ernsthaften Schwächen zu tun, ohne deren Überwindung dem Projekt wohl keine Zukunft beschieden sein wird. Schwächen allerdings, das muß relativierend gesagt werden, die "Crossover" größtenteils mit anderen politischen Ansätzen auf Seiten der Linken gemein hat. Zumindest kann man ihnen nicht absprechen, diese Schwächen überwinden zu wollen.

Das wurde auf der abschließenden Kongreßdiskussion deutlich, als die ehemalige Juso-Vorsitzende Susi Möbbeck nochmals den formulierten Gründungskonsens zitierte. Demnach sei "ein Neoliberalismus ,light` mit ökologischen und sozialen Tupfern ... nicht in der Lage, die enormen gesellschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen; vielmehr bestünde die Gefahr einer Diskreditierung rot-grüner Perspektiven". Auch Michael Jäger forderte in seinem abschließenden Plädoyer eine den Kapitalismus transzendierende Realpolitik, die die Ziele der gesellschaftlichen Produktion in den Mittelpunkt stellt und damit die Logik der Anarchie des Marktes zentral angreift.

In der abschließenden Diskussion ging dann ein erfrischender Ruck durch die Versammlung. Einige TeilnehmerInnen forderten mehr Systemkritik und die Einbeziehung internationaler Dimensionen; außerdem stellten sie den Begriff des "New Deal" als "öko-keynesianistisch" in Frage. Man beklagte auch, daß sich die PDS-Mitglieder in den Diskussionen kaum geäußert hatten. Viele KongreßteilnehmerInnen kritisierten außerdem offensiv den gegen die PDS gerichteten Wahlkampf des rosa-grünen Bündnisses und forderten den Aufbau eigener Strukturen.

Derartige Positionen hätte man sich als Ausgangspunkt der Konferenz gewünscht.

Christoph Jünke

Crossover (Hrsg.): Zur Politik zurück. Für einen ökologisch-solidarischen New Deal, Münster (Westfälisches Dampfboot) 1997, 264 Seiten, 29.80 DM