Im Jahr der Schweine
Klaus Viehmann über Memoiren von RAF-AussteigerInnen
1997 droht die Bestätigung des bösen Witzes, daß Geschichtsschreibung die Summe der Lügen ist, auf die sich die Leute nach 20 Jahren geeinigt haben. Zu 20- oder 30jährigen Jubiläen gibt es Fernsehfilme, Talk-Shows, neue Bücher oder Zeitschriftenbeilagen voller Terror und Guerillageschichtchen: Wichtig, wichtig präsentiert von einer kruden Mischung aus Bundesanwälten, Spiegel, BKA-Journalisten und ehemaligen, ganz ehemaligen und besonders ehemaligen Stadtguerillamitgliedern. Gegen dieses Schmier- und Quatschkartell auf dem Medienmarkt anstinken zu wollen ist aussichtslos. Die bürgerlichen Medien wollen Distanzierungen hören. Wer dem nicht nachkommt, wird totgeschwiegen oder verleumdet; so geht es auch den immer noch im Knast sitzenden Gefangenen. Ein Buch wie Rossana Rossandas und Mario Morettis Brigate Rosse, das als politisch reflektierendes Streitgespräch den Ansprüchen einer linken Geschichtsschreibung genügt, lesen in der BRD vielleicht zweitausend Leute. Die staatliche Geschichtsvariante á la Todesspiel (bezahlte Ghostwriter: die KronzeugInnen Peter Jürgen Boock und Silke Meier-Witt) sehen Millionen.
Die Situation sähe bei einer aktuell stärkeren (militanten) Linken und womöglich bewaffneter Praxis anders aus, aber in diesen Tagen Ende der 90er Jahre, in denen der bewaffnete Kampf der 70er Jahre nicht mehr existiert und in denen wenige an revolutionären Absichten festhalten oder neu zu ihnen finden, wird eine Kritik dieses "Herbst"-Schwulstes kein Massenpublikum finden. Frappierend ist allerdings, daß manche Inszenierungen auch von Linken einfach akzeptiert werden. Insbesondere AussteigerInnen-Memoiren, die mit linkem Restanspruch daherkommen, erfahren eine große Verbreitung und positive Rezensionen.
Peng! Peng! Tratsch bis zum Schuß
Was macht den Reiz solcher Memoiren aus? Wieso finden politische Beschreibungen, Dokumente und Debatten viel weniger Interesse als ein personalisiertes Panoptikum des bewaffneten Kampfes? Eigentlich wissen ja alle, daß in Autobiographien gelogen, unterschlagen und verdreht wird - also was verführt selbst bewußte Linke dazu, offensichtlichen Zerrbildern Glauben zu schenken? Liegt es nur daran, daß Memoiren einen Einblick in die intime Sphäre einer verborgenen Welt bieten, einer fremden, aber durch Sensationsberichte interessant gemachten Welt?
Es ist ja auch bequemer, im Wartezimmer das Goldene Blatt über Königinnen und Fürsten zu lesen als eine historisch-kritische Untersuchung des Feudalismus und seiner heutigen Wurmfortsätze. Der Unterschied im Wahrheits- und Lehrgehalt ist allgemein bekannt. Aber das eine ist leicht zu schmökern, das andere mühselige Erkenntnis-Arbeit. Der Szenetratsch fesselt, weil man/frau "informiert" wird, ohne nachdenken zu müssen... Genau so funktionieren die "Insider-Berichte" aus der Stadtguerilla: Schillernde Figuren, Schurken und Lichtgestalten statt politischer Hintergründe und Diskussionen; Zeilen voller Liebe und Ressentiments statt Fairneß und Differenzierung. Literarisch oft unter aller Sau, öffnet sich für die LeserInnen ein Schlüsselloch mit Blick auf MP-Salven, dunkle Verliese und das Liebesleben in der Illegalität.
Um Mißverständnisse zu vermeiden: Es gibt gute Beispiele für subjektive politische Berichte oder Romane. Die Testimonios der Tupamara/os verbinden z.B. persönliches Erleben in allen Widersprüchen mit politischer Bewußtheit und andauernder Feindschaft gegenüber dem herrschenden System. Sie zeigen Bereitschaft zu Selbstkritik mit Fairneß gegenüber ehemaligen WeggefährtInnen. Die Romane von Nanni Balestrini über die italienische Bewegung der 70er und 80er Jahre vermitteln mehr als ganze Jahrgänge alter Zeitungen. Von Peter Weiss' Ästhetik des Widerstands ganz zu schweigen...
Das ist aber nicht das, was der kapitalistische Markt will. Der sucht den Kick, Beziehungstratsch, tolle Typen, sogar mal starke Frauen, und will die Einsicht hören, daß es alles nichts gebracht hat, daß der bewaffnete Kampf ein Fehler war und niemand noch einmal auf die Idee kommen soll, das anders zu sehen. Für andauernde Systemfeindschaft und unspektakuläre Ehrlichkeit wird nicht gezahlt.
Eitelkeit im Wahrheitsministerium
In der parteikommunistischen Geschichtsschreibung sind je nach politischer Lage Personen und politische Positionen verschwunden, und die Bedeutung anderer hat zugenommen. Der Unterschied zu AussteigerInnen-Memoiren: Da fehlen bestimmte Personen und Positionen schon in der ersten Auflage, und die AutorInnen sind sofort ganz wichtig.
Es ist Eitelkeit, die darauf drängt, persönliche Erlebnisse in möglichst hoher Auflage gedruckt sehen zu wollen: Die eigene Person steht als HeldIn im Vordergrund, das alte Kollektiv ist nur noch Staffage. AussteigerInnen schreiben allein. Sie wollen ihre Version der Story gar nicht diskutieren, denn eine kollektive Geschichtsschreibung ließe ihnen nicht genug Raum zum faktenlosen Fabulieren. Nur so können alte Freund- und Gegnerschaften nach heutigem Nutzen, Eigeninteresse und Gutdünken auf- und abgerechnet werden. Durch die Verwendung von Deck-, Klar- und Falschnamen entsteht eine Grauzone, in der Unterstellungen, Auslassungen und Diffamierungen besonders gut möglich sind. Für identische Personen lassen sich auch mehrere Namen verwenden, dann können Verleumdung und Verdienste ganz ungeniert verteilt werden.
Der Gewinn wird allerdings keinesfalls verteilt: Die ehemals kollektiv gemachte antikapitalistische Geschichte wird zu gewinnbringenden Buchveröffentlichungen, Talk-Show-Auftritten und Lesungen. Die alten GenossInnen werden nicht mal gefragt, ob das Geld nicht irgendwohin gespendet werden sollte. Die Linke ist ohnehin nicht besonders gefragt, denn nur das bürgerliche Publikum sorgt für hohe Auflagen und Einschaltquoten. Ein Vorabdruck im Spiegel oder ein Auftritt im TV bringt mehr Geld und befriedigt die Eitelkeit besser als ein Bericht im freien Radio oder linke Diskussionsveranstaltungen, bei denen man/frau nicht vom Podium herab schwadronieren kann.
Eine auf dem Markt erfolgreiche Aussteigerstory muß die Distanzierung von der alten Politik sorgfältig dosieren: Nicht ganz so weit, wie es gegenüber Polizei und Justiz nötig war, um weniger Knast zu kriegen, sondern genau so weit, daß die Erinnerungen einerseits noch als Insiderbericht durchgehen, andererseits aber als Bericht eines/r "inzwischen vernünftig Gewordenen" konsumiert werden können. Konsumierbarkeit und Eitelkeit vereinigen sich trefflich, denn beide wollen nicht die politische Geschichte erkennen, sondern die/den AutorIn in Zwangslagen ("tragischeR HeldIn") und schwerer innerer Zerrissenheit ("Liebe oder Guerilla") genießen. Das Publikum darf mitschwelgen, und weil das in hoher Auflage geschieht, wird auch der Bauch des/der AutorIn gepinselt.
Eitelkeit findet ihre harte Grenze im Knast. Dort funktionieren Selbstdarstellung, Großmäuligkeit und Starallüren nicht, und man/frau muß, auf sich selbst zurückgeworfen, zehn oder fünfzehn Jahre überleben.
Lange im Knast bleiben zu müssen und sich dort altern zu sehen, ist für alle sehr schwer. Es gibt akzeptable Gründe, das nicht auszuhalten. Genug Gefangene sind vorzeitig freigekommen, ohne sich zu verkaufen, andere zu belasten und sich später ins Rampenlicht zu drängeln. Für die Eitlen aber ist ihr persönliches Schicksal wichtiger als die alte Kollektivität und ihre politische Überzeugung - die läßt sich ja gegebenenfalls ändern. Im Knast suchen sie nach einem Ausweg - Hauptsache raus! - und wenn Ausbruchsversuche unmöglich sind, kommt die taktische Wende, um auf irgendeinem anderen Weg (früher) rauszukommen.
Was nicht geschrieben steht...
In der ursprünglichen Fassung dieses Artikels, der in der Arranca! Nr.12 veröffentlich wurde, bin ich auf einzelne Darstellungen in Inge Vietts Buch Nie war ich furchtloser eingegangen. Es reicht, das einmal getan zu haben, zumal der Sinn darin bestand, grundsätzliche Schemata und Verfälschungen in AussteigerInnen-Memoiren zu belegen. Nie war ich furchtloser steht für ein Gehabe, mit dem die alte Stadtguerilla endgültig abgewickelt werden soll. Und es steht beispielhaft für eine schlampige Geschichtsschreibung. Weil solche Bücher mangels besserer kollektiver Geschichtsschreibung oft als Geschichtsbuchersatz gelesen werden, dürfen sie nicht unwidersprochen bleiben.
Zur Bewertung eines Buches gehört der Hintergrund seiner Entstehung und seiner Autorin. In Rezensionen in linken Zeitschriften, auch dem ak, war aber nicht zu erfahren, was aus Presse oder dem Urteil seit Jahren bekannt sein sollte: daß Inge Viett trotz des gegenteiligen öffentlichen Eindrucks gegenüber dem BKA Aussagen gemacht - wenn auch weniger als die anderen DDR-AussteigerInnen - und Kronzeugenrabatt bekommen hat. Wenn sie sich danach zurückgehalten hätte, gäbe es keine besondere Notwendigkeit, ihr Verhalten öffentlich zu machen. Aber nach so einem Buch und zahllosen Auftritten in Talk-Shows und Lesungen sind zumindest im linken Rahmen korrigierende Kritik und Informationen notwendig.
Im Buch selbst werden die Kronzeugenregelung und die vorzeitige Entlassung mit keinem Wort beschrieben. Grundlage für den Kronzeugenrabatt waren belastende Aussagen über die Zusammenarbeit von RAF und MfS Anfang der 80er Jahre, speziell eine Ausbildung, die angeblich im Vorfeld der RAF-Aktion gegen den US-General Kroesen stattfand. Die BAW erwirkte aufgrund dieser Aussagen Anfang der 90er Jahre Haftbefehle gegen vier oder fünf ehemalige Stasi-Leute, die auch in U-Haft kamen. (Allerdings nur für einige Wochen oder Monate, da danach ein Bundesverfassungsgerichtsurteil über die Strafbarkeit von Taten auf DDR-Boden abgewartet wurde und Inge Vietts Aussagen später für eine Verurteilung nicht ausreichten. Es gab u.a. auch eine gegenteilige Erklärung von RAF-Gefangenen zu diesem Thema). Im Urteil wird die Anwendung der Kronzeugenregelung sowohl mit diesen Haftbefehlen gegen die Stasi-Leute als auch mit einer "Verunsicherung der RAF" begründet, die diese evtl. "von weiteren Straftaten abhalten" könne. (Der genaue Wortlaut ist im Urteil des OLG Koblenz vom 26.8.92 nachlesbar).
Daß Inge Viett Vertreter des MfS belastet hat, die den RAF-AussteigerInnen in der DDR geholfen haben und für die sie selbst als "IM" gearbeitet hat, ist so gravierend, daß diese Aussagen nicht versehentlich unterschlagen wurde. Zudem lobt Inge Viett die DDR samt MfS in ihrem Buch. Da ist was schräg.
Zudem wurden Anklagen wegen der Lorenz- und Palmers-Entführung oder der Meyer-Befreiung eingestellt, obwohl sie in anderen Prozessen zu Verurteilungen von 15 Jahren geführt haben. Das mag ein juristisches Detail sein, das einer Erwähnung im Buch nicht bedarf. Daß Inge Viett aber nach einer Anklage wegen eines Polizistenmords nach nur sechseinhalb Jahren Knast (von Sommer 1990 bis Frühjahr 1997) entlassen worden ist und ihr ein Jahr vorher schon "offener Knast" mit Freigängen genehmigt wurde - das ist so ungewöhnlich, daß es zum Verständnis des Buches und seiner Autorin gesagt werden muß.
Wer Knastverhältnisse kennt weiß, wie man/frau sich verhalten muß, um in den Genuß solcher Vergünstigungen zu kommen. Man/frau muß z.B. der Arbeitspflicht nachkommen, d.h. eine mehr oder weniger schwachsinnige Arbeit für ca. 10 DM pro Tag machen. Man/frau kann sich auch keine "negative Beurteilung" durch die Schließer erlauben. Gespräche und Psychotests mit Knastpsychologen sind weitere Voraussetzungen für "Lockerungen".
Wenn ein Buch während der Haft unter solchen Bedingungen geschrieben und durch die Zensur an den Verlag geschickt wird, dann ist klar: Es wurde so geschrieben, daß eine vorzeitige Entlassung nicht gefährdet wurde. Positive Äußerungen zur RAF sind dann unmöglich, zumal die Verteidigungsstrategie auch auf der Behauptung beruhte, daß zum Zeitpunkt des Schusses auf den französischen Bullen bereits eine innere Abkehr von der RAF lief - was von Bedeutung ist, da aktiven RAF-Mitgliedern von den Gerichten generell eine "unbedingte Tötungsabsicht" unterstellt wurde/wird: mit nachfolgendem "Lebenslänglich" und einer Haftdauer von etwa 16 - 20 Jahren. Egal also, wie AussteigerInnen die RAF oder den bewaffneten Kampf heute wirklich sehen, sie können gar nichts anderes schreiben als Distanzierungen.
Wenn persönliche Diffamierungen ehemaliger WeggefährtInnen hinzukommen, wird das sicherlich auch als "glaubwürdige Distanzierung" gewertet.
Wie gesagt erzwingt der Knast beim Schreiben eine zweckgebundene Distanzierung, wenn man/frau auf Lockerungen spekuliert. Zudem ist der Knast ein schlechter Ort, um ein Buch zu schreiben, bei dem man/frau auf kollektive Erinnerung und Diskussion angewiesen ist. Gerade beim Thema Stadtguerilla, wo einzelne nie alles gewußt haben, ist das so. Wem ernsthaft an möglichst guter Erinnerung und Darstellung liegt, würde warten und nach dem Knast alte GenossInnen befragen. Wer dennoch unter Knastbedingungen schreibt, hat anderes als gute Geschichtsschreibung im Sinn.
Kritik an der RAF oder am bewaffneten Kampf überhaupt haben und hatten viele, und nicht wenig davon ist berechtigt. In Aussteigerbüchern aber wird wenig politisch-wissenschaftlich reflektiert, sondern eine bereits aus nicht-politischen Gründen bezogene Position nachträglich politisch verbrämt und legitimiert. Es werden nicht die alten politischen Auseinandersetzungen wiedergegeben, sondern die heutigen Inszenierungen davon.
Bezeichnend ist auch, daß der Vorabdruck eines Buches gemeinsam mit den Exklusivrechten an dem ersten Interview nach der Entlassung für ca. 50.000 DM an den Spiegel und an Spiegel-TV verkauft wurde. (Es paßt dazu, daß der Spiegel der jungen Welt und der taz mit sechsstelligen Ordnungsgeldern gedroht hat, wenn sie diesen Exklusivvertrag nicht respektieren und selbst Interviews abdrucken.) Denn ein Vermarkten an ein Medium wie den Spiegel, der als das antiterroristische Hausblatt des BKA durchgehen kann, funktioniert nur, wenn es keine linksradikale Geschichtsschreibung ist - über die kotzt der Spiegel nur ab. (Und wenn doch mal in einem Interview etwas Linksradikales im Spiegel vorkommt, dann wird sicher ein Redakteur beauftragt, einen gehässigen Artikel daneben zu stellen.)
Dieses Vermarkten und Verkaufen - das ist der Kapitalismus, der zu Stadtguerillazeiten noch bekämpft wurde und den die so hochgehaltene DDR mal überwinden wollte. Das hat mit linker Geschichtsschreibung nichts zu tun.
2002: Vorwärts zum Nicht-Vergessen!
AussteigerInnen-Memoiren finden in der Linken Raum, weil es keine bessere Geschichtsschreibung gibt. Es ist der Fehler von allen, die sich nicht distanziert haben, daß sie keine umfassende Geschichte vorlegen. Sicher, es gibt Wichtigeres zu tun, und niemand, der heute noch eine linke Praxis verfolgt, will zum Aktenstaubschlucker werden. Aber es ist vermutlich besser, ein Jahr dafür zu opfern, als auf ewig unwidersprochen diesen Müll ertragen zu müssen.
Bis zum 35. Jahrestag des 2. Juni 67 oder bis zum 25. Jubiläum des "deutschen Herbstes" sollte es doch klappen, oder?
Klaus Viehmann, Ende August 1997