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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 417 / 27.8.1998

Der endgültige Bankrott der "Real IRA"

Der nordirische Friedensprozeß und das Massaker von Omagh

Am 15. August tötete eine Autobombe in der nordirischen Stadt Omagh 28 Zivilisten, in ihrer Mehrheit Frauen und Kinder. Ungefähr 220 Menschen erlitten teils lebensgefährliche Verletzungen. Bei keinem anderen Anschlag in der Geschichte des Nordirlandkonflikts kamen so viele Menschen ums Leben wie an diesem Samstag in Omagh. Die Omagh-Bombe unterschied sich von anderen nordirischen Massakern der Vergangenheit noch in anderer Hinsicht: Niemals zuvor war die Zahl derjenigen, die ein Blutbad zu relativieren versuchten, so verschwindend gering wie dieses Mal.

Vierzig Minuten vor der Explosion hatte die Polizei eine erste telefonische Warnung erhalten, der nur drei Minuten später eine weitere folgte. Offenbar herrschte bei den Bombenlegern eine gewisse Konfusion: Beim ersten Anruf nannten die Täter das Gericht als Ort der Bombe; bei der zweiten Warnung war nur noch von einer Bombe in Omagh die Rede. Die Polizei folgte der konkreteren Angabe, was auch logisch war: In der Vergangenheit hatten sich republikanische Anschläge in eher nationalistischen Städten - und Omagh ist eine solche - nur selten gegen ökonomische Ziele gerichtet, sondern vor allem gegen Gerichtsgebäude und Polizeistationen. So leitete die Polizei die flanierende Bevölkerung weg vom Gericht die Einkaufsstraße hinunter - und damit direkt zum Explosionsort.

Die "Real IRA": Bomben als Politik-Ersatz

Als Urheber wurde schon früh die "Real IRA" (RIRA) vermutet, eine Abspaltung der IRA, die den Waffenstillstand und das Belfaster Abkommen ablehnt. Die "Real IRA" soll maximal 100 Mitglieder zählen, ihre Hochburgen befinden sich in den ländlichen Gegenden East Tyrone und South Armagh, wo ein traditionalistischer und sich primär militärisch artikulierender Republikanismus kultiviert wird. Einige Unterstützer hat sie südlich der Grenze, insbesondere im County Louth und der dort gelegenen Grenzstadt Dundalk, die schon immer eine wichtige strategische Funktion für republikanische Paramilitärs erfüllte. In Belfast und Derry spielt die Organisation hingegen keine Rolle. Ihre militärische Bedeutung bezieht die "Real IRA" daraus, daß sie von Paul McKevitt, dem ehemaligen Waffenmeister der IRA, geführt wird. McKevitt und seinen Mitstreitern ist es offenbar gelungen, einige Waffen und Sprengstoff der IRA in ihre Hände zu bringen. Außerdem sollen sich der Organisation eine Reihe von Bombenexperten der IRA angeschlossen haben.

Die "Real IRA" steht mit dem "32 County Sovereignty Committee" im Bunde, das von Sinn-Féin-AktivistInnen gegründet wurde, die ihre Parteiführung des Verrats republikanischer Prinzipien bezichtigen. Gegenüber der Öffentlichkeit wird das Komitee insbesondere von McKevitts Ehefrau Bernadette Sands repräsentiert, der Schwester des 1981 im Hungerstreik gestorbenen IRA-Gefangenen Bobby Sands. Bernadette Sands geht mit der Behauptung hausieren, ihr Bruder hätte dem Abkommen niemals zugestimmt. Was der vor 17 Jahren Verstorbene wohl heute über diese oder jene Frage denken würden, darüber läßt sich trefflich spekulieren. Genauso gut könnte man ins Feld führen, daß Sands ein enger Verbündeter von Gerry Adams war, dem Architekten der republikanischen Friedensstrategie, und mit der Wahl des IRA-Aktivisten Sands ins britische Unterhaus die Politisierung der republikanischen Bewegung überhaupt erst begann.

Mittlerweile hat die "Real IRA" die Tat eingestanden. In ihrer Erklärung heißt es, der Tod von Zivilisten sei nicht beabsichtigt gewesen. Dies dürfte der Wahrheit entsprechen. Das Ziel war wohl tatsächlich nur kommerzieller Natur. Eine gegen die Bürger einer mehrheitlich nationalistischen Stadt gerichtete Bombe, die dazu noch eine republikanische Hochburg ist, ergibt selbst im Falle der "Real IRA" keinen Sinn. Zumal das "32 County Sovereignty Committee" hier über einen Abgeordneten im Stadtrat verfügt, der vor einigen Monaten aus der Sinn-Féin-Fraktion ausgeschlossen wurde. Allerdings hat die Organisation mit ihrem konfusen und verantwortungslosen Vorgehen ein Massaker billigend in Kauf genommen.

Der "Real IRA" mangelt es nicht an Bombenexperten, wohl aber an politischer Verantwortung und Substanz. Ohnehin stellt sich die Frage, was eine militärische Kampagne zum augenblicklichen Zeitpunkt, wo sich in Nordirland einiges in Bewegung befindet, eigentlich soll. Die Vermutung liegt nahe, daß man auf einen loyalistischen Gegenschlag spekuliert. Omagh taugte hierzu nicht, schließlich traf die Bombe vornehmlich die katholische/nationalistische Community. Anders könnte es aussehen, wenn Mitglieder der nordirischen Sicherheitskräfte - in der Regel Protestanten - zu Schaden kommen. Die "Real IRA" spekuliert möglicherweise auf eine militärische Eskalation, durch die größere Teile der IRA in den bewaffneten Kampf zurückgezwungen werden.

Die Sinn-Féin-Führung hat sich von der Omagh-Bombe so deutlich distanziert wie noch nie zuvor von einem republikanischen Anschlag. Sinn Féins Vizepräsident Martin McGuinness, von den Medien vor noch gar nicht so langer Zeit als IRA-Stabschef gehandelt, sah man am Ort des grausamen Geschehens im intensiven Gespräch mit einem Polizei-Offizier. Allerdings lehnte es McGuinness ebenso wie Adams ab, Republikaner dazu aufzufordern, Informationen an die Polizei weiterzuleiten.

Es ist nicht auszuschließen, daß die IRA, die den Täterkreis vermutlich kennt, selbst dafür sorgen wird, die Störenfriede ruhig zu stellen. Bereits seit einigen Wochen lassen sich hinter den Kulissen hektische Aktivitäten registrieren. In der Republik Irland werden Waffenlager aufgelöst, um das Gerät zu "sicheren Orten" im Norden zu transferieren, auf daß es nicht in die Hände der "Real IRA" und dem mit Republican Sinn Féin verbündeten "Continuity Army Council" fällt. Laut Sunday Tribune sollen beide Organisationen von IRA-Agenten infiltriert worden sein, deren Aufgabe es sei, militärische Operationen zum Scheitern zu bringen. Die Warnungen der Sinn-Féin-Führung in Richtung "Real IRA" ließen an Deutlichkeit kaum zu wünschen übrig.

Unter dem Druck der IRA und der Öffentlichkeit hat die RIRA inzwischen einen Waffenstillstand verkündet. Erwartet wird das auch von der INLA, einer anderen paramilitärischen Organisation, die bislang gegen den Friedensprozeß opponierte. Die Omagh-Bombe könnte das vorzeitige Ende der noch jungen Guerilla einleiten. Es gibt zu viele Kräfte, die ihr den Garaus machen wollen: die Regierungen in London und Dublin, Sinn Féin und die IRA, vor allem aber die katholische/nationalistische Öffentlichkeit, die - im Gegensatz zum protestantischen/unionistischen Lager - mit überwältigender Mehrheit für das Belfaster Abkommen votiert hatte. Außerdem dürfte die Omagh-Bombe weitere potentielle Rekruten abschrecken. Politisch ist dieses Spektrum nun noch isolierter, als es ohnehin schon war. Da es erheblich kleiner ist als Sinn Féin/IRA, über keine Basis in der Bevölkerung verfügt und lokalisierbar ist, dürfte es für London und Dublin relativ leicht sein, gegen die "Real IRA" massiv vorzugehen, ohne dabei den Friedensprozeß und die republikanische Zustimmung zu diesem zu gefährden.

Die Bombe von Omagh ließ im unionistischen Lager die Stimmen lauter werden, die eine Abrüstung der IRA vor Eintritt Sinn Féins in die nordirische Regierung fordern. Daß die britische Regierung diesen Forderungen nachgeben wird, ist eher unwahrscheinlich. Der IRA würde damit die Möglichkeit genommen, militante Abtrünnige zu disziplinieren. Außerdem würde die totale Abrüstung der IRA zwangsläufig den militärischen Status der Splittergruppen erhöhen.

Sinn Féin bald stärkste der Partei'n?

Bei den Wahlen zur nordirischen Versammlung hatten die nationalistischen Parteien einen "historischen Sieg" errungen. Die SDLP gewann 22% der Wählerstimmen und wurde damit erstmals stärkste Partei in Nordirland. Sinn Féin kam auf 17,6%, das beste Ergebnis in der Geschichte der Partei. Nur 29.367 Stimmen trennten Sinn Féin von der Ulster Unionist Party, der stärksten Partei der Unionisten. Unter den 18 Abgeordneten der Partei, die im nordirischen Parlament sitzen werden, befinden sich einige ehemalige IRA-Aktivisten.

In den frühen 90ern hatte der damalige Nordirlandminister Sir Patrick Mayhew Sinn Féin noch abfällig als "Zehn-Prozent-Partei" bezeichnet. Seither hat die Partei ihren Stimmenanteil kontinuierlich steigern und dabei auch Teile der katholischen Mittelschichten mobilisieren können, die bis dahin SDLP gewählt hatten. 1993, d.h. noch vor dem Waffenstillstand, kam Sinn Féin bei den Kommunalwahlen auf 12,4%. Bei den Forum-Wahlen von 1996 waren es bereits 15,5%, obwohl die IRA einige Monate zuvor ihren Waffenstillstand aufgekündigt hatte.

Einige politische Kommentatoren hofften, es handele sich bei dem Zuwachs lediglich um Leihstimmen von SDLP-Wählern, die damit den republikanischen Friedenskurs stärken wollten. Doch bei den Unterhauswahlen von 1997 stieg Sinn Féins Stimmenanteil weiter auf 16,1%. Mit Gerry Adams und Martin McGuinness wurden gleich zwei Republikaner ins britische Parlament gewählt. Ein dritter Sitz wurde in West Tyrone nur knapp verfehlt.

Wenige Wochen später, als wieder Kommunalwahlen stattfanden, waren es dann 16,9%, die für den "politischen Arm der IRA" stimmten. Westlich des Flusses Bann, der Nordirland geographisch teilt, ist Sinn Féin schon heute die stärkste politische Partei überhaupt. In fünf der 18 Wahlkreise - North Belfast, West Belfast, Fermanagh & South Tyrone, West Tyrone und Mid Ulster - erhielt Sinn Féin die meisten Stimmen aller angetretenen Parteien. In West Belfast bedeuteten dies 58,98%. Besonders beeindruckend ist das Wachstum in Mid Ulster, wo die Partei ihr Ergebnis gegenüber den letzten Wahlen um 10% auf 40,77% steigern konnte und drei der sechs Sitze gewann. In zwei Wahlkreisen - Foyle (Derry) und Newry & Armagh - landete die Partei immerhin noch auf Platz zwei.

Was bis vor kurzem noch als völlig unmöglich galt, nämlich die Ablösung der SDLP als Wahlpartei Nr. 1 der nordirischen Katholiken/Nationalisten, könnte nun in einigen Jahren durchaus eintreten. Zumal wenn sich der populäre SDLP-Vorsitzende John Hume aus der nordirischen Politik zurückziehen sollte. Sinn Féin verfügt über ein größeres Potential qualifizierter politischer Aktivisten, und im Zuge der Öffnung der Gefängnisse, deren republikanische Insassen sich die Zeit mit politischen Schulungen und Strategiedebatten vertreiben, dürfte sich deren Zahl noch weiter erhöhen.

Dietrich Schulze-Marmeling