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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 417 / 27.8.1998

"In alten Mustern festzurren"

Birgit Hogefeld über ihre Haftbedingungen und über die Auflösung der RAF

Eineinhalb Jahre nach ihrer ersten Verurteilung (siehe ak 396) stand Birgit Hogefeld im Juni erneut vor dem Frankfurter Oberlandesgericht. In der Zwischenzeit hatte der Bundesgerichtshof einen Teil des ersten Urteils gegen das ehemalige RAF-Mitglied (Strafe für den erfolgreichen Sprengstoffanschlag auf den Knastneubau in Weiterstadt 1993) aufgehoben und den Fall an das OLG zurückverwiesen. Am 29. Juni wurde die 41jährige trotzdem erneut wegen angeblich mehrfachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt und ihre "besondere Schwere der Schuld" festgeschrieben (dadurch gibt es keine Möglichkeit für eine vorzeitige Entlassung). Wir dokumentieren Auszüge aus Hogefelds Erklärung kurz vor der Urteilsverkündung.

(...) Dies ist nun der erste Prozeß gegen ein früheres Raf-Mitglied nach der Auflösung der Raf (Anm.: siehe ak 414 und 415). Die Frage nach der Auflösung der Raf zeichnete sich seit Jahren ab. Interne Diskussionen darüber, daß es nach den alten Mustern nicht weitergehen kann, kenne ich noch aus der Zeit vor meiner Verhaftung. (...)

Ich finde es gut, daß die Raf in der Lage war, dieses Kapitel deutscher Geschichte von ihrer Seite aus nun abzuschließen und das öffentlich zu erklären. Nicht gut, aber auch nicht verwunderlich, finde ich, daß das nirgends zum Anlaß genommen wurde, sich mit dieser Geschichte, der Konfrontation Raf-Staat, noch einmal ausführlicher auseinanderzusetzen. Allein damit, daß der Raf-Text fast durchgängig über Beschreibungen und alte Erklärungsmuster nicht hinausgeht, ist das wohl nicht zu erklären. Schließlich blieb auch bei der letztjährigen öffentlichen Bearbeitung des Themas "20 Jahre deutscher Herbst" vieles oberflächlich und in einseitigen Schuldzuweisungen an die Adresse der Raf stecken. Selbst eine Zeitung wie die Frankfurter Rundschau machte in einem Kommentar die Gründe für diese Entwicklung im "sichtbaren Potential an Kriminalität bei einigen Bürgerskindern" aus. Doch nur wenn man versteht (oder es zumindest versucht), welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und welche Eskalationen bzw. Reaktionen auf beiden Seiten (Raf und Staat) diese Konfrontation über so lange Jahre hochtrieben, birgt das die Chance, Wiederholungen zu vermeiden.

Das Jahr 1977

Seit meiner Verhaftung habe ich versucht, die Raf-Geschichte und meinen Lebensweg (den ich so nicht noch einmal gehen würde) besser zu verstehen. Das Jahr '77 spielte in meiner Biographie, aber auch für die gesamte weitere Geschichte der Raf und dieser Konfrontation, eine entscheidende Rolle, und an den Ereignissen von '77 wird vieles wie im Brennglas gebündelt sichtbar.

1977 ist allein mit dem Blick auf die Ereignisse dieses Jahres aber nicht zu begreifen. Schon die erste Aktion der Raf hatte einen konkreten Bezugspunkt, der auf die Jahre davor zurückweist. In der Erklärung zur Erschießung des damaligen Generalbundesanwalts Buback schrieb die Raf, sie wolle verhindern, daß "die Bundesanwaltschaft den vierten Hungerstreik der Gefangenen um minimale Menschenrechte benutzt", um weitere Gefangene zu "ermorden". In dem Text wird zuvor auf die Verantwortung Bubacks am Tod von Holger Meins, Siegfried Hausner und Ulrike Meinhof verwiesen.

Mag sein, daß manches seitens der Raf falsch oder überzogen interpretiert worden ist, aber es war auch nicht alles aus der Luft gegriffen. Es gab seit Beginn der 70er Jahre spezielle, auf Zerstörung zielende Haftbedingungen, es gab den "Toten Trakt" in Köln-Ossendorf und den Plan, Ulrike Meinhof gegen ihren Willen und unter Zwang einem operativen Eingriff in ihr Hirn zu unterziehen. Und es wurden Gefangene umgebracht ich will hier nur ein Beispiel nennen: Siegfried Hausner wurde schwerverletzt von Stockholm nach Stammheim transportiert, zuvor hatten schwedische Ärzte den zuständigen deutschen Behörden erklärt, er würde diesen Transport nicht überleben. Sie behielten recht, Siegfried Hausner starb.

Wenn aufgrund solcher Erfahrungen die Raf 1977 von "staatlichem Vernichtungswillen gegen diese Gefangenen" spricht, dann erscheint mir das, auch aus heutiger Sicht, auf diese Zeit bezogen nicht übertrieben. Hätte es die toten Gefangenen nicht gegeben und die ständigen Angriffe auf Gefangene, dann wäre es doch überhaupt nicht zur Erschießung Bubacks gekommen. Dann hätte das, was als "Deutscher Herbst" in die Geschichte eingegangen ist, nicht stattgefunden. (...)

Mein Lebensweg

Für mein Leben war 1977 ein entscheidendes Jahr. Anfangs: politisch engagierte 20jährige Jura-Studentin, die sich über die Haftbedingungen der Raf-Gefangenen empört, einige von ihnen besucht und Angst um deren Leben hat. Später, nach unzähligen Observationen, Kontrollen, Hausdurchsuchungen infolge der Raf-Aktionen, nach dem Aufmarsch des Polizeistaats, nach öffentlichen Politiker-Aufrufen zur standrechtlichen Erschießung von Gefangenen, schließlich den toten Gefangenen in Stammheim, war nichts mehr so wie vorher, dieses Land nicht und ich selber auch nicht. Alles, was mir vorher aus linken Diskussionen über "neuen Faschismus" als Analyse abstrakt nachvollziehbar war, wurde für mich in der Entwicklung dieses Jahres konkret, bekam ein Gesicht.

Ende 1977 (mein Jurastudium hatte ich im Laufe dieses Jahres aufgegeben) habe ich mich erstmals mit der Frage beschäftigt, ob es konsequent und für mich richtig ist, mich einer bewaffneten Gruppe anzuschließen. Daß ich nicht schon damals zur Raf gegangen bin, sondern erst viele Jahre später, hatte ausschließlich mit eigenen Ängsten zu tun und nicht damit, daß ich es für falsch gehalten hätte.

Im Gegenteil, in den Jahren nach '77 habe ich mir selber häufig Unentschlossenheit und Inkonsequenz vorgeworfen. Und ich habe mich damals häufig gefragt, ob mein Verhalten dem von Teilen der Generation meiner Eltern entspricht, das ich immer verurteilt hatte. So wie sie wollte ich nie werden: unbeteiligt-ignorant und in Zuschauerposition (bestenfalls) gegenüber faschistischen Entwicklungen und Verbrechen. Für mich, für meinen Lebensweg haben 1977 entscheidende Weichenstellungen stattgefunden. Heute denke ich, ohne die Entwicklung und die Ereignisse dieses Jahres wäre mein Leben sicherlich ganz anders weitergegangen.

Ich habe hier deswegen noch einmal ausführlicher über dieses zentrale Jahr in der Raf-Geschichte geredet, weil ich nach wie vor einseitige Schuldzuweisungen an unsere Seite ablehne. Das nimmt nichts von unserer Verantwortung und auch Schuld, aber die Tatsache, daß es die Raf über diesen langen Zeitraum gegeben hat, hat Ursachen, für die nicht wir allein verantwortlich sind. Es brauchte da schon zwei Seiten, die gut zueinander paßten, damit diese Eskalationsspirale so funktionieren konnte, wie sie funktioniert hat.

Bad Kleinen

Da in den vergangenen Tagen anläßlich des fünften Jahrestages der Ereignisse von Bad Kleinen die staatsoffizielle Version der Geschichtsschreibung wieder massiv in die Öffentlichkeit getragen wurde, wird deutlich, daß diese Version immer noch kaum ein Mensch glaubt. Der angebliche Selbstmord von Wolfgang Grams war von Anfang an eine absurde Behauptung, zumal es ja auch Zeugen gab, die aussagten gesehen zu haben, wie er mit einem gezielten Schuß in den Kopf hingerichtet worden ist. Aber selbst unabhängig davon war diese Version nie plausibel: ein schwerstverletzter Mensch kann sich nicht während eines Sturzes einen Kopfschuß beibringen. (...)

Vor dem Prozeß war ich mir über die Todesumstände des GSG-9-Beamten Michael Newrzella nicht im Klaren. Für mich kam beides in Betracht, sowohl, daß er von Wolfgang Grams erschossen worden sein könnte, als auch, daß er versehentlich von seinen eigenen Leuten erschossen worden war. Beim Studium der Akten stieß ich auf unzählige Widersprüche. Der markanteste ergab sich aus der Skizze der Fundorte der einzelnen Patronenhülsen. Da die Lage der Hülsen eindeutige Rückschlüsse auf den Standort des Schützen zuläßt, konnte die behauptete Version, Wolfgang Grams habe vom Treppenabsatz aus den GSG-9-Mann erschossen, nicht stimmen. Der 5. Strafsenat ging mit diesen Widersprüchen so um, daß er sich größte Mühe gab, ihre Thematisierung hier zu verhindern. Aus all dem gehe ich heute davon aus, daß Michael Newrzella im Kugelhagel seiner eigenen Leute den Tod fand.

Staatsanwalt: "Feiglinge!"

Im Zusammenhang mit der Behauptung, Wolfgang Grams habe den Polizeibeamten erschossen, verwies die Bundesanwaltschaft auf angebliche Absprachen in der Raf, im Fall einer Verhaftung sofort von der Waffe Gebrauch zu machen. Nur über diese Konstruktion konnte meine Beteiligung, die Mordanklage wegen Bad Kleinen, begründet werden. Als nun mein Verteidiger eine Auflistung der Abläufe von Verhaftungssituationen von Raf-Mitgliedern seit den 70er Jahren verlas, aus der sich ergab, daß von unserer Seite nur selten nach der Waffe gegriffen wurde, sprang der Sitzungsvertreter der Bundesanwaltschaft auf und schrie hysterisch: "Sie schießen nur nicht, weil Sie erbärmliche Feiglinge sind!"

Ich war nach diesem Ausbruch zuerst völlig irritiert, denn dieser Satz war mit totaler Verachtung herausgeschrien worden. Danach verstand ich aber das Weltbild dieses Mannes sehr viel besser (und alles davon ist mir ja auch nicht nur fremd) und konnte vieles besser einordnen. Es unterscheidet sich in vielem wohl nicht so sehr von dem Schwarz-Weiß-, Freund-Feind-Schema, das lange auch das Bild der Raf und anderer Gruppen bestimmt hat. Zu diesem Schema gehört, daß es nur funktionieren, bestehen bleiben kann, wenn niemand ausbricht.

Mittlerweile bin ich mir sicher, daß ein Teil der Maßnahmen, die nach meiner Verhaftung festgesetzt wurden, auch die Funktion hatte, mich, mein Denken, in alten Mustern festzuzurren. Schon nach meinen ersten kritschen/selbstkritischen öffentlichen Äußerungen konnte ich das schnell an der Art der Zensur festmachen: Nicht linksradikale Publikationen wurden beschlagnahmt, sondern welche von kirchlichen Gruppen beispielsweise oder Texte mit Raf-kritischen Inhalten. Ich hatte immer mehr den Eindruck, eine kritische/selbstkritische Haltung soll es seitens der Behörden nur kombiniert mit Verrat geben dürfen.

Wie wenig erwünscht kritisch-reflektierende Äußerungen von mir waren, möchte ich an einem Beispiel aus dem ersten Verfahren verdeutlichen. Im März 1995 verlas ich im Prozeß eine Erklärung, in der es unter anderem hieß: "Die Erschießung des GIs Edward Pimental war eine der schlimmsten Fehlentscheidungen der Raf. Ich denke, daß das, was damals abgelaufen ist - einen einfachen US-Soldaten zu erschießen, um an dessen Ausweis zu kommen - in keiner Weise mit revolutionärer Moral und Utopien von einer menschlichen Gesellschaft vereinbar ist. Eine Aktion wie diese ist aus menschlicher wie moralischer Sicht ganz einfach nicht zu rechtfertigen."

Oben genannter Staatsanwalt von der Bundesanwaltschaft sprach mir nach dieser Erklärung hämisch-grinsend Glückwünsche aus. Nun solle ich mich doch endlich auch zu Aussagen entschließen. Am darauffolgenden Tag war dann die Überschrift auf der ersten Seite einer linken Tageszeitung: "Bundesanwalt: Glückwunsch, Frau Hogefeld" (oder so ähnlich). Sich derart öffentlich vorführen zu lassen, gefällt wohl niemandem (mir jedenfalls nicht).

In solchen und anderen Situationen habe ich mich mitunter gefragt, ob es wirklich notwendig ist, meine Auseinandersetzung mit meiner/der Raf-Geschichte in die Öffentlichkeit zu tragen, oder ob es nicht doch ausreicht, wenn ich diese Auseinandersetzung mit mir, sozusagen "privat" abmache. Für diesen Weg hatten sich vor mir viele frühere Raf-Mitglieder entschieden. Ich kann gut verstehen, warum. Trotzdem habe ich mich dafür entschieden, weiterhin in die Öffentlichkeit zu gehen, denn ich wußte, nur so kann ich versuchen, mit dazu beizutragen, daß die Geschichte der Raf zu einem Abschluß findet. Darin sah ich für mich eine Verantwortung aufgrund meines Lebensweges.

Gespräch mit den Brüdern von Braunmühl

Ich möchte noch ein anderes Beispiel nennen. Seit 1986 hatten Mitglieder der Familie von Braunmühl versucht, mit der Raf und mit Gefangenen aus der Raf in Kontakt zu treten. Gerold von Braunmühl, Diplomat im Außenministerium, war von einem Raf-Kommando erschossen worden. Familienmitglieder schrieben einen öffentlichen Brief mit der Überschrift "An die Mörder unseres Bruders", der damals in der taz veröffentlicht wurde.

Etwa eineinhalb Jahre nach meiner Verhaftung wurde ich gefragt, ob ich mir vorstellen könne, mit Mitgliedern der Familie von Braunmühl zu reden. Ich habe nicht gleich "ja" gesagt, sondern erst sehr viel später, und es war eine schwierige Entscheidung. Nach meiner Zusage versuchten Brüder von Gerold von Braunmühl fast ein Jahr lang, mit dem 5. Strafsenat für ein solches Gespräch erträgliche Besuchsbedingungen auszuhandeln. Doch das Gericht bestand auf den damals üblichen Besuchsbedingungen.

Der Besuch fand dann wie folgt statt: 60 Minuten, Überwachung durch zwei Beamte des Landeskriminalamts und einen vom Knast; zwischen uns: Panzerglasscheibe. Es war eine unglaubliche Situation: zwei Brüder und ein Sohn von Gerold von Braunmühl nebeneinander aufgereiht hinter der Glasscheibe, direkt hinter ihnen zwei Männer vom Landeskriminalamt, alle zusammen (also fünf Menschen) auf vier Quadratmetern. Auf meinen vier Quadratmetern, auf der anderen Seite des Panzerglases, außer mir noch ein Mann vom Knast. Die LKA-Leute hatten wohl den Auftrag, bloß kein Wort und keine Geste von mir zu verpassen. Und so hat mich einer durchgängig angestarrt, während der andere jedes Wort mitschrieb. Deutlicher kann von Justizseite wohl kaum signalisiert werden, daß ein solches Gespräch zwischen Opfer- und Täterseite unerwünscht ist.

Weiterhin neun Gefangene

Nun, nach der Auflösung der Raf, wird eine Frage die sein, wie diese Geschichte ihren Abschluß auch für die beteiligten Menschen findet. Da gibt es einerseits neun Gefangene aus dem früheren Raf-Zusammenhang. Es ist bekannt, daß ein Gericht auf Antrag der Bundesanwaltschaft kürzlich gegen Christian Klar, der seit 1982 in Haft ist, eine Mindeststrafzeit von 26 Jahren festgelegt hat.

Als ich von dieser Entscheidung las, fiel mir ein Satz ein, den ich kürzlich in einem Interview mit Renato Curcio, einem der Mitbegründer der Roten Brigaden in Italien, gelesen hatte: "Die Gesellschaft, die den Sieg verwaltete, besaß nicht die Kraft, sich den Besiegten gegenüber ebenso großzügig zu zeigen, wie sie es sich selbst gegenüber war." Curcio bezog diesen Satz auf die 80er Jahre in Italien, aber er ist wohl leicht auf hier und heute übertragbar, wie die genannte Entscheidung gegen Christian Klar zeigt.

Außer uns Gefangenen gibt es aber auch noch die, nach denen seit Jahren als Raf-Mitglieder gefahndet wird. Lange Zeit hieß es ja immer: "Lösungen" seien nicht möglich, solange es die Raf gibt und damit die Drohung bewaffneter Aktionen. Nun, da sich die Raf aufgelöst hat und damit die Drohung bewaffneter Aktionen wegfällt, könnte es heißen, es fehlt jeder Handlungsbedarf, wozu also Lösungen? Das ist das Groteske an der derzeitigen Situation. (...)

Frankfurt, 29.6.98