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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 418 / 24.9.1998

Zwischen unsicherer Existenz und Widerstand

Prekarisierung und Reproduktion der Arbeitskraft

In ak 413 eröffnete Karl Heinz Roth die Debatte um die "neuen Arbeitsverhältnisse". Diese Diskussion wollen wir mit dem nachfolgenden Beitrag fortsetzen, der von sechs Kolleginnen und Kollegen der AG "Neue Heimat" aus dem Berliner "Bündnis kritischer GewerkschafterInnen Ost/West" erarbeitet worden ist. Das Diskussionspapier ist Ende Februar auf einer gemeinsamen Tagung der Zeitung express und des TIE-Bildungswerks zum Thema "Prekarisierung" zur Debatte gestellt worden. Die BerlinerInnen schreiben darin einleitend: "Wir haben zwar viele Stunden diskutiert, dennoch ist, zu unserem eigenen Erstaunen, am Ende kein einheitliches Ergebnis zustandegekommen. So liegt nun ein Text vor, der nicht nur verschiedene ,Stile` vereint, sondern auch sehr unterschiedliche Positionen andeutet. Ein Teil unserer Kontroverse ist in Frageform am Ende jedes Abschnitts dokumentiert."

Unter dem Druck der Offensive des Kapitals findet eine weltweite Umstrukturierung der Klassenverhältnisse zwischen Bourgeoisie und Proletariat statt. In den Metropolen ist die Auflösung jenes Typs von Klassenbeziehungen bestimmend geworden, der weithin als "sozialstaatlicher Klassenkompromiß" bezeichnet wird. Sowohl in den sozialen Bewegungen als auch in der akademischen Diskussion werden mit dem Begriff Prekarisierung Phänomene der Veränderung von Arbeitsbeziehungen in den kapitalistischen Metropolen bezeichnet. Unter Arbeitsbeziehungen verstehen wir jene Beziehungen, die die Lohnabhängigen beim Verkauf ihrer Arbeitskraft an das Kapital, dem unmittelbaren Tausch von Arbeitskraft gegen Lohn, faktisch eingehen. Arbeitsbeziehungen sind deshalb nicht nur als juristische Verhältnisse zwischen den Klassen aufzufassen, sondern vielmehr als Einheit von juristischen und ökonomischen Verhältnissen. Erst das Zusammenwirken dieser beiden Verhältnisse führt zu einer jeweils spezifischen Form der Reproduktion von Arbeit und Kapital. Deshalb ist die Verwendung des Begriffs der Prekarisierung auch erst bei einer bestimmten Art der Kombination verschiedener Seiten der Veränderung von Arbeitsbeziehungen sinnvoll.

Das Phänomen Prekarisierung

Mit dem Begriff Prekarisierung werden üblicherweise jene Veränderungen der Arbeitsbeziehungen bezeichnet, die die Reproduktion der Lohnarbeitenden für sie "äußerst schwierig" - so die deutsche Übersetzung für das Wort "prekär" - machen, sich also von den bisher vorherrschenden Arbeitsbeziehungen wesentlich unterscheiden. Die Veränderungsprozesse der Arbeitsbeziehungen, die mit dem Begriff Prekarisierung beschrieben werden, beziehen sich darauf, daß ein zwar auch bisher schon existierender, aber in den kapitalistischen Metropolen der Nachkriegsära nicht vorherrschender und prägender Typ von Arbeitsbeziehungen nach Art und Umfang in neuer Dimension durchgesetzt wird. Diese Veränderungen der Arbeitsbeziehungen lassen sich wie folgt zusammenfassen:

- Abbau bisheriger Rechtssicherheiten und Durchsetzung von Rechtsunsicherheit für die Lohnabhängigen (kurzzeitige Einstellungen, absolute Willkür der Unternehmer, vor allem bei Entlassungen, aber auch bei der Verfügung über den Einsatz der Arbeitskraft hinsichtlich Arbeitsort, Art der Arbeit, Arbeitszeit).

- Durchsetzung von Arbeitsbeziehungen, die geprägt sind durch das Fehlen jeglicher tatsächlicher Schutzmacht der Lohnarbeitenden; sei es in Form von Gewerkschaften, Betriebsräten oder ähnlichen kollektiven Verteidigungseinrichtungen der Lohnabhängigen oder sei es auch in Gestalt des Staates. Das bedeutet: Die Lohnarbeitenden sind dem Diktat des Kapitals ausschließlich individuell ausgeliefert.

- Durchsetzung von Löhnen, die am oder unter dem gesellschaftlichen Existenzminimum liegen und deshalb die "arbeitenden Armen" (working poor) dazu zwingen, mehrere Jobs auszuüben, weil sie von einem einzigen nicht leben können.

- Die extreme Gefährdung der Lohnarbeitenden durch Arbeitsbedingungen, die ihre Gesundheit in einer nicht mehr für möglich gehaltenen Weise ruinieren; sei es durch fehlende Arbeitssicherheit und erhöhte Unfallgefahr, sei es durch fehlende Maßnahmen des Gesundheitsschutzes.

Die Gesamtheit dieser Prozesse und insbesondere deren Kombination weist darauf hin, daß es sich um solche Veränderungen der Arbeitsbeziehungen handelt, die die soziale Existenzunsicherheit und den täglichen Überlebenskampf der Lohnabhängigen erzwingen und zum bestimmenden Aspekt der Arbeitsbeziehungen machen. Aber erst das Zusammenwirken der verschiedenen Seiten der Arbeitsbeziehungen ergibt tatsächlich eine solche Konsequenz für die Lohnabhängigen. Der fehlende juristische oder kollektive Schutz und die Rechtsunsicherheit allein gestatten es noch nicht, von prekären Verhältnissen zu sprechen: Ein Softwarehersteller, der als Scheinselbständiger auf Honorarbasis sehr hohe Einkommen erzielt und volle Auftragsbücher über Jahre hinweg hat, ist zwar relativ rechtlos, aber seine ökonomische Situation schließt eine tägliche Existenzgefährdung dennoch weitgehend aus. Wie für Berufsgruppen, die aufgrund von Monopolstellungen am "Arbeitsmarkt" oder aufgrund der Konjunktur eine relative ökonomische Sicherheit erhoffen können, gibt es auch für ganze Wirtschaftszweige in Zeiten des Booms die faktische Zurückdrängung sozialer Existenzgefährdung der abhängig Beschäftigten, obgleich die rechtliche Situation prekär sein mag. Umgekehrt muß aber auch eine Lohnsenkung oder die Verschlechterung von Arbeitsbedingungen noch nicht zu prekären Arbeitsbeziehungen führen.

Der Begriff der Prekarisierung

Das Wesen der Prekarisierung ist also nicht einfach mit der juristischen oder ökonomischen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, etwa der Absenkung des Werts der Ware Arbeitskraft oder der Intensivierung des Arbeits- und Ausbeutungsprozesses, identisch. Deshalb ist es notwendig, ein Kriterium anzugeben, nach dem bestimmte Veränderungen von Arbeitsbeziehungen als Prekarisierung bezeichnet werden. Arbeitsbeziehungen sollen dann prekär genannt werden, wenn sie die gesellschaftliche Reproduktion der Arbeitskraft gefährden. Durch die konsequente Ausrichtung des Begriffs der Prekarisierung an der Reproduktion der Ware Arbeitskraft lassen sich nicht nur prekäre von nicht-prekären Arbeitsbeziehungen unterscheiden: Prekarisierung ist vielmehr der gesellschaftliche Prozeß, in dem nicht-prekäre in prekäre Arbeitsbeziehungen verwandelt werden. Prekäre Arbeitsbeziehungen sind solche Arbeitsbeziehungen, die die prekäre soziale Existenz der Lohnabhängigen zur Folge haben.

Die Reproduktion der Arbeitskraft muß wie bei jeder anderen Ware sowohl wert- als auch gebrauchswertseitig erfolgen. In die Reproduktion dieser Ware gehen also sowohl die gesellschaftlich notwendigen Reproduktions- und Konsumtionsmittel und deren Werte mit ein als auch die spezifischen sozialen Formen ihrer Existenz. Die prekäre soziale Existenz von Lohnabhängigen kann deshalb ohne Analyse der spezifisch historischen Form der Reproduktion der lohnabhängigen Klasse als Ganzes nicht begriffen werden. Der Kampf gegen prekäre Arbeitsbeziehungen kann sich deshalb auch nicht nur auf verbesserte Arbeitsbeziehungen allein konzentrieren, sondern muß sich auf die Veränderung der Reproduktionsbedingungen der Lohnabhängigen in ihrer Gesamtheit richten. Zunehmende Bedeutung erhalten ganz wesentlich auch jene vom Lohnverhältnis abgeleiteten prekären Arbeitsbeziehungen, in denen der Staat als Ersatzunternehmer auf einem zweiten und dritten Arbeitsmarkt auftritt. Dort setzt er großflächig prekäre Arbeitsbeziehungen in Gestalt von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder Zwangsarbeit für Sozialhilfeempfänger durch.

Zum Verständnis der Prekarisierungsprozesse müssen also nicht nur logisch nicht-prekäre von prekären Arbeitsbeziehungen unterschieden werden. Prekarität ist vor allem eine historische Kategorie. Deshalb kann und muß auch die historische Richtung des gegenwärtigen Prozesses der Veränderung proletarischer Reproduktionsbedingungen insgesamt bestimmt werden. Nur dort, wo nicht-prekäre Arbeitsbeziehungen durch die lohnabhängige Klasse erkämpft wurden, wie in den Metropolen des Kapitals, kann deren Aufhebung durch prekäre Verhältnisse überhaupt sinnvoll als Prekarisierung definiert werden. Die Verwandlung von Bauern in Lohnarbeitende im Zuge der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals bedeutet zwar in der Regel ebenfalls deren Verwandlung in ein Proletariat mit prekärer sozialer Existenz. Doch der Prozeß, der sich heute in den Metropolen durchsetzt, ist gerade umgekehrt geprägt durch die Verwandlung eines nicht-prekären Proletariats in ein prekär existierendes.

Die Prekarisierung der Arbeitsbeziehungen ist allerdings nur eine Seite in dem komplexen Prozeß der Neustrukturierung des Metropolenproletariats im Zuge der Reorganisation des kapitalistischen Produktions- und Ausbeutungsprozesses. Unter den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen zeichnen sich unseres Erachtens zukünftig vier große Spaltungslinien ab:

- Die Schaffung einer Schicht von Lohnabhängigen, wie etwa "Symbolanalytikern" (jene Angestelltenelite, die den ökonomisch relevanten Informationsstrom steuert) und oberen Dienstleistern, die als hochqualifizierte Minderheit über relativ gesicherte und hochbezahlte Arbeitsplätze verfügt und die jene hochmotivierte Basis darstellt, deren "Gold in den Köpfen" für die Unternehmen erschlossen werden soll.

- Die Schaffung einer in sich nochmals differenzierten und hierarchisch abgestuften Schicht von ungesicherten und prekarisierten Lohnabhängigen, deren gemeinsames Merkmal es ist, daß ihre soziale Sicherheit weitgehend oder gar ausschließlich individuell organisiert werden muß.

- Die Existenz einer großen industriellen Reservearmee, deren Druck auf die Beschäftigten das nötige Zuchtmittel für deren Disziplinierung schafft.

- Eine pauperisierte Unterschicht, die ohne die Chance einer Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß die industrielle Reservearmee ihrerseits unter Druck hält.

Doch ob und in welchem Umfang sich diese Struktur der Lohnabhängigen und ihrer Spaltung durchsetzt, wird davon abhängen, ob nicht neue Klassenkämpfe andere gesellschaftliche Möglichkeiten eröffnen.

Durch unsere gesamte Diskussion zog sich die Kontroverse darüber, wie richtig und sinnvoll es sei, den Prozeß der Auflösung eines historisch bestimmten Typs von Arbeitsverhältnis - das sogenannte fordistische Normalarbeitsverhältnis - lediglich nach seiner prekären Seite hin zu betrachten. Die Kritiker der "Nur-Prekarisierungsdiskussion" brachten in Anschlag, daß damit, gewollt oder ungewollt, ein Schreckensszenario entworfen würde, das so aber nicht der Realität entspricht.

Wer ist prekär beschäftigt?

Als operationalisierende Bestimmung für die heutige Bundesrepublik bietet es sich unseres Erachtens an, unter prekären Beschäftigungsverhältnissen jene zu fassen,

- die entweder überhaupt nicht rechtlich oder tariflich geregelt sind, oder die materiell so schlecht tarifiert oder gesetzlich geregelt sind, daß dies nur eine Feigenblattfunktion hat;

- bei denen "Unstetigkeit" der Beschäftigung und Unsicherheit der Lebenslage entweder Voraussetzung oder Folge ist;

- die kaum sozialversicherungsrechtlich angebunden sind; die Beschäftigten sind also nicht sozialversichert;

- in denen kein existenzsicherndes Einkommen erzielt werden kann;

- in denen Beschäftigte nicht durch die normalen Institutionen nach dem Betriebsverfassungsgesetz o.ä. (Personalräte) vertreten sind, da ihnen die Betriebszugehörigkeit oder das innerbetriebliche Wahlrecht nicht zugestanden wird.

Eine besondere, hier nicht ausführlich bestimmte, Position innerhalb dieser prekären Beschäftigungsverhältnisse nehmen diejenigen Verhältnisse ein, die als öffentliche Arbeiten (Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Lohnkostenzuschüsse, Hilfe zur Arbeit etc.) vergeben werden. Nur soviel: Oftmals dienen diese als Türöffner für die nächste Runde der Lohnsenkung.

Offen bleibt damit allerdings noch, ob und wenn ja, von welchem Grad der Prekarisierung an jene Beschäftigten dazugerechnet werden, die innerhalb des "Normalarbeitsverhältnisses" mit der zunehmenden Intensivierung der Arbeit und Rationalisierung konfrontiert sind. Immerhin führen auch diese Prozesse zu einem relativen und absoluten Wertverlust der Arbeitskraft und erhöhen den Ausbeutungsgrad erheblich. Hinzu kommt eine Masse von Lohnabhängigen, deren Arbeitsverhältnis befristet ist oder sonstwie vom "Normalarbeitsverhältnis" abweicht. Häufig erreichen die Löhne hier noch nicht einmal das gesetzlich oder tariflich garantierte Niveau. Infolgedessen sinkt für einen beträchtlichen Teil der Lohnabhängigen das historisch einmal erreichte Niveau der Reproduktion in- und außerhalb der Fabrik. Es fragt sich, ob eine solch globale Sicht der Dinge nicht auch einen entsprechend allgemeinen Begriff braucht. Insofern wurde der Vorschlag gemacht, unter Prekarisierung alle Vorgänge zu subsumieren, die sich in- und außerhalb des "Normalarbeitsverhältnisses" abspielen und die auf eine Verschlechterung der Lage der Lohnarbeitenden insgesamt abzielen.

Sehr schwierig erwies sich die Diskussion, als es darum ging, den Grad und die Qualität festzulegen, die es erlaubt, von einem prekären Arbeitsverhältnis zu sprechen. Ist es "schon" der VW-Arbeiter, den dank des letzten Tarifergebnisses erhebliche Lohneinbußen erwarten? Und ist es "noch" die Teilzeitarbeiterin, die, rechtlich abgesichert, ein gutes "Zubrot" für den Familienlohn nach Hause bringt? Kompliziert, oder?

Prekarisierung und "Sozialstaat"

Die Antwort auf die Frage danach, wer oder was diesen Prekarisierungstrend ausgelöst hat, ist nicht ganz unwichtig für eine linke Gegenstrategie. Zwei Vorgänge, die in einem deutlich abhängigen Verhältnis stehen, müssen hier aus einem ganzen Ursachenbündel hervorgehoben werden:

Zum einen meinen wir die Umorganisierung der Produktion mit dem Ziel eines flexibleren und damit profitableren Einsatzes von Arbeitskraft und Maschinerie. Zu dieser Umorganisation gehört ebenfalls die Verlagerung von der gewerblichen Industrie, dem Zentrum der fordistischen Produktion, hin zur Dienstleistungsindustrie.

Zum anderen wollen wir die Veränderungen in den Beziehungen von (National-) Staat und "nationalem Kapital" betonen, welche in der Phase fordistisch organisierter Produktion in einem recht "innigen Verhältnis" standen. Jetzt dagegen zieht sich der Staat teilweise aus seiner Rolle als "Sozialpolitiker" zurück.

Die enorme Intensivierungs- und Rationalisierungswelle der kapitalistischen Produktion einschließlich der prekarisierungsfördernden Managementstrategien von Gruppenarbeit, KVP (Kontinuierlicher Verbesserungsprozeß) oder lean production hat weitgehende Folgen für die gesamte Lohnarbeit, auch außerhalb der Fabrik. Die hohe Produktivität infolge der neuen Ausbeutungskonzepte macht eine Masse von Menschen erwerbslos, bzw. sie stehen als flexible Arbeitskräfte dem Kapital zeitweise und nach Bedarf zur Verfügung. Verhältnisse, die den auf dem Bau herrschenden vergleichbar sind, nehmen zu! Diese Art der Ausnutzung der Arbeitskräfte zeigt einen höheren Grad der Verwertung durch das Kapital an. Es strukturiert - seinem spezifischen Bedarf entsprechend - das Arbeitskräftepotential stärker auch außerhalb des "Normalarbeitstages", etwa in Form von Zeitarbeit oder Scheinselbständigkeit. Und gerade jetzt, wo sie am meisten gebraucht würde, läßt die "Schutzfunktion" des Staates zu wünschen übrig. Der Zusammenhang zwischen einer Globalisierung des Kapitals und der Tatsache, daß der Staat seine "sozialen Aufgaben" nur ungenügend wahrnimmt, scheint evident. Dennoch bleibt hier Diskussionsbedarf:

Braucht das Kapital diese Funktion nicht mehr? Und wie realistisch oder sinnvoll ist es überhaupt, den Staat an seine bisher wenigstens in unseren Breiten eingenommene Funktion zu erinnern? Privatisierung - pfui! Verstaatlichung - hui? Weitere Fragen, die von uns kontrovers diskutiert wurden: Kann man aus diesem "Ursachenbündel" überhaupt ein oder zwei Vorgänge als bestimmende herausstreichen? Ist nicht beispielsweise die Differenzierung und Sättigung der Märkte mit "fordistischen Waren" (auch durch die mit dem Fordismus hervorgebrachte Individualisierung und damit einhergehender Veränderung von Konsummustern) ebenso entscheidend dafür, daß die Kapitale gezwungen sind, die Produktpalette zu diversifizieren und damit auch die Produktion zu flexibilisieren?

Kein Zurück zum "Normalarbeitsverhältnis"

Auch in den Hoch-Zeiten des "fordistischen Normalarbeitstages" gab es prekäre Arbeitsverhältnisse. Immer schon war ein rechtlich bzw. tariflich abgesichertes und zeitlich genau bestimmtes 8-Stunden-Arbeitsverhältnis nur für einen historisch recht kurzen Zeitraum und nur für einen begrenzten Teil der Lohnabhängigen gültig gewesen. Es sollte für die Reproduktion des Arbeiters (wie seiner Familie) ausreichen und dauerte meist ein Leben lang. In der Regel kamen in diesen "Genuß" männliche Facharbeiter in solchen Branchen, in denen ein kontinuierlicher Verwertungsprozeß organisiert werden konnte. Wo es der Kapitalseite aufgrund von "Verwertungsausfallzeiten" profitabler erschien, waren häufig prekäre Arbeitsverhältnisse angesagt, etwa in der Baubranche oder der Landwirtschaft. Frauen waren ohnehin aus der sogenannten Vollbeschäftigung überwiegend ausgeschlossen.

Und dennoch hatte dieser Typ des fordistischen Arbeitsregimes eine große Sogwirkung auf die ganze Gesellschaft. Hier war die Arbeitsproduktivität am höchsten, und so war dieser fordistische Produktionstyp bestimmend für das Gesamtniveau der gesellschaftlichen Reproduktion. Nicht zuletzt ist er maßgebliche Quelle für ein Denken, das wir als "Arbeitszentriertheit" kritisieren. Wenn sich dieses Arbeitsregime heute in seiner dominierenden Stellung auflöst und eher die prekäre Seite des Lohnarbeitens zur tendenziell bestimmenden wird, stehen wir vor der begrifflichen und politischen Schwierigkeit, diesem Trend kritisch entgegenzutreten, ohne in eine nostalgische Betrachtung der vergangenen fordistischen Arbeitsorganisation zu verfallen. Ein Zurück gibt es vor allem darum für linke KritikerInnen nicht, weil die Neuauflage eines alten Zustandes keine wirkliche Perspektive für LohnarbeiterInnen darstellt. Das ist unseres Erachtens nicht einfach zu vermitteln und vor allem nicht eben einfach in der Praxis anzuwenden. Es muß uns auch bei diesem Thema eine ähnliche Gratwanderung gelingen, wie wir sie bei der Bewertung der Globalisierung oder der gegenwärtigen Rolle des "Sozialstaates" versucht haben: Irgendwo zwischen der Verteidigung von Sozialleistungen und einer gleichzeitigen Überwindung der Staatsfixierung liegt die Wahrheit.

Für eine Alternativdiskussion ist es also wichtig, keine rückwärtsgewandten Vorschläge zu machen und etwa ein Programm zur Vollbeschäftigung zu entwickeln. Denn: Das fordistische Arbeitsregime ist nicht nur nicht erstrebenswert, es ist auch nicht wieder herstellbar. Geht es nicht vielmehr darum, diesem Auflösungsvorgang seine "prekäre Seite" zu nehmen, ihm eine andere Richtung zu verpassen? So gesehen ist nicht die Teilzeitarbeit das Übel, nicht der Honorarvertrag, nicht die staatlich finanzierte ABM, ja nicht einmal die Erwerbslosigkeit, sondern die Bedingungen, unter denen sie derzeit in den meisten Fällen zu haben sind.

Offene oder kontroverse Fragen aus unserer Diskussion: Kann man prekär nennen, was sich um den fordistischen Arbeitstyp herum abspielte? Oder ist es richtig, nur das, was wir heute erleben, unter "Prekarisierung" zu fassen, um dessen besondere Qualität deutlich zu machen? Zu den notwendig konstituierenden Elementen dieses Fordismus sollte auch noch die Ausschließung von Nicht-Deutschen gezählt werden, nicht zuletzt, weil, wer eine Wiederherstellung dieses Normalarbeitstages fordert, sich im klaren sein muß, daß er solche rassistischen Bedingungen mitfordert.

Chancen für Widerstand?

Diese Frage ist nicht nur als Provokation gedacht. Es geht um die Aufforderung gerade auch an die kritische Betriebslinke, in ihrer Analyse nicht die andere Seite zu vergessen, die auch ein Merkmal der Auflösung des "fordistischen Arbeitsregimes" ist. Gebannt - und das nicht zu Unrecht angesichts des derzeitigen Kräfteverhältnisses - starren wir auf die prekäre Seite und vernachlässigen, daß es auch "Nutznießer" gibt: Menschen, deren "Wert" nicht sinkt, die anspruchsvollere Arbeitsinhalte und flexiblere Arbeitszeiten mit einer befriedigenderen Art zu arbeiten verbinden. Und nicht nur das: Der gesamte Prozeß der Auflösung des "Normalarbeitsverhältnisses" selbst hat zwei Komponenten. Absurd wie diese ganze kapitalistische Produktion ist, macht sie einerseits einen Reichtum möglich, wie ihn noch keine Generation vor uns kannte; auch einen Reichtum an Möglichkeiten (z.B. sich zu vernetzen und zu verkabeln und damit völlig neue Widerstandsformen aufzubauen).

Andererseits sind das nur potentielle Möglichkeiten und die Schere zwischen diesen Möglichkeiten und der Realität klafft weit auseinander. Dennoch haben Linke die Aufgabe, nicht nur das verheerende Szenario einer weltweit prekarisierten Verwertungsgesellschaft zu malen, sondern genau zu gucken, wo sich reale Chancen für eine alternative Entwicklung bieten. War das nicht auch die fast einhellige Kritik an dem Ansatz von Karl Heinz Roth, daß dieser eine sich ausbreitende Pauperisierung konstatiert, um dann aus diesem Vorgang den allgemeinen Widerstand abzuleiten? Ohnehin existiert das Proletariat bei ihm nur unter prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen.

Das bei Roth festgestellte Liebäugeln mit einer revolutionären Verelendungstheorie zurückzuweisen, ist das eine. Wie aber gelangen wir nun von einer Verständigung über die verheerende Seite der Auflösung alter Arbeitsverhältnisse - also einer Diskussion über Prekarisierung - zu einem aktiven Widerstandsverhalten? Eine der größten Chancen, die in einer Entwicklung liegt, die den bald größeren Teil der lohnarbeitenden Bevölkerung aus der Normalität des alten Arbeitsregimes entläßt, besteht in der Möglichkeit eines sich ändernden Verständnisses über die Bedeutung von Lohnarbeit. Dieser Gedanke war in unserer Berliner Gruppe heiß umstritten. Zugespitzt formuliert: Solange der "Normalarbeitstag" alle in seinen Bann zog, war auch kein Umdenken in diese Richtung möglich. Jetzt aber ist die Chance nähergerückt, daß mehr als nur ein paar "Vordenker" den Standpunkt der verwertbaren Arbeit und der Reproduktion der Ware Arbeitskraft verlassen. Die massenhafte Erfahrung ist zwar keine Garantie für verändertes Denken und Handeln, aber eine notwendige Voraussetzung für diesen neuen Standpunkt.

Da wir jedoch keine "Verelendungstheoretiker" sind, lassen sich angesichts der geschilderten Zunahme prekärer Arbeits- und Lebenssituationen sowie der enormen Intensivierung der Arbeit keine leichten Antworten auf die Frage nach Alternativen finden. Zumal sich die kulturellen und politischen Lebenszusammenhänge in der Prekarität ebenfalls nicht zum besseren entwickelt haben. Wer in ungeregelten und ungeschützten Arbeitsbeziehungen steht, ist oft in einem ungleich höheren Maß damit beschäftigt, seine Angelegenheiten zu regeln und hat wenig Zeit für Widerständiges. Eine Reihe von traditionellen Lebensumständen der FabrikarbeiterInnen sind ohnehin zerstört: Die Lohnabhängigen gehen nicht mehr zur selben Zeit zur Arbeit, ihr Status ist unterschiedlich. Die Aussichten, daß eine zunehmend zersplitterte LohnarbeiterInnenschaft unter extremem Konkurrenzdruck revoltiert, erscheinen eher vage. Hinzu kommt ein aus unserer Sicht viel zu wenig beachtetes Phänomen: Die neuen Spaltungen innerhalb der Lohnabhängigen führen auch dazu, daß sich die einen die Dienstleistungen der anderen kraft ihrer Einkommen kaufen können - ein nicht gerade solidaritätsstiftender Zusammenhang.

Dennoch wollen wir versuchen, am Schluß an zwei Beispielen eine Herangehensweise zu beschreiben, die berücksichtigt, daß der Prozeß der Auflösung des alten fordistischen Arbeitsregimes nicht nur eine prekäre Seite hat. Obendrein ist die mißliche Seite auch eine Frage des politischen Kräfteverhältnisses, das ja nicht notwendigerweise so bleiben muß...

Zum ersten: Sicher, die alten, traditionellen Organisationsformen der ArbeiterInnen scheinen am Ende oder wenigstens nicht mehr die einzigen Widerstandsformen zu sein. Die bisherigen Zusammenhänge sind durch "outsourcing" oder Leiharbeit zerrissenen. Überhaupt hat sich die "führende Rolle" des Industriesektors geändert. Angesichts der Tatsache, daß die Hälfte aller erwerbsfähigen Lohnabhängigen nicht mehr in diesem Sektor beschäftigt ist, verwundert das nicht. Damit werden aber neue Organisationsformen notwendig und auch schon praktiziert, die über eine Betriebszentriertheit hinausgehen können. Sie entstehen außerhalb der Fabrik. Ihr Merkmal: In solchen Initiativen oder Organisationen finden sich abhängig Beschäftigte und Erwerbslose aus den verschiedensten betrieblichen und gesellschaftlichen Bereichen. Ihr Ort ist das "Territorium", nicht in erster Linie der Betrieb. Ihre Themen sind entsprechend übergreifend und reichen von sozialer Absicherung bis zur Stadtpolitik. Ein solches Beispiel für diese neue Form der Organisation ist die französische Arbeitsloseninitiative AC!

Zum zweiten: Ähnlich widersprüchlich in der Wirkung auf die Betroffenen stellt sich uns die Entwicklung einer Lohnarbeit dar, die nun nicht mehr ein Leben lang ausgeführt, sondern zeitweise unterbrochen oder ganz gewechselt wird. Jemand, der nicht 40 Jahre in derselben Fabrikhalle steht, dagegen ständig wechselnden Anforderungen, auch an wechselnden Orten, ausgesetzt ist, muß aus unserer Sicht Fähigkeiten ganz neuer Art ausbilden. Die damit aktuell häufig verbundene Prekarität sollte uns nicht den Blick dafür verstellen, daß sich mit dieser notwendigen Flexibilität auch Potentiale für eine veränderte Art zu leben andeuten. Selbst die Erwerbslosigkeit ist ein vertracktes Ding: Deutlich weniger Geld zur Verfügung, oftmals Depression, Isolation etc. Auf der anderen Seite: Die mögliche Erfahrung von Zeitgewinn, des Ausprobierens anderer, neuer Rollen ("Nach der Kita gehört Papi mir!"), die Aufwertung von anderen Tätigkeiten als der der Lohnarbeit.

Es ließe sich an weiteren Beispielen zeigen, welche widersprüchlichen Effekte die Veränderungen in der Arbeit und auf dem "Arbeitsmarkt" für die Lohnabhängigen haben. Was passiert z.B. durch eine andere, nicht-fordistische Arbeitsorganisation? Wie modifizieren sich die Geschlechterbeziehungen mit der Zunahme von Frauenerwerbsarbeit? Ebenfalls kontrovers wurde diskutiert, ob nicht die "negativen" Auswirkungen der Prekarisierung derart umfassend sind, daß die "positiven" Momente schlicht vernachlässigt werden können? Letztlich "verbarg" sich hinter diesem Streit eine unterschiedliche Auffassung über das, was die Alt-Marxisten unter uns den "widersprüchlichen Fortschritt" nennen. Nicht gerade eine unbedeutende Problemstellung... Es fragt sich allerdings, ob Ihr eine solche Herangehensweise richtig und produktiv findet. Wir stellen sie hiermit zur Diskussion.

AG "Neue Heimat" im Bündnis kritischer GewerkschafterInnen Ost/West

Dieser Beitrag ist auch in der Zeitung express, Nr. 4/98 erschienen