Ein Jahrhundertwerk floppt
Erfahrungen mit der Pflegeversicherung
Die Pflegeversicherung, von Bundesarbeitsminister Norbert Blüm bescheiden als Jahrhundertwerk deklariert, droht angesichts bisheriger Erfahrungen eher zum Jahrhundertflop zu werden. Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung zeigt dennoch ungebremste Begeisterung: "Durch die Pflegeversicherung wurden die Bedürftigen vom Rand in die Mitte der sozialstaatlichen Sorge geholt." Dies sei ein "bedeutender humanitärer Innovationssprung." Im Gegensatz dazu haben Betroffene, Einrichtungen und Verbände schon seit Einführung der Pflegeversicherung im April 1995 immer wieder darauf hinwiesen, daß das Pflegeversicherungsgesetz an den Bedürfnissen der Pflegebedürftigen vorbeigeht, für die Einrichtungen schlichtweg ruinöse Regelungen enthält und neue soziale Ungerechtigkeiten schafft beziehungsweise alte zementiert.
Die Idee einer Versicherung für den Pflegefall ist nicht neu. Mit dem Pflegeversicherungsgesetz sollte das Sozialversicherungssystem den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen angepaßt werden. Hintergrund ist die steigende Lebenserwartung, das damit verbundene erhöhte Risiko von Pflegebedürftigkeit sowie die Auflösung traditioneller Familienstrukturen. Eine "neue Kultur des Helfens und der mitmenschlichen Zuwendung" (§ 8 Abs. 2, Sozialgesetzbuch Elftes Buch, im folgenden SGB XI) wurde vollmundig angekündigt. Vor allem alten Menschen sollte die Pflegeversicherung zugute kommen. Nach einem langen arbeitsamen Leben sollten sie nicht mehr zu Almosenempfängern der Sozialämter degradiert werden. Das Pflegeversicherungsgesetz ist mit dem hohen Anspruch angetreten, als "neue fünfte Säule der Sozialversicherung" die Versicherten für den Pflegefall abzusichern, die Solidarität unter der Bevölkerung zu stärken und ihre Hilfsbereitschaft zu belohnen. Gleichzeitig wurde auch eine bundeseinheitliche Neuordnung des regional zersplitterten Pflegesektors angestrebt. Der Gesetzgeber erhoffte sich sowohl eine bessere Versorgungsstruktur, als auch eine verstärkte Marktbeteiligung privater und freigemeinnütziger Dienste. Diesen ist beim Abschluß von sogenannten Versorgungsverträgen mit den Krankenkassen auch explizit ein Vorrang gegenüber öffentlichen Trägern eingeräumt worden (§ 11 Abs. 2 SGB XI). Ungeachtet dieser hehren Ziele ging es jedoch im wesentlichen darum, die Sozialhilfekassen und damit die Kommunen weitgehend zu entlasten. Das bisherige ausschließlich steuerfinanzierte Sozialhilfesystem sollte möglichst zügig in ein überwiegend beitragsfinanziertes Sozialversicherungssystem transformiert werden.
Willkür bei den Pflegestufen
In der Umsetzung aber erweist sich das, was auf dem Papier noch passabel klingt, schlichtweg als katastrophal. Wesentliche Probleme entstehen schon mit der Begutachtungspraxis des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK). Die Begutachtung - ein für den Laien höchst kompliziertes und wenig transparentes Verfahren - stellt ein zentrales Steuerungsinstrument dar, von der die Eingruppierung in eine Pflegestufe abhängt. Der Hilfebedarf wird lediglich durch ein Gespräch mit einem Gutachter des Medizinischen Dienstes errechnet. Zwar besteht die Möglichkeit ein Widerspruchsverfahren einzuleiten, die Erfolgschancen sind jedoch vergleichsweise niedrig. Braucht der Versicherte Hilfe bei der Ernährung, Körperpflege oder beim Aufstehen oder Zubettgehen, werden Pflegeminuten für jede Hilfeleistung vergeben. Sind 90 Minuten pro Tag erreicht, ist die Pflegestufe I geschafft. Fünf Stunden täglich erfordert hingegen die Pflegestufe III. Die Leistungen wie z.B. Hilfe bei der Nahrungsaufnahme können dann aus einem komplizierten Modulsystem gewählt werden, in dem jeder Handgriff in Minuteneinheiten definiert ist. So darf die tägliche Ganzkörperwäsche beispielsweise 15 Minuten dauern. Die Kassen hätten die "Hilfemodule" gern großzügiger gestaltet, aber das hätte höhere Beiträge erfordert, die gegen den Arbeitsminister nicht durchsetzbar waren. Die Umsetzungsprobleme in der Praxis rühren jedoch nicht nur vom knapp kalkulierten Finanzbudget her. Viel wichtiger ist es, daß der Schwerkranke und seine Bedürfnisse sich nicht in ein starres Schema von "Hilfemodulen" pressen lassen.
Der begutachtende Medizinische Dienst ist bei der Kasse angesiedelt und damit keineswegs neutral. Als Agent des Kostenträgers geht er mit der Begutachtung und Einstufung eher zurückhaltend um. Viele, die bereits bisher pflegebedürftig waren, wurden mit Einführung der Pflegeversicherung zunächst sogar heruntergestuft. Für sie ist Blüms großes Reformwerk keine Verbesserung, sondern eine bittere Enttäuschung. Nach den bisherigen Erfahrungen geht die Begutachtungspraxis zwischen den einzelnen Bundesländern und oft selbst zwischen einzelnen Medizinischen Diensten zudem weit auseinander. So sind im Rheinland 100% mehr alte Menschen in Pflegestufe III eingruppiert als in Westfalen.
Als besonders problematisch erweist sich die Eingruppierungspraxis bei der immer größer werdenden Gruppe demenzkranker (verwirrter) alter Menschen, die mittlerweile über 40 Prozent der Pflegebedürftigen ausmachen. Da sich die Begutachtungsrichtlinien im wesentlichen auf körperliche Fähigkeiten konzentrieren, wird z.B. die Pflegestufe III (Schwerstpflegebedürftigkeit), die dem Pflegeaufwand bei Demenzerkrankungen wenigstens annähernd Rechnung tragen würde, fast nur in Verbindung mit dem Faktor Bettlägerigkeit vergeben. Die Folge ist, daß viele alte Menschen mit einer solchen psychiatrischen Alterserkrankung unterversorgt bleiben oder die Versorgung sich auf ihre rein körperlichen Gebrechen beschränkt. Von einer ganzheitlichen Pflege unter Wahrung eines möglichst selbständigen und selbstbestimmten Lebens (§ 2 Abs. 1 SGB XI) kann keine Rede mehr sein. Ein zusätzliches Problem entsteht bei der Betreuung Behinderter. Hier streiten sich die Sozialbürokratien, ob es sich um Pflegefälle im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes handelt oder ob nicht doch der Sozialhilfeträger mit Leistungen der Eingliederungshilfe zuständig sei. Folge: Die Akten wandern von einem Tisch zum nächsten.
Zumindest mehr Geld hat die Pflegeversicherung für diejenigen gebracht, die ihre Angehörigen zu Hause selbst versorgen. So kann die junge Frau, die ihren schwerstpflegebedürftigen Vater in der häuslichen Umgebung pflegt und nicht mehr als 30 Stunden erwerbstätig ist, mit Leistungen aus der Pflegeversicherung in Höhe von 1300,- DM pro Monat rechnen (statt bislang 400,- DM von der Krankenkasse). Sie erwirbt darüber hinaus noch einen Rentenanspruch. Eigentlicher Gewinner der Pflegeversicherung ist aber der junge Mittelständler, der für den Heimaufenthalt der Mutter nun weniger berappen muß. In Fachkreisen macht das zynische Schlagwort von der "Erbenentlastungsversicherung" Runde.
Gnadenlose Konkurrenz auf dem Pflegemarkt
Erhalten Pflegebedürftige Leistungen aus der Pflegeversicherung, können sie diese in Form einer Sachleistung (Betreuung durch Pflegeprofis) oder Geldleistung (Auszahlung von Pflegegeld an die Versicherten) in Anspruch nehmen. Wird die Geldleistung gewählt, müssen sich die Betroffenen je nach Pflegestufe viertel- oder halbjährlich einer Kontrolle durch einen Pflegedienst unterziehen. Dies soll sicherstellen, daß die Pflege durch Angehörige oder Freunde auch ordnungsgemäß durchgeführt wird (§ 37 Abs. 3 SGB XI). Gut vier fünftel der Versicherten entschieden sich für die Geldleistung.
Das gesamte Instrumentarium des Pflegeversicherungsgesetzes ist jedoch auf die Erbringung von Sachleistungen ausgerichtet, die zwingend qualifiziertes und somit teures Pflegepersonal voraussetzen. Der Anteil der angefragten professionellen Dienstleistungen blieb aber weit hinter den ursprünglichen Erwartungen zurück. Dies stellte insbesondere die ambulanten Pflegedienste sowie die wenigen vorgehaltenen teilstationären Angebote wie Tages- und Kurzzeitpflege vor erhebliche Existenzprobleme. Zusammen mit der restriktiven Begutachtungspraxis der Medizinischen Dienste hat so die Konkurrenz unter den Pflegeeinrichtungen nie gekannte Ausmaße erreicht; der Aufruf des Gesetzgebers zu einer verbesserten Kooperation der Dienste klingt da eher zynisch. Da die Pflegeversicherung lediglich eine Grundversorgung darstellt und die Einrichtungen auch nur diese Grundversorgung refinanziert bekommen, stehen viele, insbesondere kleinere Träger, mit dem Rücken zur Wand. Leisten die Einrichtungen unter diesen Bedingungen statt der berüchtigten "Satt-und-Sauber-Pflege" (Bedürfnisse, die die Wünsche eines Kleinkindes überschreiten, werden nicht berücksichtigt) dennoch eine menschenwürdige Pflege, so geschieht dies entweder zu Lasten der MitarbeiterInnen oder auf Kosten der Wirtschaftlichkeit der Institution.
Demzufolge wird überall über Sparmaßnahmen nachgedacht. Da in der Altenpflege mehr als 70% der Kosten auf Personal entfallen, ist die Versuchung groß, durch Stellenabbau oder vermehrten Einsatz von Hilfspersonal zu sparen. Personalabbau in einem derart personalintensiven Berufsfeld wie der Pflege bedeutet jedoch automatisch eine Minderung der vom Gesetzgeber so hoch gehaltenen Pflegequalität mit allen Konsequenzen für die Betroffenen. In Anbetracht des bei den Pflegekassen lagernden Finanzpolsters von 4,5 Milliarden Mark Beitragsüberschüssen ist diese Entwicklung skandalös. Die Anhäufung dieser Überschüsse unterminiert die Leitprinzipien der Sozialversicherung und ist ein Betrug an den Versicherten. Gleichzeitig wecken die Milliarden seltsame Begehrlichkeiten. So wollen die Arbeitgeber Geld zurück, obwohl der Arbeitgeberanteil an der Pflegeversicherung bereits durch die Streichung des Buß- und Bettages kompensiert wurde. Und der Bundeswirtschaftsminister hat laut darüber nachgedacht, die Gelder für seinen maroden Haushalt zu verwenden.
Auch die vom Gesetzgeber gewollte Verbesserung der Pflegeinfrastruktur ist mehr als zögerlich in Bewegung gekommen. Neben der häuslichen (ambulanten) Versorgung und dem Pflegeheim sollten verschiedene teilstationäre Angebote wie Tages-, Nacht-, oder Kurzzeitpflege vorgehalten werden. Diese teilstationären Angebote sind vor allem für diejenigen gedacht, die allein mit der häuslichen Betreuung unterversorgt und mit der stationären Betreuung überversorgt wären. Darüberhinaus sollten längere stationäre Aufenthalte - nicht nur aus rein humanitären, sondern vor allem aus ökonomischen Gründen - vermeidbar werden. Doch die gewünschte Angebotsvielfalt blieb aus. Denn die teilstationären Leistungen ließen sich weder in ausreichendem Umfang aus der Pflegeversicherung refinanzieren noch zeigten sich die Länder bei der Investitionsförderung besonders kooperativ. Im Gegenteil: Bei der angekündigten Investitionsförderung sowie Zulassung neuer Einrichtungen hielten sich Länder und Kassen eher vornehm zurück. Die durch die Pflegeversicherung eingesparten Sozialhilfemittel werden nicht im Pflegebereich reinvestiert.
Für die Betroffenen ist diese Entwicklung eine Katastrophe. Viele von ihnen hatten die Hoffnung, mit Unterstützung durch ambulante und teilstationäre Einrichtungen möglichst lange in der gewohnten häuslichen Umgebung bleiben zu können. Da viele Träger aufgrund der unklaren Finanzierbarkeit vor der Bereitstellung entsprechender Angebote zurückschrecken oder gar bestehende Einrichtungen wieder schließen, bleibt vielen Pflegebedürftigen nur der Umzug ins Heim.
Eine Sozialversicherung der besonderen Art
In ihren Grundzügen paßt die Pflegeversicherung in keine der ordnungspolitischen Traditionen sozialstaatlicher Prägung. Sie ist als Teil des beitragsfinanzierten Sozialversicherungssystems konzipiert. Gleichzeitig bricht sie aber mit dessen Leitprinzip, nämlich der finanziellen Abdeckung aller Risiken und Kosten aus der Solidarkasse. Anders als im Falle einer Erkrankung, bei der die Kosten für Diagnostik, Therapie und Betreuung aus der gesetzlichen Krankenversicherung in vollem Umfange abgedeckt werden, sind mit der Pflegeversicherung die gesamten Risiken und Kosten im Falle von Pflegebedürftigkeit nicht refinanzierbar. Dies räumt der Gesetzgeber auch offen ein: Bei der Pflegeversicherung handelt es sich lediglich um ergänzende Leistungen zur familiären oder ehrenamtlichen Pflege (§ 4 Abs. 2 SGB XI).
Die wirkliche Abdeckung von Risiken hätte bedeutet, den Betroffenen alle Hilfen zu refinanzieren und nicht eine Einteilung in beliebig gewählte Stufen von Pflegebedürftigkeit vorzunehmen und die Betroffenen dann nach dem "Good-will-Prinzip" einzustufen. Daß pflegebedingte Aufwendungen nur mit einer Grundsicherung abgefunden werden und lediglich gesundheitliche Großrisiken abgedeckt werden, bleibt legitimationsbedürftig. Aber genau damit hat das Pflegeversicherungsgesetz Signalwirkung. In Zukunft werden den Versicherten vielleicht auch in anderen Sozialversicherungsbereichen überdimensionierte Selbstbeteiligungen im Risikofall abverlangt.
Das Pflegeversicherungsgesetz hält an einem öffentlichen Planungs- und Versorgungsauftrag fest, der jedoch nicht weiter spezifiziert ist. Aufgrund von Auslassungen und fehlenden Bestimmungen über die Planungsmöglichkeiten von Ländern und Kommunen ist eine Erosion politischer Verantwortung betrieben worden. Die Aufgaben der Länder sind auf die Rolle des Geldgebers beim Aufbau von neuen Einrichtungen reduziert; gestaltende Entscheidungen werden allein auf der Ebene von Betroffenen, Pflegeprofis und Pflegekassen getroffen. Den Kassen fällt dabei deutlich mehr Verantwortung zu, als sie wahrnehmen können und sollten. Sie haben für die Sicherstellung der Pflege zu sorgen, sind verantwortlich für die Begutachtung von Pflegebedürftigkeit und darüber hinaus noch für Qualitätssicherung und -kontrolle der Dienste, mit denen sie Versorgungsaufträge abgeschlossen haben.
Die Gestaltung auf der Ebene der Dienste wurde dagegen ganz den Prinzipien des Marktes überlassen. Die Folge ist langfristig eine Monopolisierung unter den Pflegeanbietern. Das Prinzip des freien Marktes - vom Gesetzgeber vor allem aus ökonomischen Gründen erwünscht - legt nämlich nahe, daß nur größere freigemeinnützige Träger, die kostengünstiger arbeiten können (z.B. mit Zivildienstleistenden) oder privatgewerbliche Einrichtungen, die sich seit Einführung des Gesetzes explosionsartig vermehrten, Marktanteile halten können. Dies widerspricht zwar der gewünschten Vielfalt des Marktes, entlastet aber deutlich die öffentliche Hand. Die Betroffenen selbst spielen dabei kaum mehr eine Rolle. Der "freie Markt der Anbieter" wird weder die Qualität der Versorgung verbessern, noch Bedarfsgerechtigkeit fördern. Wer das Gesundheitswesen und speziell die pflegerische Versorgung der Bevölkerung dem Wettbewerb überläßt, ist somit verantwortlich für eine steigende Unterversorgung.
Rückgriff auf Frau und Familie
Das Pflegeversicherungsgesetz enthält aber auch innovative Elemente, wie z.B. die soziale Sicherung ehrenamtlicher Pflegepersonen und die Möglichkeit, Geldleistungen als Alternative zu Sachleistungen zu wählen. Im Kontext mit dem Rentenreformgesetz von 1992 sollte vor allem dem "ehrenamtlichen" Engagement von Frauen, die neben Erwerbs- und Reproduktionsarbeit häufig auch noch die Pflege ihrer Angehörigen übernehmen, Rechnung getragen werden. Ebenso wie Kindererziehungszeiten werden jetzt Pflegezeiten auf die gesetzliche Rente angerechnet.
Die Möglichkeit, Geld- statt Sachleistungen zu wählen, geht von einem selbstbewußten Konsumenten an Stelle eines abhängigen Klienten aus. Diese Vorstellung verfehlt allerdings die Realität vieler alter pflegebedürftiger Menschen und wird dem Charakter der Dienstleistung Pflege nicht gerecht. Dazu kommt, daß die Zahlungen vergleichsweise gering ausfallen: Bei der Geldleistung erhält die antragstellende Person nicht einmal 50% der Zahlungen, die ein Pflegedienst erhalten würde.
Ähnlich gering fallen die gepriesenen Rentenanwartschaftszeiten für "ehrenamtliche" Pflegepersonen aus. Die rentenrechtliche Höchstwerte liegen beispielsweise bei Pflegestufe III (Schwerstpflegebedürftigkeit) gerade mal bei 75% des Durchschnittsverdienstes eines Erwerbstätigen. Dabei wird völlig außer acht gelassen, daß die Pflege von Angehörigen schon rein zeitlich mehr als ein Full-time-Job ist, physische und psychische Belastungen nicht mit eingerechnet. Die "ehrenamtlichen" Pflegepersonen, meist Frauen, sehen sich daher auch häufig mit einer Doppel- oder gar Dreifachbelastung konfrontiert. Zusätzlich zur Pflege leisten sie in der Regel auch noch Familienarbeit und gehen einer Erwerbstätigkeit nach. Folgen einer solchen Belastungssituation sind nicht selten die soziale Isolation der betroffenen Pflegepersonen. Auch physische oder psychische Mißhandlungen der zu pflegenden Angehörigen gehören zu den Folgen dieser Überlastung. Die rentenrechtliche Anerkennung der Pflegezeiten sowie die taschengeldähnliche Honorierung des Engagements der Pflegepersonen stellen somit nicht mehr als einen Befriedungsversuch dar, der die Rückgabe der sozialpolitischen Verantwortung in Familienstrukturen zu legitimieren sucht.
Der Anspruch, dem steigenden Risiko von Pflegebedürftigkeit und den sich auflösenden Familienstrukturen, die dies früher abgesichert haben, zu begegnen, ist nicht eingelöst worden. Die Pflegeversicherung kompensiert weder die Belastungen der pflegenden Angehörigen, noch kann sie eine professionelle Versorgung der Pflegebedürftigen finanzieren. Bei den Pflegeanbietern ist von der anfänglichen Euphorie nichts mehr zu spüren, bei vielen trat nackte Existenzangst an ihre Stelle. Von einem "bedeutenden humanitären Innovationssprung" kann daher kaum die Rede sein. Blüms Jahrhundertwerk ordnet sich zwanglos in den Sparkurs der Kohl-Ära ein.
Angelika Topp