Thatcherismus mit menschlichem Antlitz
Blair's Cool Britannia - Interview mit Bob Jessop
Bob Jessop, Professor für Soziologie an der
Universität Lancaster, arbeitet zu marxistischer Staats- und
Regulationstheorie und zur Transformation des Wohlfahrtsstaates in
Skandinavien, Großbritannien und Deutschland.
Mit Bob Jessop sprachen Frieder Dittmar, Wolfgang Hörbe und
Katharina Pühl.
ak: Für die kommende Bundestagswahl rechnet sich die SPD mit Gerhard Schröder als Kanzlerkandidat beste Chancen aus. In der Linken dominieren derzeit zwei Einschätzungen einer zukünftigen Regierung Schröder: Die einen erhoffen die Abkehr von neoliberaler bzw. neokonservativer Politik, den anderen gilt Schröder bloß als neuer Kohl. Als Vorbild der mit Schröder modernisierten Sozialdemokratie gilt Tony Blairs New Labour. Was läßt sich nach einem Jahr Blair als Premierminister von Großbritannien über die Politik New Labours sagen?
Bob Jessop: Um Blair und damit Schröder zu verstehen, muß man sich auch Clinton anschauen. Blair und Clinton hatten aber nicht nur ähnliche Wahlstrategien. In der Sozialpolitik verfolgt Blair die Strategie welfare into work, und das ist eindeutig Clintons Politik.
Das Motto welfare into work zielt auf die jungen Arbeitslosen und bedeutet, daß sozialstaatliche Hilfen dazu dienen sollen, wieder einen Job zu finden. Wohlfahrt, soziale Sicherheit, Unterstützung bei Arbeitslosigkeit, das hat alles nur einen temporären Charakter.
In der Wirtschaftspolitik dagegen hat es Blair viel schwerer, mit einer Labour-Regierung die harte neoliberale Politik von Clinton zu betreiben. Hier sollte man sich eher mit Major beschäftigen, denn New Labour muß das Erbe von 18 Jahren konservativer Regierung verwalten. Und das besteht in erster Linie in der Politik einer strikten Haushaltsdisziplin, womit jede Politik, die etwas kostet, ausgeschlossen ist, sofern der Betrag nicht von einem anderen Posten gekürzt wird. New Labour hatte sie aus wahltaktischen Gründen übernommen, weil man meinte, nur mit dem Versprechen gewinnen zu können, keine höheren Steuern zu erheben. Gegen Ende seiner Amtszeit war Major allerdings so unpopulär, daß New Labour mit beinahe jedem Programm die Wahlen hätte gewinnen können, auch mit Steuererhöhungen. Ihren Kurs hat sie dennoch nicht mehr geändert.
Blair scheint darüber jedoch nicht allzu unglücklich zu sein. Er nutzt die Fortsetzung der neoliberalen Wirtschaftspolitik der Konservativen vielmehr zu einer kontinuierlichen Transformation in ein workfare-regime. New Labour steht also weniger für einen radikalen Bruch als für die Konsolidierung des Thatcherismus.
Das spricht für die Kontinuitätsthese.
Dennoch macht es einen Unterschied, ob die Sozialdemokraten jetzt regieren oder nicht. John Major wäre zum Beispiel nicht in der Lage gewesen, das Abkommen in Nordirland auszuhandeln oder Schottland und Wales mehr Autonomie einzuräumen. Eine humanere Haltung gibt es in der Migrationspolitik, etwa in der Frage der Familienzusammenführung. Zwar wollten auch die Konservativen die Familien zusammenführen, aber dazu sollten die Leute zurück nach Pakistan, Indien oder Bangladesch gehen. Labour dagegen sagt: Wir akzeptieren das Bedürfnis nach Zusammenführung, ihr könnt eure Familien hierhin bringen.
In den achtziger Jahren hast du den Thatcherismus einmal als Two-Nations-Projekt bezeichnet, das mit einer Spaltung der Gesellschaft in "Produktive" und "Parasiten" arbeitet: Produktiv seien die, deren Arbeit ohne staatliche Subventionen verwertet werden kann, während als parasitär nicht nur die Armen gälten, sondern auch diejenigen, deren Beschäftigung "unrentabel" sei. Die soziale Basis, an die sich Thatcher wandte, waren allein die Produktiven. Was ist mit dieser Spaltung passiert, gibt es die beiden Nationen noch im freundlichen Thatcherismus von New Labour?
Zwischen Blair und Thatcher gibt es schon auf der persönlichen Ebene erhebliche Unterschiede. Mrs. Thatcher hat einen hartgesottenen kleinbürgerlichen Hintergrund mit allen Werten des englischen Krämers. Ihre traditionelle kleinbürgerliche Mentalität hat sie immer beibehalten, auch wenn sie sie durch die Lektüre von Leuten wie Adam Smith theoretisch aufbereitet hat. Thatcher sah alles in moralischen Kategorien: Individuen seien für sich selbst verantwortlich. Tony Blair dagegen ist in erster Linie christlich-sozial aber nicht puritanisch und instinktiv viel stärker an der One-Nation orientiert. Blairs Politik hat zwar auch eine moralische Orientierung, aber das Individuum bleibt gegenüber der Gemeinschaft verantwortlich.
Unter Gemeinschaft darf hier aber nicht die traditionell sozialdemokratische verstanden werden. New Labour steht vielmehr für die Stärkung der Familie und deren Verantwortung und löst damit auch die Vorstellung vom traditionellen Wohlfahrtsstaat ab. Die Idee ist, daß man sich zwar nicht darauf verlassen kann, daß der Markt alles regelt, aber auch der Staat nicht alles machen kann. Also muß, vermittelt über die Familie, eine gemeinschaftliche Basis geschaffen werden, die viele der Aufgaben der staatlichen Wohlfahrt übernimmt. Für Blair liegt es nicht in der Verantwortung des Staates, auf die Leute aufzupassen, vielmehr tragen die einzelnen selbst die Verantwortung, gegenseitig für sich zu sorgen. Das ist Thatcherismus mit menschlichem Antlitz.
Diese Vorstellung vom Volk unterscheidet sich aber auch von der autoritär-populistischen Thatchers. Eher so wie Diana the peoples princess war, gibt es auch die Idee von einer Partei des Volkes. Die Art, wie der Tod von Prinzessin Diana gehandhabt wurde, war ungeheuer populär und hat dazu beigetragen, das Ansehen der neuen Regierung zu festigen. Das ist nicht die traditionell konservative One-Nation, sondern eine neue Form von One-Nation im Zeitalter der postindustriellen Massenkultur, für Leute, die multikulturell, jung und cool sind. Das Großbritannien Blairs ist Cool Britannia. Blair versucht sich mit allem zu identifizieren, was cool ist. Er spielt Gitarre, er sagt, daß er Oasis mag, er lädt Pop- und Fußballstars zu sich ein.
Der Populismus von Blair ist somit auch nicht mehr traditionell sozialdemokratisch, nicht mehr gegen die Reichen und für die Arbeiterklasse. Blair gehört zur ersten Generation von politischen Führern in Großbritannien, die der Nachkriegsgeneration angehören. Für ihn ist es genauso in Ordnung, reich zu sein oder hart zu arbeiten und zur Mittelkasse zu gehören, wie es okay ist, arm zu sein.
Ist es auch okay, arbeitslos zu sein?
Nein, das nicht! Aber nicht weil man faul wäre, wie es Thatcher dem Arbeitslosen unterstellt hat, um sie zur Arbeit zwingen zu können. Für New Labour bedeutet arbeitslos zu sein, daß man keine ganze Person mehr ist, daß man sich nicht so entfalten kann, wie es möglich wäre. Deshalb ist Arbeit wichtig. Arbeit bereichert, Arbeit hebt das Selbstwertgefühl. Das ist eine ganz andere Auffassung als die von Thatcher. Arbeitslosigkeit ist bei Blair kein gesellschaftlicher Status. Wer arbeitslos ist, ist nicht arbeitslos. Nein, wer arbeitslos ist, ist jemand, der einen Job sucht, und dabei hilft ihm New Labour.
Wie kann man sich diese Hilfen vorstellen? Setzt Blair etwa auf staatliche Arbeitsbeschaffungsprogramme?
Nein, das ist eher eine Form der persönlichen Beratung oder der Therapie, vergleichbar mit den Beschäftigungsprogrammen in Dänemark oder den USA, von deren Erfolgen andauernd geredet wird. Du hast es nicht mehr mit einem Bürokraten zu tun, der dich als gesichtslosen Arbeitslosen verwaltet, sondern bist konkrete Person, die einen individuell zugeschnittenen Maßnahmenkatalog erhält. Etwa, daß deine Haare ein bißchen lang sind oder daß du einen Anzug brauchst, wenn du einen Job willst. Vielleicht üben sie auch Bewerbungsgespräche mit dir oder zahlen dem Arbeitgeber einen Zuschuß, wenn er dich einstellt. Wenn das alles nicht klappt, verhelfen sie dir vielleicht auch zu etwas Arbeitserfahrung, wenn es angemessen erscheint. Das Ziel bleibt aber ein richtiger Job.
Ich spreche hier freilich nur über Strategien, die bisher formuliert wurden. Wie man weiß, kann das anders aussehen, wenn Bürokraten Strategien in die Praxis umsetzen. Zudem handelt es sich um unglaublich teure Programme, denn man braucht für jeden Arbeitslosen einen Betreuer. In den USA hat das nur in kleinen Experimenten funktioniert. Allen britischen Arbeitslosen diese Programme aufzuerlegen, wäre viel zu teuer, jedenfalls für die Finanzpolitik von New Labour. Daher glaube ich, daß sie letztendlich darauf vertraut, daß die Wirtschaft kontinuierlich wächst und dadurch das Problem der Arbeitslosigkeit gelöst wird.
Eine Alternative zum Wirtschaftswachstum wäre das Konzept der Arbeitszeitverkürzung, also die gerechtere Verteilung der vorhandenen Lohnarbeit. In Frankreich und Italien ist die 35-Stunden-Woche beschlossene Sache. Finden innerhalb der Labour Party Diskussionen über solche Modelle statt?
Nicht bei New Labour, aber in ihrem Umfeld. Da gibt es Diskussionen über eine Reduzierung der Wochenarbeitszeit, über Job-Sharing bzw. Job-Rotation. Daß dies nicht umgesetzt wird, liegt unter anderem an den extrem niedrigen Löhnen in Großbritannien, besonders für un- und angelernte Arbeiter. Daher wird es schwierig sein, die Wochenarbeitszeit herabzusetzen, wenn dies in irgendeiner Weise mit einer Senkung der Löhne verbunden ist. Es sei denn, dies würde wie etwa in Frankreich staatlich subventioniert werden.
In Deutschland werden zur Zeit verschiedene Modelle von Bürgergeld, Grundeinkommen oder Existenzgeld diskutiert. Die Positionen klaffen dabei weit auseinander und reichen von einer reaktionären Vorstellung, daß nur denjenigen Einkommen gewährt werden soll, die soziale Dienste leisten, bis zu linken Positionen: Existenzgeld für alle, unabhängig von den erbrachten Tätigkeiten. Teile der Arbeitslosenbewegung fordern zum Beispiel Grundeinkommen und kritisieren den Ruf nach neuen Lohnarbeitsplätzen, mit denen die SPD droht. Gibt es in Großbritannien Forderungen nach Grundeinkommen, um dem Arbeitsethos von Blairs New Labour etwas entgegenzusetzen?
Über Grundeinkommen diskutiert hauptsächlich die Linke, denn ob man nun arbeitet oder nicht, es gibt ja genug Dinge, die man machen kann, ohne dafür bezahlt zu werden oder angestellt zu sein. Es gibt die unterschiedlichsten Entwürfe. In Großbritannien laufen sie derzeit mit einer Reform des Steuersystems zusammen, insbesondere mit der negativen Einkommensteuer, die in die Beschäftigungsverhältnisse eingreifen würde. Auf lange Sicht ist das ein Projekt von Blair.
Der Schatzkanzler der Labour Regierung, Gordon Brown, versprach in seiner ersten größeren Haushaltsrede dieses Jahr eine Art Existenzgeld für Familien mit Kindern, das deutlich höher als etwa die Arbeitslosenunterstützung ist, unabhängig von ihrem sonstigen Einkommen. Bislang konnte es so sein, daß man zum Teil schlechter gestellt war, wenn man einen mies bezahlten Job hatte, als wenn man zu 100% als bedürftig galt und dann auch die medizinische Versorgung kostenlos war, es Wohngeld oder kostenloses Schulessen für die Kinder gab. Mit dieser Reform sollen nun Anreize gegeben werden, Jobs anzunehmen, da zusätzlicher Verdienst nicht mehr wie früher eine Senkung der Sozialleistungen zur Folge hat. Es sollen also durchaus neue Jobs geschaffen werden, auch wenn sie schlecht bezahlt sind, denn dann stockt der Staat das Einkommen auf. Im Effekt ist das eine Art garantiertes Mindesteinkommen, egal wieviel man verdient, aber Lohnarbeit bleibt obligatorisch. Diese Variante von Grundeinkommen wird im britischen Kontext allerdings nur dann funktionieren, wenn Blairs Projekt welfare into work gelingt.
Wenn die Familie in den Mittelpunkt der Politik rückt und soziale Leistungen auf diese Weise reorganisiert werden, werden damit nicht gerade die geschlechtsspezifischen Spaltungen wieder verstärkt? Was für eine Vorstellung von Familie ist mit diesem Konzept verbunden?
Konservative Familienpolitik, Familienordnungspolitik, hat New Labour nicht im Sinn. Die gesetzliche Eheschließung, die Zeremonie vor dem Altar und das Versprechen der lebenslangen Treue, bis das der Tod euch scheidet, meint Blair nicht, wenn er von Familien spricht. Ob du alleinerziehend bist, verheiratet oder nicht, ob du lesbisch oder schwul bist oder aus welcher Beziehung deine Kinder stammen, ist irrelevant.
Familienpolitik heißt für New Labour, Leuten zu helfen, Kinder großzuziehen. Den Familien, also Leuten mit Kindern, soll es ermöglicht werden, am Arbeitsmarkt teilzunehmen und sich zugleich um ihre Kinder zu kümmern. Aber dies ist in der Regel unvereinbar. Alleinerziehende Mütter etwa verdienen selten genug Geld, wenn sie zugleich auf ihre Kinder aufpassen müssen. Die goldene Mitte heißt Kinderbetreuung. So bekommen etwa die Arbeitgeber Zuschüsse, wenn sie eigene Kindertagesstätten einrichten; Selbständige werden unterstützt, wenn sie Betreuungsdienste anbieten, und Arbeitslose werden in Kinderbetreuung ausgebildet. Ein großer Teil der Strategie zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist also zugleich Familienpolitik. Familien sollen glückliche Kinder haben, sich um ihre Kinder sorgen können und nicht mehr so gestreßt sein. Die sozialen Kosten, Kinder zu haben, sollen gesenkt werden. Hier fließt auch die Erkenntnis ein, daß die mangelnde Konkurrenzfähigkeit Großbritanniens unter anderem mit der schlechten Erziehungs- und Bildungssituation zusammenhängt.
Worin besteht angesichts der vielen Widersprüche zwischen Rhetorik und Politik die soziale Basis für das neue Regierungsprojekt? Wer gehört dazu und wer nicht? Und an welchen Stellen könnte oppositionelle Politik ansetzen?
Die soziale Basis von New Labour ist Middle England, davon wird die ganze Zeit geredet. Mit anderen Worten, es sind nicht die Arbeiter, sondern eher die Kleinbürger oder das big business.
Die soziale Basis ist jeder, der von Thatcher die Nase voll hat, und das ist die Mehrheit der Mittelklassen. Diese Mittelklassen verdienen relativ gut, besitzen ihr Häuschen, fahren Auto, haben eine soziale Ader, solange es nicht zu viel Geld kostet, und wollen einen Staat, der sich um die Armen kümmert, solange nicht die Steuern steigen. Es sind die, die rassistische Rhetorik oder Anti-Immigrationspolitik nicht mögen. Sie sind glücklich, eine zivilisiertere Regierung zu sehen, weil sie selber zivilisiert sind. Das ist Middle England.
Aber das bedeutet ebenso, daß man nicht zu radikal sein darf. Es dürfen etwa gegenüber der gay-Bewegung nicht zu viele Zugeständnisse gemacht werden. Thatcher war gegen Schwule und Lesben. Labour unterstützt sie, aber nur, solange sie sich ihrer minoritären Position in der Gesellschaft bewußt bleiben.
In Deutschland ist das wohl genau die Neue Mitte, die Schröder sucht. Nicht gerade rosige Aussichten. Sich vom Wechsel eine Abkehr von neoliberaler Politik oder die Beendigung des Sozialabbaus zu erhoffen, scheint also mehr als unangebracht zu sein...
Zum keynesianischen Wohlfahrts-Nationalstaat führt kein Weg mehr zurück. Aber man kann in der gegenwärtigen Entwicklung zum "schumpeterianisch-postnationalen-workfare-Regime" gewissermaßen eine humanere Variante gegen die neoliberale stark machen. Der "workfare-Streik" in Dänemark kann da als Vorbild dienen. Dort haben die Leute für mehr Freizeit gestreikt. Das war kein Streik von Arbeitsplatzbesitzern gegen Arbeitslose, sondern einer für mehr Arbeitsplätze und für mehr freie Zeit zugleich. Das ist nicht revolutionär, aber es ist ein Alternative.
Eine längere Fassung des Interviews erschien im August 1998 in der Frankfurter StudentInnen-Zeitschrift diskus .