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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 419 / 22.10.1998

Waffentausch im spanischen Baskenland

ETA-Waffenstillstand, Regionalwahlen und spanische Unbeweglichkeit

Wer hätte vor einigen Wochen damit gerechnet, daß sich die politischen Verhältnisse im spanischen Baskenland derart verändern könnten. Nach der Regierungsübernahme des konservativen Partido Popular (PP) 1996 war eine zunehmende Zuspitzung der Konfrontation zwischen dem spanischen Staat und ETA zu konstatieren. Mit dem unbefristeten Waffenstillstand der militanten Separatistenorganisation scheinen sich nun Spielräume zu eröffnen, die die Spirale der Eskalation umkehren könnten. Zumal durch die kompromißlose Haltung der spanischen Regierung ein politisches Thema wieder aufgekommen ist, das seit 20 Jahren nicht mehr diese Bedeutung hatte: die Unabhängigkeit des Baskenlandes.

Am 18. September hat die ETA alle bewaffneten Aktionen eingestellt. Dies ist der erste unbefristete Waffenstillstand in der über 40jährigen Geschichte der Organisation, die für die Unabhängigkeit des Baskenlandes von Frankreich und Spanien kämpft. Wie die zwei befristeten Waffenruhen zuvor - 1989, um Gespräche mit der damals sozialistischen Regierung in Algier zu ermöglichen, und 1996 als Zeichen der Gesprächsbereitschaft gegenüber der neuen konservativen Regierung - dient der jetzige Waffenstillstand dazu, eine politische Lösung des Konflikts zu ermöglichen.

Madrid setzt auf die polizeiliche Lösung

Eine der ersten Amtshandlungen der PP-Regierung unter José Maria Aznar 1996 war, die geheimen Kontakte mit ETA zu kappen, die unter der PSOE-Regierung geknüpft worden waren. Seit Jahren verfolgen die Regierung, Justiz und Sicherheitsbehörden eine kompromißlose Linie. Als es im Sommer 1997 nach den ETA-Attentaten auf Gemeinde- und Stadträte des PP zu Massendemonstrationen gegen die politische Gewalt der ETA im Baskenland kam, nutzte Madrid die Situation. Geschickt gelang es ihr, den Protest gegen die Gewalt der ETA in eine antibaskische Kampagne umzulenken, die in Gesamtspanien Wirkung zeigte.

So ist es vielleicht auch zu erklären, warum die Verfolgungsmaßnahmen der spanischen Behörden gegenüber allen, die angeblich dem Umfeld der ETA zuzurechnen seien, in den vergangenen Monaten ohne nennenswerte Proteste über die Bühne gehen konnten. Da wurde Ende letzten Jahres die gesamte Führung der Wahlkoalition Herri Batasuna (HB) in einem fragwürdigen Prozeß zu sieben Jahren Haft verurteilt. Ende März deckte HB auf, daß der spanische Militärgeheimdienst CESID monatelang verschiedene ihrer Parteibüros abgehört hatte. (vgl. Geheim 2/98)

Die Abhörmaßnahmen gegen eine vom Obersten Gericht Spaniens als legal anerkannte Partei wurde von Verteidigungsminister Eduardo Serra als "legitim" bezeichnet, es sei ja nur eine separatistische Partei ausspioniert worden, die dem Umfeld von ETA zuzurechnen sei. Auch der PSOE zeigt sich im Kern der Sache verständnisvoll. Er kritisierte nicht das Abhören von HB als solches, sondern die mangelhafte Ausführung. Lediglich Izquierda Unida (IU) und die baskischen Parteien nahmen eindeutig Stellung. Der christdemokratische Partido Nacional Vasco (PNV), der die PP-Regierung im spanischen Parlament unterstützt, war selbst unmittelbar von der Abhöraktion betroffen. Wurden doch auch vertrauliche Gespräche zwischen PNV und HB abgehört und das Innenministerium über den Inhalt informiert.

Weder die Inhaftierung ihrer Führungsmitglieder noch die illegale Bespitzelung von HB riefen nennenswerte Proteste außerhalb des Baskenlandes hervor. Auch die Verhaftung der Geldgeber und die Schließung der HB-nahen Zeitung Egin im Juli stießen außerhalb des Baskenlandes kaum auf Kritik. Dabei handelte es sich um einen Angriff auf die Pressefreiheit, wie er seit der Franco-Diktatur nicht mehr vorgekommen war. Kein Wunder, daß viele im Baskenland sich wieder an die Zeiten unter Franco erinnert fühlen - ein Ergebnis der harten Gangart der spanischen Justiz gegen alle, die auch nur im entferntesten zum Umfeld der ETA gezählt werden könnten. Und das sind in den Augen der spanischen Sicherheitsbehörden alle, die sich in welcher Form auch immer um baskische soziale und kulturelle Belange kümmern.

Angesichts dieser zugespitzten Situation wurden im Baskenland Befürchtungen laut, ein Verbot von HB könne bevorstehen. HB-Sprecher Arnaldo Otegi: "Das kann heute, morgen oder auch gar nicht passieren, aber wir müssen uns darauf einstellen." Selbst der Sprecher des PNV-Exekutivkomitees in Biskaia, Iñigo Urkullu, bezichtigte die spanische Zentralregierung einer "Strategie zur Vernichtung" der baskischen Unabhängigkeitsbewegung.

Diese Befürchtungen mußten durchaus ernstgenommen werden, war HB im Zuge der Attentatsserie der ETA gegen PP-Abgeordnete im Baskenland doch zunehmend isoliert. Nicht nur alte Franquisten und spanische Nationalisten, auch Teile der baskischen Bevölkerung gingen auf die Straße, um für ein Ende der politischen Gewalt im Baskenland zu demonstrieren. Das Attentat der ETA auf einen PP-Abgeordneten aus Irun am 11. Dezember war in dieser Hinsicht der Tiefpunkt der Entwicklung, platzte dadurch doch eine geplante Großdemonstration gegen die Inhaftierung der HB-Führung, die zwei Tage später stattfinden sollte und an der neben HB u.a. auch die Gewerkschaften LAB, die HB nahesteht, und die PNV-nahe ELA sowie die Organisation Elkarri, die sich um eine politische Lösung des Konflikts bemüht, teilnehmen wollten.

Die neue Front entsteht als Wahlbewegung

Spätestens zu diesem Zeitpunkt begann innerhalb von HB und der baskischen Linken eine Diskussion über den weiteren politischen Weg. Offensichtlich war, daß ETA-Aktionen in letzter Zeit wiederholt in entscheidenden Situationen den politischen Anliegen der baskischen Linken geschadet hatten. Inhaftierte ETA-Mitglieder regten einen Waffenstillstand an und nannten die Zusammenarbeit zwischen den baskischen Gewerkschaften LAB und ELA als beispielgebend. In der Folge versuchte HB verstärkt, wieder Zugang zu größeren Sektoren der baskischen Bevölkerung zu finden. Diese Versuche mündeten schließlich in der neuen Wahlvereinigung Euskal Herritarrok, an der neben HB-Mitgliedern unabhängige Persönlichkeiten aus dem baskischen politischen und kulturellen Leben beteiligt sind. Zugunsten EH verzichtet HB auf die Teilnahme an den Regionalwahlen am 25. Oktober.

Unter den über 100 Gründungsmitgliedern sind zahlreiche Vertreter von Organisationen, die einen "dritten Weg" zwischen der Gewalt der ETA und staatlicher Repression suchen. Programmatisch gibt es zwischen EH und HB kaum Unterschiede: Die EH strebt ein von Spanien und Frankreich unabhängiges sozialistisches Baskenland an und fordert die Verlegung aller baskischen Gefangenen in Gefängnisse im Baskenland. Gleichwohl dürfte von EH eine distanziertere Haltung zu ETA zu erwarten sein als von HB. Die Erwartungen im Baskenland sind jedenfalls groß, daß sich EH weniger schwer damit tun werde, sich von ETA-Attentaten zu distanzieren.

Gleichzeitig zu diesen Veränderungen innerhalb der baskischen Linken waren seit Anfang des Jahres erste Annäherungen zwischen den baskischen Parteien zu verzeichnen. Der PNV entschloß sich, die Frage der politischen Gefangenen vor die Menschenrechtskommission des europäischen Parlaments zu bringen. Damit nahm er ein politisches Thema auf, das im Baskenland weit über das HB-Spektrum hinaus Unterstützung findet.

Im März legte der Präsident der Regierung des autonomen Baskenlandes, José Antonio Ardanza (PNV), einen Plan für die Befriedung der Region vor. Demnach sollten Verhandlungen der Parteien des Baskenlandes mit HB stattfinden, falls die ETA den bewaffneten Kampf einstellt, um so im Dialog mit HB ein friedliches Ende des Konflikts zu erreichen. PP und PSOE wiesen den Plan zurück und beharrten auf ihrer Position, Verhandlungen mit HB kämen auch bei einem Waffenstillstand von ETA nicht in Frage. Die übrigen Parteien des "Pakts von Ajuria Enea", die sozialdemokratische Eusko Alkartasuna (EA) und Izquierda Unida (IU), begrüßten die Initiative Ardanzas. Damit war der "Pakt von Ajuria Enea" faktisch gescheitert, der in erster Linie darauf zielte, HB politisch zu isolieren, solange das Wahlbündnis nicht den bewaffneten Kampf verurteilt.

Ardanza gab sich trotz des faktischen Scheiterns seines Friedensplans optimistisch: "Ein Gesprächsprozeß wird früher oder später stattfinden, denn ich glaube nicht, daß es irgendeinen polizeilichen Sieg über ETA geben kann, oder daß sich HB von einem Tag zum anderen und ohne irgend etwas erreicht zu haben, in das politische System Spaniens integriert." Der PNV-Parteivorsitzende Xabier Arzallus warf dem spanischen Ministerpräsidenten Aznar vor, aus rein wahltaktischen Gründen auf eine polizeiliche Lösung des Konflikts zu setzen. Ein deutliches Indiz, daß sich das Verhältnis zwischen den konservativen Nationalisten und der in Madrid regierenden PP deutlich abgekühlt hat. Ein Ergebnis von - aus baskischer Sicht - unzulässigen Einmischungen der Madrider Regierung in innerbaskische Angelegenheiten, die im Herbst 1997 zum Bruch der Koalition zwischen PP, der katalanischen Convergència i Unió (CiU) und PNV geführt haben.

In den Sommermonaten fanden auf Initiative von HB Gespräche zwischen 23 baskischen Parteien, Gewerkschaften und sozialen Organisationen statt, die unter dem Eindruck des nordirischen Friedensabkommens nach politischen Lösungsmöglichkeiten für das Baskenland suchen sollten. Dieses Irische Forum, an dem u.a. Vertreter des PNV, der EA und IU teilnahmen, verabschiedete wenige Tage vor dem ETA-Waffenstillstand die "Erklärung von Lizarra".

Das Neue an dieser Erklärung ist, daß Verhandlungen ohne Vorbedingungen stattfinden sollen. Neu ist auch, daß sich die bisherigen Gegner darauf verständigten, daß es nicht nur ein "Problem ETA" gebe, sondern man es mit einem "historischen Konflikt politischer Natur" zu tun habe. Gleichzeitig enthält die Erklärung die Option auf eine mögliche Unabhängigkeit des Baskenlandes, indem festgestellt wird, es sei auch über Fragen der "Territorialität und Souveränität" zu verhandeln. Für HB ein entscheidender Punkt, hatten doch bisher alle anderen baskischen Parteien den Autonomiestatus der Region akzeptiert.

Bilbao liegt nicht bei Belfast

Mit "tiefer Skepsis" begegnet Spaniens Innenminister Mayor Oreja dem Waffenstillstand der ETA und warnt vor trügerischen Hoffnungen. Solange die ETA sich nicht aufgelöst habe, gäbe es keine Verhandlungen. Dieser ultimative Ton hat sich in den letzten Wochen etwas abgeschwächt. Aznar gab Anfang Oktober auf einer Veranstaltung im Baskenland bekannt, er wolle nun mit "Großzügigkeit" auf den Waffenstillstand eingehen. So führt Aznar zur Zeit Konsultationsgespräche mit den "demokratischen" Parteien Spaniens, also unter Ausschluß von HB. "Großzügigkeit" will er nämlich nur walten lassen, wenn sich einerseits die "demokratischen" Kräfte auf ein gemeinsames Vorgehen einigen könnten und andererseits der Waffenstillstand der ETA "definitiv" sei. Auch kündigte er eine "Flexibilisierung" im Strafvollzug an, was man gutwillig als Zugeständnis in der Gefangenenfrage auffassen könnte.

Die spanische Regierung und die beiden gesamtspanischen Parteien PP und PSOE bleiben aber in der Sache hart. Unisono wiederholen sie, daß die Grundlage einer politischen Lösung die spanische Verfassung sein müsse. In Artikel 2 heißt es: "Die Verfassung stützt sich auf die unauflösliche Einheit der spanischen Nation, gemeinsames und unteilbares Vaterland aller Spanier, und anerkennt und gewährleistet das Recht auf Selbstverwaltung der Nationalitäten und Regionen, die ihr Bestandteil sind, und auf die Solidarität zwischen ihnen."

Damit gibt es faktisch keinen Raum für Verhandlungen. Im Baskenland jedenfalls ist heute die Ausgangslage eine andere. Da erklärt selbst PNV-Chef Arzalluz, daß das baskische Volk in der spanischen Verfassung seinen Platz nicht finden könne und auch die Zusatzbestimmung für Autonomielösungen nicht genügten. HB und ETA haben den Autonomiestatus nie anerkannt. Das Referendum zum Autonomiestatut 1979 boykottierte ein Großteil der baskischen Linken, weil nur in drei der sieben historischen Provinzen abgestimmt wurde und das Statut nicht genug Eigenständigkeit bot.

PP und PSOE fürchten, daß allein schon eine Diskussion über die Selbstbestimmung des Baskenlandes die Einheit Spaniens gefährden würde. In jedem Fall würden sich komplexe Probleme ergeben. Schon im Juli forderten PNV, CiU und der galizische Bloque Nacionalista Gallego (BNG) in der "Erklärung von Barcelona" einen föderalistischen Staat. Und Anfang Oktober hat die katalanische Generalitat mit einer Resolution prophylaktisch schon einmal das Recht Kataloniens bekräftigt, sich von Spanien abzuspalten. Gleichwohl fügte der katalanische Regierungschef Pujol (CiU) sofort hinzu, er wolle den baskischen Prozeß nicht ausnutzen, um zusätzliche politische Konzessionen zu erhalten.

Inwieweit nicht doch ein wahrer Kern in der Behauptung von PP und PSOE steckt, das Zusammenrücken der baskischen Parteien habe vor allem etwas mit den bevorstehenden Regionalwahlen im Baskenland zu tun, wird sich bald zeigen. Es ist auch sicherlich nicht von der Hand zu wiesen, daß der Waffenstillstand von ETA Einfluß auf die baskischen Regionalwahlen hat. Auf jeden Fall könnte dadurch die abnehmende Akzeptanz der baskischen Parteien umgekehrt werden. Bestand doch die Gefahr, daß die Attentate auf PP-Abgeordnete zu einem weiteren Aufschwung der Partei führen könnte. 1990 hatte die PP 6 der 75 Sitze im autonomen Parlament, 1994 bereits 11. Das Kalkül von PP, durch eine Strategie der Spannung bei den Wahlen besser abzuschneiden, dürfte allerdings durchkreuzt worden sein. Von der "überraschenden Wende" durch den Waffenstillstand der ETA profitiert jetzt wohl der PNV, der sich im Gegensatz zu den unnachgiebigen gesamtspanischen Parteien als Friedensstifter präsentieren kann.

Erst nach den Wahlen wird sich feststellen lassen, wie ernst es dem PNV mit dem jetzt viel beschworenen Recht auf Selbstbestimmung ist. Schon kündigte der sich nicht mehr zur Wahl stellende Ardanza an, man solle die politischen Gespräche über die Zukunft des Baskenlandes bis zum Ende der Legislaturperiode des Madrider Parlaments im Jahr 2000 hinausschieben.

Ob sich angesichts solcher Äußerungen die Erwartung der ETA nicht als zu optimistisch erweist, mit der "Erklärung von Lizarra" hätten jene Parteien, die bisher die regionale Autonomie akzeptierten, realisiert, daß dies nicht die Lösung für das Baskenland sein könnte? Dem PNV, EA und IU geht es vorrangig um den Frieden in der Region. ETA und HB wollen ein unabhängiges Baskenland. Spanien und die beiden Parteien PP und PSOE werden darüber nicht verhandeln. Im Zentrum der "Erklärung von Lizarra" steht eine politische Lösung des baskischen Konflikts - nicht mehr und nicht weniger. Entscheidend ist, daß sich heute alle politischen Kräfte des Baskenlandes darüber einig sind, daß sie nur gemeinsam die Zukunft des Landes bestimmen können. Dafür hat die ETA den politischen Raum eröffnet. Aber sie hat auch deutlich gemacht, daß es vom Verlauf der Verhandlungen abhängt, ob der Waffenstillstand von Dauer ist. Die weitere Entwicklung im Baskenland bleibt spannend. Anders nämlich als in Nordirland dürfte die Einsicht bei den politischen Hauptakteuren noch nicht vorhanden sein, daß eine Lösung des Konflikts nur langfristig und durch Kompromisse möglich ist.

mb., Berlin