Risse in der Abwehrfront
Ehemalige Zwangsarbeiter klagen auf Entschädigung
"Die Siemens-Anwälte waren arrogant, die haben mich keines Blickes gewürdigt geschweige denn mich angesprochen. Ich bin mir vorgekommen, als wenn ich die Angeklagte gewesen wäre." Waltraud Blass hat 1990 einen Prozeß gegen Siemens angestrengt. Ihre Klage auf Entschädigung für die Zwangsarbeit, die sie 1943 und 1944 im KZ Ravensbrück für den Elektrokonzern leisten mußte, wurde abgewiesen: wegen "Verjährung" und "Unschuld" der Firma, der die Zwangsarbeiterin "von der SS zugewiesen" worden sei.
Jahrelang hat Siemens gemauert, wenn es um Wiedergutmachung für die etwa 60.000 Zwangsarbeiter ging, die der Konzern während der NS-Zeit ausgebeutet hat. (Vgl. ak 400 und 406). Zwar hat das Unternehmen 1962 auf Druck der Jewish Claims Conference rund sieben Millionen DM an etwa 2.000 jüdische KZ-Gefangene gezahlt, die Zwangsarbeit und Lager überlebt hatten. Eine "rechtliche oder moralische Verpflichtung", für die ehemaligen Arbeitssklaven oder ihre Angehörigen finanzielle Wiedergutmachung zu leisten, hat der Konzern jedoch ausdrücklich abgelehnt. Weitere Forderungen haben die Anwälte des Konzerns an die Bundesrepublik als Rechtsnachfolger des "Dritten Reiches" verwiesen.
Wie der Elektroriese Siemens haben auch andere deutsche Großunternehmen argumentiert, wenn es darum ging, Wiedergutmachungsleistungen für die Zwangsarbeiter zu verweigern, von deren Arbeit sie während des Zweiten Weltkrieges profitiert haben. Deren Zahl läßt sich kaum zu hoch ansetzen. Auf jeden Fall war in der Rüstungsindustrie 1944 jeder dritte Beschäftigte ein Zwangsarbeiter; insgesamt waren es sechs bis neun Millionen Menschen.
Auch wenn sie nach dem Krieg das Gegenteil behaupteten: Die Unternehmen wußten, daß die Beschäftigung von Zwangsarbeitern gegen das Völkerrecht verstieß. Freiwillig und direkt forderten sie Zwangsarbeiter von den Arbeitsämtern oder aus den Konzentrationslagern der SS an. In den Nürnberger Prozessen war denn auch einer der Hauptanklagepunkte der Einsatz von Menschen zur "Sklavenarbeit", und er wurde mit schweren Strafen geahndet.
Unternehmen als "Agenten des Reiches"
Entsprechend fürchteten die Unternehmen, daß sie in den Nachkriegsjahren mit einer Flut von Prozessen überzogen würden. Der Kalte Krieg machte diesen Ängsten bald ein Ende. Um die Bundesrepublik als Bollwerk gegen den Kommunismus wirtschaftlich zu stabilisieren, wurde 1953 im Londoner Schuldenabkommen vereinbart, daß Ausländer, die aus den besetzten Gebieten verschleppt und in deutschen Firmen zum Arbeitseinsatz gezwungen wurden, eventuelle Schadensersatzforderungen bis zum Abschluß eines Friedensvertrags nicht an die Unternehmen, sondern an den Staat zu richten hätten. Begründet wurde dieses Moratorium mit der - von Historikern längst widerlegten - Behauptung, daß die Unternehmen als "Agenten des Reichs" gehandelt, mithin also die Zwangarbeiter nicht aus eigener Initiative angefordert und eingesetzt hätten. Die Bundesrepublik behandelte die Entschädigungsansprüche wie Reparationen und sorgte durch das ebenfalls 1953 verabschiedete Bundesentschädigungsgesetz und seine Novellen dafür, daß der Kreis der Anspruchsberechtigten anfangs sehr eng gefaßt wurde.
Das Londoner Schuldenabkommen, die "Verjährungspolitik" und die These von den "Agenten des Reiches" haben es jahrzehntelang ermöglicht, Entschädigungsforderungen von Zwangsarbeitern abzuwehren. Jetzt aber zeigen sich Risse in der Ablehnungsfront. So will beispielsweise VW 20 Millionen in einen Fonds einzahlen, aus dem Ansprüche von NS-Opfern befriedigt werden sollen. Ähnliche Überlegungen gibt es auch bei BMW, Hochtief, Siemens und Varta, und inzwischen denkt sogar der BDI über einen Fonds für ehemalige Zwangsarbeiter nach.
Einige Firmen - darunter Daimler - fordern allerdings, daß ein Fonds für Zwangsarbeiter von Unternehmen und Bundesregierung gemeinsam bestückt werden soll. Helmut Kohl hat es strikt abgelehnt, die staatliche Entschädigungskasse wieder aufzumachen. In der SPD hingegen gibt es mehrere Politiker, unter ihnen vor allem Hans-Jochen Vogel, die sich für die Interessen der ehemaligen Zwangsarbeiter einsetzen. Und Gerhard Schröder hat während des Wahlkampfes versprochen, daß sich im Falle eines Wahlsieges auch die Bundesregierung an einer Stiftung beteiligen werde, wie sie die Bündnisgrünen schon seit Jahren fordern.
Diese plötzliche Wende in der Entschädigungsfrage, 50 Jahre nach Kriegsende, ist nur zu einem geringen Teil der Arbeit jener Historiker und Journalisten zu verdanken, die die Öffentlichkeit in den letzten Jahren für die Verstrickungen der deutschen Industrie mit dem NS-Regime sensibilisiert haben. Weit wirkungsvoller waren in diesem Zusammenhang die Geschäftsinteressen vor allem der exportorientierten Unternehmen, besonders solcher mit großen Geschäftsvolumen in den USA. Zuerst waren es deren PR-Manager, die auf eine Bereinigung der "NS-Altlasten" drängten. Denn die Umsätze leiden darunter, wenn Diskussionen über Zwangsarbeit am Image einer Firma kratzen. In den letzten Monaten mußten aber auch Hardliner in der Abwehrfront auf Druck aus den USA reagieren.
Dort sind nämlich etliche Sammelklagen ehemaliger ZwangsarbeiterInnen anhängig: gegen BMW, Daimler-Benz und VW; gegen Degussa und die Rüstungsfirma Diehl; gegen Krupp MAN, Leica, Siemens, WMF und Württembergische Metallfabrik. Zum Teil setzen die Anwälte auf außergerichtliche Lösungen. Hinter den Kulissen wird über die Einrichtung eines Fonds oder einer Stiftung verhandelt, an die NS-Opfer ihre Ansprüche anmelden könnten. Vor allem Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion und Polen haben bisher allenfalls symbolische Wiedergutmachung erhalten, die weder den vorenthaltenen Lohn für die Zwangsarbeit noch Rentenansprüche ersetzen kann. Die Gesundheitsschäden, an denen viele Menschen durch die Verschleppung und Zwangsarbeit leiden, die Zerstörung von Berufschancen und soziale Entwurzelung sind mit den geringen Summen, die die Bundesregierung bisher gezahlt hat, erst recht nicht entschädigt.
Anwalt Witti: "Jetzt geht's erst richtig los"
Inzwischen üben auch deutsche Gerichte Druck auf die Unternehmen aus, die von der Zwangsarbeit profitiert haben. Das Bundesverfassungsgericht hat erklärt, daß das Londoner Schuldenabkommen beendet sei und das Völkerrecht einen Anspruch von ausländischen Zwangsarbeitern auf Wiedergutmachung keineswegs ausschließe. Daraufhin haben die Landgerichte Bremen und Bonn ehemaligen ZwangsarbeiterInnen Entschädigung zugesprochen.
Zu erklären ist diese Tendenzwende in den deutschen Gerichtssälen unter anderem mit einem Generationenwechsel in der Richterschaft. Verjährung, das Argument, das noch gegen die Siemens-Zwangsarbeiterin Blass vorgebracht wurde, scheint in der jüngeren Richtergeneration nicht mehr überall durchzuschlagen. Auch der Verweis darauf, daß die osteuropäischen Staaten auf Entschädigungsforderungen an das Bruderland DDR verzichtet haben, überzeugt seit der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten nicht mehr jeden.
Auch die neue Managergeneration in den Unternehmen ist inzwischen eher bereit, eine Mitschuld der Industrie an den Verbrechen des Nationalsozialismus einzugestehen. Besonders wichtig für den Stimmungsumschwung in den Chefetagen der Konzerne ist aber das Einknicken mehrerer Schweizer Großbanken. In einer Sammelklage vor einem Gericht in Brooklyn hatten Holocaust-Überlebende 20 Milliarden Dollar von Schweizer Banken gefordert. Die Banken waren zunächst nur zu einer einmaligen Zahlung von 600 Millionen Dollar bereit. Sie gaben aber nach, nachdem etwa 20 US-Bundesstaaten und 30 Gemeinden Boykottmaßnahmen gegen die beklagten Banken angekündigt hatten. Mitte August einigten sich die Geldinstitute in New York außergerichtlich mit den Klägern auf die Zahlung einer Summe von 1,2 Milliarden Dollar.
Damit sei das Thema aber nicht erledigt, sagte Michael Witti, Anwalt in München und einer der Vertreter der Kläger, "jetzt geht's erst richtig los". Tatsächlich hat die New Yorker Einigung Bewegung in die Frage der Entschädigungen gebracht. Die Angst auch deutscher Banken und Unternehmen vor Boykotten ist groß. Selbst der Siemens-Konzern, der nicht einmal anläßlich seines 150. Jubiläums im letzten Jahr Gelder für seine ehemaligen Zwangsarbeiter freistellen wollte, zeigt sich inzwischen verhandlungsbereit. Ende September hat das Unternehmen angekündigt, daß man "einen Fonds für Opfer des Holocaust" einrichten wolle. 20 Millionen Mark würden bereitgestellt, die "unbürokratisch" an "bedürftige" ehemalige Zwangsarbeiter gezahlt werden sollen.
Mehr als 50 Jahre nach Kriegsende kommt diese Hilfe für die wenigen noch lebenden, inzwischen sehr alten Zwangsarbeiter fast zu spät. Es ist zu begrüßen, wenn den in oft ärmlichen Verhältnissen lebenden Zwangsarbeitern zumindest der Lebensabend finanziell erleichtert wird. Die Motive der Konzerne für die Einrichtung der Fonds allerdings sind weniger humanitärer als geschäftlicher Art. Man will auf diese Weise kostspieli vermeiden und etwaigen Boykotten zuvorkommen. Entsprechend warnen auch einige Anwälte von NS-Opfern ihre Mandanten davor, sich mit Almosen abspeisen zu lassen.
Angela Martin