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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 420 / 19.11.1998

"Fit wie die GSG 9"

Krankenjagd in "schlanken" Betrieben

"Rekordtief bei Krankmeldungen" triumphierte das Handelsblatt, Zentralorgan der deutschen Aktienbörsen. Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums war der Krankenstand in den ersten drei Quartalen des Jahres 1998 auf den niedrigsten Wert seit der Wiedervereinigung gesunken. In Westdeutschland weist die Statistik sogar den niedrigsten Stand seit 1949 auf. Weniger krankmachende Arbeitsplätze, weniger Leistungsstreß oder eine allgemein gesündere Lebensführung dürften wohl kaum die Ursache für diese Entwicklung sein.

Nach der Statistik des Bundesgesundheitsministeriums ist die Fehlquote auf durchschnittlich 6,7 Arbeitstage gesunken - ein Rückgang von 23% gegenüber den ersten neun Monaten des Jahres 1995 und immerhin nochmal 2,7% weniger als im selben Zeitraum 1996. ArbeiterInnen in Westdeutschland haben im laufenden Jahr lediglich 3,98% der Sollarbeitszeit gefehlt, im Osten waren es 4,22%. Nach Schätzungen der IG Metall bedeutet der Rückgang der Krankenquote bei den Unternehmen Einsparungen in Höhe von zehn Milliarden DM gegenüber 1997.

Für Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt sind die sinkenden Krankenstände in erster Linie ein "Erfolg" der neuen restriktiven gesetzlichen Regelungen zur Lohnfortzahlung. Wenn überhaupt, ist das aber nur die halbe Wahrheit. Reiner Bispinck, Leiter des Tarifarchivs der Hans-Böckler-Stiftung, weist darauf hin, daß der Trend zu sinkenden Fehlzeiten lange vor dem Oktober 1996, dem Inkrafttreten des neuen Lohnfortzahlungsgesetzes, eingesetzt hat. Darüberhinaus betont Bispinck, daß trotz Lohnfortzahlungsgesetz Anfang 1998 immerhin noch für Dreiviertel aller 21 Mio. tarifgebunden Beschäftigten die 100%ige Lohnfortzahlung im Krankheitsfall galt. Auch für die Betriebskrankenkassen spielen die Restriktionen bei Lohnfortzahlung "nur eine untergeordnete Rolle" bei der Erklärung der niedrigen Krankenstände. Sehr viel entscheidender sind für die Kassen die "weiterhin schwierige Situation auf dem Arbeitsmarkt" sowie "betriebliche Vereinbarungen zur Senkung von Fehlzeiten".

Auferstehung
der Inquisition

Die Unternehmensleitungen verlassen sich längst nicht mehr nur auf den Druck durch Massenerwerbslosigkeit und prekäre Beschäftigungsverhältnisse, um den "Kostenfaktor Fehlzeiten" aus ihrer Sicht in den Griff zu bekommen. In Zeiten der "Just-in-time"-Produktion ist Krankheit mehr denn je eine "Krise der Lean production", die wie jede andere "Fehlerquelle" beseitigt werden muß. Entsprechendes Gewicht bekommen innerbetriebliche Versuche, den Krankenstand zu senken. Mit welchen Methoden in bundesdeutschen Betrieben Jagd auf Kranke gemacht wird, hat die Bochumer Industriesoziologin Mag Wompel eindrucksvoll beschrieben. "Jagd auf Kranke. Rückkehrgespräche auf dem Vormarsch" heißt ihre umfangreiche Broschüre, die jetzt in einer zweiten, aktualisierten Auflage erschienen ist.

"Rückkehrgespräche stellen den Mittelpunkt aller betrieblichen Maßnahmen zur Anwesenheitserhöhung dar", so Wompel gleich am Anfang. Dabei handelt es sich um Gespräche, die Vorgesetzte mit ArbeiterInnen führen, die nach einer Krankmeldung wieder im Betrieb erscheinen. Am Beispiel der Automobilindustrie werden die aktuelle betriebliche Praxis dieser Gespräche und sie flankierende innerbetriebliche Maßnahmen dargestellt und analysiert.

Diese Methode zur Schikanierung kranker ArbeiterInnen ist keineswegs neu und auch nicht auf die Automobilindustrie beschränkt. Aber die hier präsentierten Modelle von Opel, Mercedes und VW zeigen deutlich, welche neue Qualität an wissenschaftlicher Akribie und Systematik Fehlzeiten- und Rückkehrgespräche mittlerweile erreicht haben.

Nach außen werden diese Gespräche i.d.R. als Maßnahmen der Fürsorge und der Verbesserung der betrieblichen Gesundheitsförderung verkauft. Für das betriebliche Personalmanagement geht es freilich um anderes: "Durch ein Fehlzeitengespräch soll das Ziel einer Verringerung der Ausfallkosten des Mitarbeiters sowie der Lohnnebenkosten erreicht werden. Gleichzeitig soll sich aber auch der Mitarbeiter seiner Gesamtverantwortung für das Arbeitsumfeld und das Unternehmen bewußt werden." (zitiert nach Wompel,a.a.O.)

"Wir haben verstanden"

Muster und Vorreiter für die neue Generation von Rückkehrgesprächen ist das AVP-Konzept bei Opel ; AVP steht dabei für AnwesenheitsVerbesserungsProzeß. Das Konzept besteht aus vier systematischen und standardisierten Gesprächsstufen, die sowohl dokumentiert als auch visualisiert werden. Die Gesprächsstufen erfolgen in Schleifen von neun Monaten: Mit der ersten Fehlzeit ist Stufe 1 verbunden; folgte die nächste Krankmeldung innerhalb von neun Monaten, schließt sich Stufe 2 an usw. Dabei dient AVP von Anfang an der juristischen Vorbereitung einer krankheits- oder verhaltensbedingten Kündigung.

Stufe 1, das "Motivationsgespräch", soll 24 Stunden nach der Rückkehr des/der Beschäftigten erfolgen. Bei Opel wird es grundsätzlich bei jeder Fehlzeit angewendet. Bereits hier wird nach dem Grund der Fehlzeit, nach dem persönlichen Umfeld wie Familie und Hobbies etc. gefragt; Fragen, die die Vorgesetzten nichts angehen und die zum anderen der ärztlichen Schweigepflicht unterliegen. Stufe 2, das "Mitarbeitergespräch", zielt darauf ab, dem Kranken die "Belastungen" für die KollegInnen und den Betrieb drastisch vor Augen zu führen: Das freundliche "Sie haben uns gefehlt" wird jetzt zur massiven Beschwerde und zu einer latenten Drohung: "Der Mitarbeiter muß sehen, daß sein Fehlen dem Arbeitsablauf schadet." Gesprächsstufe 3 ist das "Personalgespräch". Hier wird die Drohung unüberseh- und -hörbar. Sie reicht von allgemeinen Hinweisen auf Kündigung wegen Krankheit bis zur direkten Ansprache: "Weiteres Fehlen wird für sie Konsequenzen haben". In der vierten Stufe schließlich, dem "Fehlzeitengespräch", wird unmißverständlich mit Abmahnung und Kündigung gedroht. .

Das AVP-Konzept wird bei Opel durch verschiedene andere betriebliche Maßnahmen begleitet. So besteht seit 1993 eine Gesamtbetriebsvereinbarung "Standortsicherung", nach der das Weihnachtsgeld nur gezahlt wird, wenn eine bestimmte Fehlzeitenrate nicht überschritten wird. Opel hat damit, wie Wompel treffend bemerkt, "die kollektive finanzielle Bestrafung von Krankheit eingeführt". Im Werk Bochum erlaubt eine Betriebsvereinbarung die Veröffentlichung der Fehlzeiten einer jeden Gruppe und sogar "Krankenbesuche" durch Gruppensprecher und/oder Vorgesetzte. Briefe an kranke Beschäftigte, Anrufe, Zielvereinbarungen zwischen Meistern und Arbeitsgruppen, Anwesenheitsprämien sind bei Opel und den anderen Automobilkonzernen genauso üblich wie das Einschalten von Detekteien oder die Einflußnahme auf Ärzte und Krankenkassen.

Mag Wompel analysiert in ihrer Broschüre aber nicht nur detailliert die Techniken der Rückkehrgespräche. Vielmehr sind diese für sie der Kulminationspunkt einer allgemeinen "Jagd auf Kranke". Die Broschüre ist vor allem dort besonders beeindruckend, wo sie die Herrschaft der "schlanken Produktion" bis in die Körper und die Psyche der Menschen beschreibt. Krankheit wird zu einem Phänomen, das ausschließlich dem eigenen Willen unterliegt und somit in hohem Maße individuell beeinflußt werden kann. Die Rückkehrgespräche machen auf allen ihren Stufen kranken ArbeiterInnen erstmal einen kollektiven Betrugsvorwurf. Wer krank ist, muß sich rechtfertigen, sich (und andere) in Zukunft besser kontrollieren und seine Fitneß öffentlich unter Beweis stellen.

Die AVP-Konzepte betrachten Krankheit als mutwilliges und verhaltensbedingtes Phänomen. Umgekehrt wird Gesundheit mit möglichst niedrigen Fehlzeiten gleichgesetzt. Die Rückkehrgespräche knüpfen dabei an typisch männlichen Verhaltensweisen und Umgehensweisen mit dem eigenen Körper an: hart ("im Nehmen"), zäh ("wie Kruppstahl") dynamisch, fit und flexibel.

Arbeiten bis zum Umfallen

Arbeit macht krank. Mag Wompel belegt, daß diese alte Weisheit auch und gerade für die "schlanke Produktion" mit ihren ausgedünnten Belegschaften, ihrer Arbeitsverdichtung und ihrem "management by stress" gilt. Das absolute Diktat des Produktivitätswachstums und der Kostensenkung verstopft auch die letzten Poren zur Erholung und zum Verschnaufen. Wompel beschreibt, wie dies zwangsläufig kranke ArbeiterInnen produziert, die dann ihrerseits zu "Kostenfaktoren" werden.

Wo die Anzahl von "Mitabreitern ohne wirtschaftlichen Wert" reduziert werden soll (Unternehmensziel von Mercedes) herrscht ein sozialdarwinistisches Klima, in dem "der Mensch als Arbeitsperson gekennzeichnet ist durch ... seine Fähigkeiten zum Ertragen von Belastungen" (zitiert nach Wompel). Wo Belegschaften "fit wie die GSG 9" sein sollen, wird permanente Leistungsfähigkeit zur Norm. Krankheit und Gebrechlichkeit unterliegen der Eigenverantwortung, krankgeschriebene KollegInnen werden zur Gefahr für Arbeitsplätze.

Die Spaltung der Belegschaften in "wirklich Kranke" und "Blaumacher" ist eine integrale Funktion der innerbetrieblichen Krankenhatz. In der Gruppenarbeit , bei Arbeitsverdichtung, gekürzten Pausen und ohne Springer, wird kranken KollegInnen schnell die Schuld für jede zusätzliche Arbeitsbelastung in die Schuhe geschoben. Wompel zitiert in diesem Zusammenhang Ex-Bundeskanzler Helmuth Kohl: "Jeder, der bummelt, jeder, der krankfeiert, jeder, der in seiner verkürzten Arbeitszeit nicht seine volle Arbeitskraft einsetzt, bestiehlt im Grunde genommen den Arbeitskameraden". Eine Denkweise, die auch bei Gewerkschaftern verbreitet ist; auch sie sind durchaus dafür, "Blaumacher" aufzuspüren, um die "integren" KollegInnen zu schützen. Wompel zeigt, wie trügerisch diese Logik ist: Unter den herrschenden Arbeitsbedingungen ist es nur eine Frage der Zeit, bis jede/r einmal krank wird. Und dies um so schneller, je mehr KollegInnen - auch krankheits- und verhaltensbedingt - gekündigt werden. Der Druck auf Kranke ist zudem auch ein Druck auf die gesunden KollegInnen, eher die Zähne zusammenzubeißen, als sich krank zu melden.

Mag Wompels Broschüre räumt schonungslos mit jeder positiven Bezugnahme auf die sog. "betriebliche Gesundheitsförderung" auf. Nicht die Gesundheit der Beschäftigten, sondern die "Gesundheit" des Unternehmens ist oberstes Kriterium. Der Mensch ist ein reiner Produktionsfaktor, dessen Leben und Gesundheit bedingungslos den Anforderungen des produktivitätsorientierten Arbeitsprozesses untergeordnet wird. Gesundheit am Arbeitsplatz setzt eine radikal andere Art der Arbeit und der Produktion voraus. Dies ist zumindest ein Fazit nach dieser Lektüre.

dk.

Mag Wompel: "Jagd auf Kranke. Rückkehrgespräche auf dem Vormarsch", 2. Auflage, Juni 1998, 123 S., 10 DM; die Broschüre kann bezogen werden über: express, Bleichstraße 9, 63065 Offenbach