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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 420 / 19.11.1998

"Wie ein nie geschriebener Roman..."

Nicaragua und Honduras nach der großen Flut

Die vermutlich größte Überschwemmungskastastrophe in der Geschichte Mittelamerikas hat Nicaragua nach Aussagen einer deutschen Entwicklungshelferin "in vier Inseln unterteilt". Mit am meisten betroffen ist die Region Chinandega mit mehr als 25.000 Evakuierten. In Nicaragua wie in Honduras warteten die Menschen tagelang auf den Dächern ihrer Häuser oder auf Bäumen auf Hilfe. Die gewaltigen Wassermassen verwandeln kleine Rinnsale in reißende Fluten, ganze Hügel verschwinden von der Landkarte, Überlebende - unter ihnen viele Kinder - ziehen ziellos auf der Suche nach Schutz durch die Gegend; viele Menschen wollen ihre Papphütten oder das, was davon noch übrig ist, nicht verlassen, aus Angst, sie an Plünderer zu verlieren - so oder so ähnlich lesen sich Berichte aus Nicaragua oder Honduras seit der Heimsuchung durch "Mitch". Die Angaben über die Anzahl der Toten in Mittelamerika schwanken zwischen 10.000 und 30.000, Tausende werden noch vermißt. Bevorstehende Epidemien werden die Zahl der Toten vervielfachen.

Wie ein Roman, der nie geschrieben wurde, wie ein Film, der nie gedreht wurde - so beschreibt ein Augenzeuge die Szenerie nach der Katastrophe in Nicaragua. Die Regierung Alemán wird allerorten als "insensible y impotente" (unsensibel und ohnmächtig) beschimpft - was wohl eine harmlose Untertreibung ist. Zunächst weigerte sie sich, den nationalen Notstand auszurufen und verzögerte damit das Eintreffen internationaler Hilfe. Denn der erklärte Notstand führt zwangsläufig zu einer Ausweitung der Befugnisse von Militär und Polizei - und damit zu einer Schwächung der Regierung.

Bereits eine Woche vor Beginn der Regenfälle hatte das geographische Institut INETER vor dem Wirbelsturm gewarnt. Aber die Warnungen wurden nicht an die betroffene Bevölkerung weitergegeben. Deshalb traf "Mitch" - im Gegensatz zu "Joana" 1987 - die Bevölkerung unvorbereitet. Auch nachdem sich die Vorhersagen in katastrophaler Weise erfüllt hatten, tat sich die Regierung weiterhin durch penetrantes Beschönigen der Situation hervor. Über Posoltaga, wo durch den Erdrutsch am Vulkan Casita schließlich schließlich mehr als 1000 Menschen starben, hieß es aus dem Hause Alemán, die Situation sei ungefährlich und die Bürgermeisterin würde unnötig Gerüchte verbreiten. Der Vizepräsident der Republik erklärte kürzlich zudem, Nicaragua benötige keine Lebensmittelhilfe von außen, schließlich sei die Bevölkerung daran gewöhnt, "gallo pinto" (Reis und Bohnen) zu essen.

Alemán ließ zunächst verlautbaren, der nationale Notstand werde nicht ausgerufen, weil er nur bestimmte Nicht-Regierungs-Organisationen begünstige und materielle ausländische Hilfe die Interessen der einheimischen Wirtschaft behindere. Bis jetzt lehnt das nationale Notstandskomitee die Mitarbeit von Nicht-Regierungs-Organisationen des Landes ab, um die weitgehende Kontrolle bei der Kanalisierung der Mittel zu behalten.

Unsensible Impotenz

Schließlich hat die Regierung die katholische Kirche als Zentralorgan bei der Verwaltung der Auslandshilfe eingesetzt. Diese Maßnahme soll dazu dienen, das ramponierte Image der Regierung wieder zusammenzusetzen - das Mißtrauen der Bevölkerung wird damit nicht unbedingt zerstreut. In vielen betroffenen Ortschaften hatten sich bereits Notstandskomitees konstituiert, die Aufbaupläne entwickeln und die Verteilung der Hilfsgüter organisieren. Die Prozesse der Selbstorganisierung und auch Politisierung der Bevölkerung in den betroffenen Gebieten werden so von oben ausgehebelt, wie es eine Aktivistin vom Notkomitee Condega bezeichnet.

Was den Präsidenten Alemán umtreibt, ist schwerlich nachvollziehbar: Daß er die angebotene Hilfe aus Kuba zunächst abgelehnt hat, mag man mit Einfühlungsvermögen in eine beschränkte Rechtsaußen-Weltsicht noch verstehen. (Aber: Selbst Somoza hatte nach dem Erdbeben 1972 Hilfe aus Kuba angenommen). Daß er aber auch das Angebot Costa Ricas, 45 Ärzte zu schicken, mit dem Hinweis ausschlug, "Ärzte hätte man genug", ist so dummdreist wie rätselhaft. Vielen NicaraguanerInnen scheint aber mittlerweile jegliches Einfühlungsvermögen abzugehen, und Alemán muß bei seinen Katastrophen-Stippvisiten reichlich einstecken. Die wütenden Beschimpfungen, die auf das Präsidentenhaupt niederregnen, haben bei vielen NicaraguanerInnen wohl auch mit einem wachsenden Verdacht zu tun, die ausländische Hilfe würde ihren Bestimmungsort nicht erreichen. Möglicherweise sitzt zumindest den Älteren auch noch die Erinnerung an 1972 in den Knochen, als Somoza praktisch die gesamte ausländische Katastrophenhilfe zum Ausbau seines privaten Luxusimperiums einsteckte.

Nichtstaatliche UnterstützerInnen müssen zur Zeit in Nicaragua nicht nur mit Strom-, Lebensmittel-, Geld- und vor allem Medikamentenmangel kämpfen: Die Vertreterin einer US-amerikanischen Nicht-Regierungs-Organisation soll ausgewiesen worden sein, weil sie nach Hause geschrieben hatte, es sei sicherer, die Hilfe über nichtstaatliche Stellen zu kanalisieren.

In Nicaragua sind über 80% der Bevölkerung ohne Stromversorgung, 40% der Ernte ist verlorengegangen. Insbesondere für kleine und mittlere Betriebe und für die noch existierenden Kooperativen wird die nun folgende Zahlungsunfähigkeit katastrophal sein. Die seit der Wahlniederlage der SandinistInnen im Jahre 1990 begonnene schrittweise Rücknahme der Agrarreform könnte - dank "Mitch" - jetzt perfekt werden.

Land ohne Brücken

In Honduras fiel praktisch die gesamte infrastrukturelle Entwicklung dem Wirbelsturm zum Opfer. Alle wichtigen Brücken des Landes sind eingestürzt, 650.000 Menschen sind obdachlos. Viele kleine Gemeinden sind völlig abgeschnitten vom Rest des Landes, und auch Tegucigalpa ist auf dem Landweg nicht mehr erreichbar. Mindestens 60 % Prozent des Landes sind komplett verwüstet, und praktisch die ganze Ernte ist vernichtet. Erste vorsichtige Schätzungen gehen von Zerstörungen in Höhe von annähernd 2 Milliarden US-Dollar aus. Das entspricht dem Bruttosozialprodukt des Landes für zwei Jahre. Inzwischen hat die Regierung Benzin rationiert und eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Wegen Plünderung von Lebensmittelläden wurden 250 Menschen festgenommen.

Im Gegensatz zu Nicaragua ist in Honduras das ganze Land vom Hurrikan verwüstet. Dafür scheinen die honduranischen RegierungsvertreterInnen nicht ganz so unfähig zu sein wie ihre südlichen KollegInnen. Immerhin hatten sie keine Probleme damit, Hilfe aus Kuba anzunehmen.

Je höher die Zahl der Toten klettert, desto höher werden auch die Summen, die aus dem Ausland in die betroffenen Länder fließen. Hatte das Auswärtige Amt zunächst generös gut 600.000 DM für Nicaragua, Honduras und El Salvador zusammen zur Verfügung gestellt, sagen die EU-Staaten mittlerweile eine Hilfe von 200 Millionen DM zu - aber auch das ist nur ein Bruchteil von dem, was benötigt wird, um die wichtigsten Aufbauarbeiten durchführen zu können. Die Präsidenten der mittelamerikanischen Länder forderten inzwischen den kompletten Schuldenerlaß für die zerstörten Länder. Diese Forderung, die von internationalen Nicht-Regierungs-Organisationen auch ohne Hurrikan schon seit Jahren gestellt wird, wird mit der entsprechend großen Zahl an Toten von den Gläubigerstaaten jetzt großzügig bedacht. Das Ganze hat Ähnlichkeit mit der Feststellung einer fassungslosen Nicaraguanerin in Managua: "Die Ärmsten der Armen bringen ihre Spenden zu den Sammelstellen, aber glaubt ja nicht, daß die Herren und Damen Abgeordneten da mal auflaufen...". Im großen Maßstab geht das so:

Kuba erließ Nicaragua die gesamten Schulden von 50,1 Millionen Dollar, ohne Bedingung und ohne Einschränkung. Kuba selber ist weltweit mit über 10 Milliarden Dollar verschuldet und steht bekanntlich nicht gerade in der Blüte wirtschaftlichen Aufschwungs. Frankreich streicht einmal 70 Millionen Dollar Schulden (Nicaragua) und einmal 30 Millionen Dollar Schulden (Honduras). Die Niederlande erließen Honduras Schulden in Höhe von 2 Millionen Dollar. Und das humanitäre Engagement des Außenministers eines der reichsten Industriestaaten der Welt, Joschka Fischer, drückt sich eher auf einer etwas abstrakten Ebene aus: "Vorurteilslos prüfen" will er die Frage des Schuldenerlasses. Gute Idee, immerhin ist Deutschland mit mehr als einer Milliarde DM einer der größten Gläubiger Nicaraguas. Etwa ein Drittel davon sind Kredite, die die DDR an Nicaragua vergeben hatte. Auch der Papst ließ sich nicht lumpen: Er bot an, für die Opfer des Hurrikans zu beten und bat um Hilfe für die Überlebenden.

So rührend die Erlaßangebote sind, so wenig verändern sie an der Tatsache, daß sowohl Nicaragua als auch Honduras um Jahrzehnte in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung zurückgeworfen sind und sich in einer Situation befinden, die mit "bankrott" nur beschönigt umschrieben wird. Würde der Schuldendienst dieser Länder auch nur so weit reduziert, wie 1953 die Entlastung Nachkriegs-Deutschlands, könnten in Nicaragua und in Honduras je 300 Millionen US-Dollar für die unmittelbare Katastrophenhilfe und für den dringend notwendigen Wiederaufbau der zerstörten Wirtschaft und die Infrastruktur eingesetzt werden. Aber selbst damit wäre noch nicht viel gewonnen: Nur die komplette, ersatz- und bedingungslose Streichung aller Auslandsschulden könnte so etwas wie ein erster Anfang dafür sein, Grundlagen für den Wiederaufbau in den betroffenen Ländern zu schaffen. Die europäische Kampagne "Erlaßjahr 2000" fordert zudem, daß die durch den Schuldenerlaß freiwerdenden Gelder von den betroffenen Regierungen in einen Nothilfe-Fonds in nationaler Währung eingezahlt werden und direkt in die Aufbauarbeit fließen.

Recht wenig wird in den Medien danach gefragt, wie es eigentlich um den Zusammenhang zwischen "Mitch" und dem Treibhauseffekt bestellt ist. Ein direkter Zusammenhang dürfte auch schwerlich nachweisbar sein. Als erwiesen gilt aber inzwischen doch immerhin, daß die rasche Erwärmung der Meeresoberfläche zumindest in Zukunft zu einer Zunahme von Wirbelstürmen führen wird. Aus dieser Perspektive müßte es dann für die wichtigsten Kohlendioxidausstoßenden Nationen wohl weniger darum gehen, großzügig Spenden zu verteilen oder hier und da ein paar Schulden zu erlassen, sondern eher darum, mit so etwas wie "Wiedergutmachung" anzufangen. Und dann müßte es auch - ganz "vorurteilslos" - um ganz andere Summen gehen.

efa