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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 421 / 17.12.1998

Kairo in Peru: Die bittere Realität der "Reproductive Rights"

Weitgehend unbemerkt von der nationalen und internationalen Öffentlichkeit ließ die peruanische Regierung zwischen 1995 bis 1998 300.000 Menschen, zu über 90 Prozent Frauen, sterilisieren. Alle Angestellten des Gesundheitssystems wurden dazu verpflichtet, eine bestimmte Anzahl von Personen pro Monat zur Sterilisation zu werben. Die Rechtsanwältin Giulia Tamayo arbeitet für das Lateinamerikanische und Karibische Komitee für Frauenrechte (CLADEM) an einer Dokumentation über Menschenrechtsverletzungen im Rahmen der Sterilisationskampagne. Am 21.9. 1998 sprach Susanne Schultz von der Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt in Lima mit ihr.

Susanne Schultz: Welche Strategien benutzte das peruanische Gesundheitssystem, um Frauen zur Sterilisation zu überreden oder zu zwingen?

Giulia Tamayo: Zum einen gab es die sogenannten "Sterilisationsfestivals". Die MitarbeiterInnen von Gesundheitsposten verteilten Flugblätter - sie versprachen kostenlose ärztliche Untersuchungen, kostenlose Haarschnitte oder kostenlose Zahnbehandlungen. An dem Tag des "Festivals" holten sie die Frauen von zuhause ab. Einige Frauen erzählten, man habe ihnen gesagt, sie bekämen Probleme mit der Regierung, wenn sie sich weigerten. Oder sie behaupteten, es gebe ein Gesetz, das die Sterilisation vorschreibe. In anderen Fällen erniedrigten sie die Frauen. Sie sagten: Du hast viele Kinder, weil du dumm bist, weil du wie ein Tier bist. Die Frauen haben oft sowieso schon große Angst vor Regierungsbeamten, und deswegen gaben sie dem Druck meistens nach. Manchmal wurden die in den armen Regionen üblichen Lebensmittelprogramme von Sterilisationen abhängig gemacht. Oder Frauen, die stationär behandelt wurden - wegen einer Kaiserschnittgeburt, Komplikationen nach einer Fehlgeburt etc. - bekamen die teuren Krankenhausgebühren erlassen, wenn sie sich sterilisieren ließen. Andere Frauen wurden einfach während einer gynäkologischen Behandlung oder nach einer Geburt sterilisiert und erfuhren erst danach, was geschehen war. Einige Frauen kamen zwar freiwillig für eine Sterilisation zum Gesundheitsposten, bereuten diese Entscheidung aber kurz vor der Operation. In verschiedenen Fällen wurden sie dann festgehalten oder sogar eingesperrt, damit sie nicht flohen. In der Region von Andahuaylas wurden Frauen, die gerade auf dem Rückweg vom Markt waren, von der Polizei verhaftet und mitgenommen. Sie brachten sie zum Gesundheitsposten, um sie dort zu sterilisieren.

Gab es irgendwelche Kriterien, nach denen die Frauen ausgesucht wurden - z.B. Alter oder Zahl der Kinder?

Nein. Es wurden ebenso Frauen mit erst einem Kind wie mit sieben Kindern sterilisiert. Und zum Alter: Die meisten Frauen waren zwar um die 30 Jahre alt. Aber Frauen unter 20 wurden nicht systematisch ausgeschlossen - es gibt bei den belegten Fällen auch Mädchen unter 20 Jahren. Außerdem wurden die Frauen nicht nach Gegenindikationen untersucht und befragt. Viele Frauen, die sterilisiert wurden, hatten z.B. Anämie, Tuberkulose, Diabetes oder waren unterernährt, einige waren schwanger, andere hatten Allergien gegen Medikamente oder gegen die Anästhesie.

Abgesehen von den Zwangsmaßnahmen, gab es auch gesundheitliche Komplikationen?

Die hygienischen Bedingungen, unter denen die Sterilisationen gemacht wurden, waren völlig unangemessen, und die Frauen wurden direkt nach der ambulanten Operation mit Komplikationen alleingelassen. Sie wurden nicht vor den möglichen Folgen des Eingriffs gewarnt. Man sagte ihnen, es handele sich um einen kleinen Eingriff, der nicht schmerze und bei dem Komplikationen ausgeschlossen seien. Wir haben einige Fälle dokumentiert, wo Frauen aufgrund nicht behandelter Infektionen nach der Operation starben. Bis jetzt haben wir 20 Fälle von Frauen dokumentiert, die während oder an den Folgen einer Sterilisaion gestorben sind. Die meisten Frauen starben, weil andere Organe als die Eileiter verletzt wurden, der Darm oder die Leber. Das kam daher, daß sie möglichst schnell operierten, um möglichst viele Frauen zu sterilisieren. Eine Operation, die eigentlich 30 Minuten dauern sollte, erledigten sie in etwa 10 Minuten.

Gab es auch viele Frauen, die die Möglichkeit einer Sterilisation freiwillig nutzten?

Bei unseren Gruppeninterviews mit Bäuerinnenorganisationen, Volksküchengruppen oder Mütterclubs sprachen wir mit sehr vielen Frauen. Einige fanden die Sterilisation für sich sehr gut. Aber es gab viele, die vorher nie über die Möglichkeit einer Sterilisation nachgedacht hatten und das auch nicht für nötig erachteten. Sie fanden diese Kampagne sehr autoritär. Viele Frauen sprachen noch ein Jahr nach dem Eingriff von Komplikationen. Oft sind das psychosomatische Probleme. Aber es sind Symptome, die Frauen aus unterschiedlichen Regionen, die nie Kontakt zueinander hatten, genau gleich beschrieben - Frauen aus Lima ebenso wie aus Iquitos oder dem Hochland von Cusco. Alle klagen sie über Nervosität, über Kopfschmerzen, über Aggressivität, darüber, daß sie sich nicht nah ans Feuer setzen können, weil sie Hitzewallungen bekommen. In einigen Fällen ist das sehr ernst - es gibt Fälle von extremen Depressionen. Es gibt Frauen, die ihr Haus nicht mehr verlassen wollen. Sie sagen, sie haben ihre Kraft verloren. In der patriarchalen andinen Welt herrschen oft noch sehr traditionelle Familienstrukturen. Wenn eine Frau aufhört zu arbeiten, also nicht mehr nützlich ist, wird sie oftmals aus der Familie verstoßen. Da lastet ein ungeheurer Druck auf den Frauen, sie können wirklich nicht mehr arbeiten. Das erfinden sie nicht. Sie werden nach der Operation nicht wieder ganz gesund. Was wir auch herausgefunden haben, ist, daß die sterilisierten Frauen innerhalb einer Comunidad sich zusammentun - sie fühlen sich wie eine Art besondere Kategorie innerhalb der Comunidad - weil sie sich betrogen fühlen und weil sie ähnliche gesundheitliche Folgen erleiden.

Um sich das Ausmaß vorstellen zu können - Können Sie sagen, wie hoch der Anteil der sterilisierten Frauen in einem Dorf nach der Kampagne war?

Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt Orte, wo über die Hälfte aller Frauen im fruchtbaren Alter sterilisiert wurden. Insgesamt wurden von 1995 bis 98 etwa 300.000 Menschen sterilisiert - zu über 90 Prozent Frauen. Auch vor 1995 hat der peruanische Staat schon Sterilisationen im Programm gehabt und auch vor 1995 gab es schon Fälle von Zwang, von Menschenrechtsverletzungen. Der Unterschied ist aber, daß es seit 1996 eine systematische Strategie von Sterilisationen gibt und daß die Sterilisationen viel aggressiver und flächendeckend durchgesetzt wurden. Und der Staat übte Druck auf die Angestellten aus. Im ersten Jahr gab es noch positive Anreize für das Gesundheitspersonal: Für jede Sterilisation wurden 1996 zwischen 3 und 10 Dollar gezahlt, 1997 wurde dann das Quotensystem eingeführt und mit Kündigung gedroht.

Wie funktionierte denn dieses Quotensystem?

Wir erfuhren bei unseren Interviews mit Angestellten des Gesundheitssystems, daß von jedem einzelnen Angestellten eine Mindestquote an zu sterilisierenden Personen verlangt wurde, von Krankenschwestern, Verwaltungsangestellten genauso wie von Ärzten. Als die ersten Nachrichten in der Presse über die Sterilisationskampagnen erschienen, leugnete der peruanische Staat diese Quoten. Inzwischen haben wir Beweise aus verschiedenen Regionen Perus. Es sind Briefe, mit denen die regionalen Vertretungen des Gesundheitsministeriums dem Personal eine fristlose Kündigung androhen, wenn sie nicht zwischen zwei (KrankenpflegerInnen) und fünf (ÄrztInnen) Personen pro Monat für eine Sterilisation werben. Außerdem wissen wir, welche Planziele die peruanische Regierung aufstellte. Für 1998 wurde das Ziel auf 165.000 Sterilisationen gesetzt. Tatsächlich wurden im Vorjahr 1997 110.000 Personen sterilisiert. Wir fragten nach, warum das Ziel höher angesetzt wurde, als in dem Jahr zuvor tatsächlich realisiert worden war. Und aus der Gesundheitsbehörde antwortete man uns, daß damit eine Tendenz gesetzt werden sollte, nämlich die Quote jedes Jahr um 50 Prozent zu erhöhen.

Welche Institutionen haben das peruanische Programm unterstützt?

Die US-amerikanische Entwicklungsbehörde US-AID hat das Gesundheitsministerium bei der Planung des Familienplanungsprogramms beraten und außerdem Schulungen in Sterilisationstechniken angeboten - auch der Weltbevölkerungsfonds der UNO (UNFPA) und die englische Regierung haben technische Unterstützung geleistet. Insgesamt wurde ein Neuntel des Programms von internationalen Geldgebern finanziert.

Wurde das Programm denn in irgendeiner Form öffentlich angekündigt - hatte es einen offiziellen Namen?

Ja. Dazu muß ich etwas zu den politischen Hintergründen erklären.

Während der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo 1994 war die politische Stimmung in Peru sehr stark von konservativen Tendenzen bestimmt. Dieser Sektor opponierte lautstark gegen die Beteiligung der peruanischen Regierung an der Konferenz. Dennoch unterzeichnete die peruanische Regierung den Aktionsplan von Kairo. 1995 begann Fujimori sein zweites Mandat als Präsident. In seiner Antrittsrede eröffnete er das "Programm zu reproduktiver Gesundheit und Familienerziehung" für die Jahre 1996 bis 2000. In dieser Rede ging er auf klaren Konfrontationskurs mit der katholischen Kirche. Außerdem widmete er zum ersten Mal in der Geschichte Perus ganze 20 Minuten seiner Rede den Frauen. Er benutzte diese ganze Sprache der Frauenförderung, er sprach im Diskurs von Kairo. Daraufhin applaudierten ihm bestimmte feministische Gruppen und schlossen sich seinem Programm an. An der Weltfrauenkonferenz in Peking nahm Fujimori als einziger männlicher Regierungschef teil. Dort rief er alle vertretenen Feministinnen Perus zusammen und nutzte die Gespräche mit ihnen für seine Propaganda. In Peking gab es eigentlich nur eine Frau, eine Bäuerin aus einer ländlichen Frauenorganisation, die vor seinem Diskurs warnte und sagte: Das mit der Familienplanung, das werden wir genau beobachten. Sie war die einzige wachsame Stimme. 1995 begann außerdem US-AID, Programme der feministischen Bewegung zu unterstützen, die sich mit dem Aufbau von Familienplanungsdiensten befassen. Zwei progressive feministische NGOs bekamen finanzielle Unterstützung von US-AID. Eine der Organisationen, die NGO Manuela Ramos, erschien daraufhin sehr viel in der Presse, um das Regierungsprogramm zur Familienplanung als Fortschritt zu loben. Die Mitarbeiterinnen behaupteten, die Beschlüsse von Kairo würden umgesetzt, ohne die realen Praktiken im Gesundheitssystem auf irgendeine Art und Weise zu überprüfen. Die ersten Fälle von Menschenrechtsverletzungen kamen nicht über sie ans Licht, sondern über andere Kanäle. Vor allem lokale Frauenorganisationen, Bäuerinnenorganisationen wendeten sich mit ihrem Protest an Menschen- und Frauenrechtsorganisationen. Die großen feministischen Organisationen in der Stadt reagierten aber nicht sofort auf diese Informationen. Es kam ihnen überhaupt nicht gelegen, daß es Menschenrechtsverletzungen in einem Programm gab, an dem sie sich beteiligt hatten. Ein Sektor des Feminismus entzog sich deswegen der Frage, wich dem Thema aus. Was ich mich frage, ist, warum die großen feministischen Organisationen nach Kairo, wo unterschrieben wurde, daß es sich nicht nur um den Zugang zu Verhütungsmitteln, sondern um reproduktive Rechte geht, keinerlei Kontrollmechanismen gefordert und etabliert haben, mit denen eine informierte Zustimmung zu den Maßnahmen hätte garantiert werden können.

Gibt es inzwischen eine Selbstkritik dieser Organisationen?

Anfang 1998 waren die Menschenrechtsverletzungen für alle offensichtlich, denn die angeklagten Fälle hatten sich gehäuft. Und es gab klare Beweise über die Quoten. Daraufhin gaben Menschenrechts- und Frauenorganisationen, unter ihnen auch Gruppen wie Manuela Ramos, eine Erklärung heraus, in der sie die Sterilisationskampagne als schwere Menschenrechtsverletzung anklagten. Die Regierung reagierte auf diese Situation, in der sie sich nicht mehr auf einen Konflikt zwischen Konservativen und Feministinnen zurückziehen konnte, mit einer Korrektur des Programms. Allerdings gibt es keinen Prozeß einer gesetzlichen Regelung der Familienplanungs-Dienste - nur neue Vorschriften an das Gesundheitspersonal. Ich halte diese neuen Anordnungen für keine dauerhafte Garantie. Manche feministischen Organisationen haben sich aber damit zufrieden gegeben. Die größte feministische Organisation in Peru, Flora Tristán, hat sich am Anfang auch unklar zu dem Thema verhalten und vor allem Lobbypolitik zu reproduktiven Rechten gemacht. Als dann aber die Tatsachen ans Licht kamen, haben sie reagiert und unterstützen jetzt meine Forschung mit all ihren Kontakten zu bäuerlichen Frauenorganisationen. Flora Tristán ist gerade völlig im Umbruch und beginnt, ihre bisherige Politik zu hinterfragen und Recherchen zu weiteren Menschenrechtsverletzungen in der Familienplanung anzustellen - z.B. zum Einsatz von Norplant oder Hormoninjektionen in Peru.

Was wirst du mit diesen Informationen machen?

Wir werden sowohl einen Bericht, in dem all die Fälle dokumentiert sind, herausgeben als auch ein Video mit exemplarischen Fällen.

Der Bericht wird im Januar 1999 veröffentlicht -mit Unterstützung von verschiedenen Menschenrechtsorganisationen. Außerdem will CLADEM weitere ähnliche Studien in andern lateinamerikanischen Ländern anregen - zu sexuellen und reproduktiven Rechten, um ein regionales System für Menschenrechte zu diesem Thema aufzubauen. Der Vorteil unserer Methode, des sogenannten Fact Finding, ist, daß wir einzelne Menschenrechtsverletzungen an Frauen belegen, also Fakten vorlegen. Bisher gab es auf diese Methode durchweg positive und engagierte Reaktionen. Denn wir Frauen können durchaus unterschiedlicher Meinung über die Einschätzung bevölkerungspolitischer Programme sein. Aber die Fakten sprechen für sich und fordern zum Handeln auf.