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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 421 / 17.12.1998

Sonntagsrede mit Folgen

Martin Walsers Appell an die "selbstbewußte Nation"

Martin Walser, ein deutscher Dichter, dankt an symbolträchtigem Ort, der Frankfurter Paulskirche, für die Auszeichnung mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Er nutzt die Gelegenheit zu einer Abrechnung mit anonymen Mächten, die Auschwitz "zu gegenwärtigen Zwecken" instrumentalisieren. Das Publikum applaudiert stehend. Nur einer protestiert umgehend: Ignatz Bubis, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, nennt Walser einen "geistigen Brandstifter". Verteidiger Walsers melden sich zu Wort, Bubis wiederholt und verschärft seine Kritik, Altbundespräsident Weizsäcker sorgt sich, die Diskussion könne "außer Kontrolle" geraten. Ein "Fall von Oberschichtskommunikation" (Micha Brumlik), in dem es um Grundlegendes geht: das Gedenken an den Holocaust und das Selbstverständnis einer "Nation", die sich zunehmend für "normal" hält.

"Unerbittlicher Streit über Antisemitismus. Das schadet Deutschland" - nach Ignatz Bubis' Spiegel-Interview war auch für das Hamburger Abendblatt aus dem Axel-Springer-Verlag das Maß voll. Mit dem Aufmacher am Tag danach wurden "drei angesehene Männer" an ihre "große Verantwortung" erinnert - Verantwortung vor der "nachgewachsenen Erlebnisgeneration", vor allem aber vor dem deutschen Gemeinwesen. Dessen Ansehen steht auf dem Spiel, auch das deutsch-israelische Verhältnis droht Schaden zu nehmen, weil Ignatz Bubis, Klaus von Dohnanyi und Martin Walser, allesamt "integre Persönlichkeiten mit intellektuellem Format und moralischer Autorität", sich gehen ließen.

Nicht ganz zufällig ertönte aus dem Hause Springer der Ruf zur Mäßigung erst, nachdem Bubis gegen ein ungeschriebenes Gesetz verstoßen hatte: Er hatte zwei Repräsentanten der deutschen Eliten, nämlich Dohnanyi und Walser, latenten Antisemitismus vorgeworfen. Angefangen aber hatte - das ist auch bei einem "Streit alter Männer" von Bedeutung - Martin Walser.

"Meinungssoldaten"
mit "Moralpistolen"

Walser pirscht sich in seiner Rede geschickt an sein Thema heran: die "Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken". Er entwickelt es in Konfrontation mit zwei von ihm nicht genannten "verehrungswürdigen Namen" (gemeint sind Habermas und Grass) - "ein wirklich bedeutender Denker" der eine, ein "ebenso bedeutender Dichter" der andere, "beide wirklich gleich seriös", "seriöse Größen". In Walsers an Shakespeare geschulter Rhetorik ("Brutus ist ein ehrenwerter Mann") schlägt die Schmeichelei in ihr Gegenteil um: Spätestens beim dritten Lobeswort erscheinen die Gepriesenen als Dummköpfe oder Lügner, ihre Warnungen vor dem alltäglichen Rassismus als irrational und zweckorientiert - sie richten sich gegen Deutschland, und Walser weigert sich schlicht zu "glauben", was er da über sein Vaterland hören muß: "Die Bevölkerung sympathisiert mit denen, die Asylantenheime angezündet haben."

Was die historische Wahrheit des Holocaust angeht, kann Walser sich nicht auf ein schlichtes "das kann ich nicht glauben" zurückziehen. Es ist die "Dauerpräsentation unserer Schande" ("kein Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird"), die er anprangert, die Instrumentalisierung von "Auschwitz" als "jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule". Wer droht da mit der Keule? Es sind die "Meinungssoldaten", die, "mit vorgehaltener Moralpistole, den Schriftsteller in den Meinungsdienst nötigen." In wessen Sold diese "Meinungssoldaten" stehen, welchen "gegenwärtigen Zwecken" ("immer guten Zwecken, ehrenwerten", fügt der Redner hinzu) sie dienen, wurde dem Publikum später erklärt: in den Koreferaten der Herren Dohnanyi und Augstein (s.u.).

Walser will mit der deutschen Vergangenheit nicht länger belästigt werden; er will aber auch seine Landsleute vor dieser Belästigung schützen - welchen Sinn hätte sonst seine Schelte der Intellektuellen ("Meinungs- und Gewissenswarte") und der Medien ("Routine des Beschuldigens")? Der Einwand seiner Fürsprecher, Walser habe nur die "Ritualisierung" des Gedenkens kritisiert, wird vom Meister selbst widerlegt. Er will die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen, die er durchgehend "Schande" nennt, privatisieren, zur persönlichen Gewissenserforschung machen - angeblich. Gewissen aber kann sich bestenfalls - die persönliche Bereitschaft dazu unterstellt - mit Schuld auseinandersetzen, nicht aber mit "Schande", die verdrängt werden muß. Walser folgen hieße, den Holocaust in den Bereich des Nicht-Öffentlichen zu verbannen; es hieße auch, den überlebenden Opfern und allen anderen, die Erinnerungsarbeit leisten, Öffentlichkeit streitig zu machen.

Bei Walsers Rede saß in der ersten Reihe Ignatz Bubis, der sich, Auge in Auge mit dem Redner, auch persönlich provoziert gefühlt haben muß. Seine heftige Reaktion ließ nicht auf sich warten. Walsers Rede sei "geistige Brandstiftung" und zudem gefährlicher als ähnlich klingende Tiraden der Volksverhetzer Schönhuber, Frey und Deckert, die außerhalb des rechtsextremen Lagers niemand ernst nehme. Am 9. November, dem 60. Jahrestag der Reichspogromnacht, wiederholte Bubis in Berlin seine Kritik, die er im Spiegel-Interview (30.11.) zuspitzte: Die von Walser und Dohnanyi vertretene "Vorstellung, die Juden denken immer zuerst ans Geld und machen aus allem Geld, gehört zum klassischen antisemitischen Repertoire."

Nicht nur Linke schlossen sich Bubis an. Andere, darunter ebenfalls Linke, wandten ein, Walser habe diese harsche Kritik nicht verdient - man dürfe nicht nur diese eine, möglicherweise mißratene Rede sehen, sondern müsse auch sein Werk und seine Persönlichkeit berücksichtigen. Walser selbst, der 1961 Wahlkampf für die SPD machte, später der DKP nahe stand, sieht sich jenseits der Kategorien Links und Rechts. Wegen seiner Verurteilung des Vietnam-Krieges habe er in den westdeutschen Medien als Kommunist gegolten; später hätten ihn die Linken zum Rechten erklärt - als er nämlich Ende der 70er Jahre sein Herz für die deutsche Einheit entdeckte.

Die Profiteure
deutscher "Schande"

Von Gleichgesinnten mögen Walsers politische Interventionen der vergangenen Jahre "streitbar" genannt werden, immer waren sie auf Polarisierung angelegt: So klagte Walser über den "Tugendterror der political correctness"; die "Intoleranz unserer besten Intellektuellen", die "die reinsten Pfaffen" seien, über "Meinungssoldaten" und dergleichen. Genau das, was seine Paulskirchenrede zum Skandal werden ließ, hat er auch schon vorher gesagt, wie in dem kürzlich erschienenen Sammelband "Gespräche mit Martin Walser" nachzulesen ist. So beklagt er die "grotesk anmutende Routine" beim "Umgang mit unserer Vergangenheit" und die in diesem Zusammenhang gemachten "schauderhaften Vorschläge, von denen das Berliner Mahnmal zur Erinnerung an die Judenvernichtung vielleicht der krasseste ist" - "Gewissensvorgänge" könne man nicht "normieren", "das muß man den Menschen selber überlassen."

Nach den heftigen Gegenreaktionen zog Walser sich darauf zurück, er sei "mißverstanden" worden - offensichtlich auch von denen, die ihm zur Seite standen, deren Unterstützung sich Walser gleichwohl nicht verbeten hat. Der Sozialdemokrat Klaus von Dohnanyi wehrte sich via FAZ gegen den "allzu häufigen Versuch anderer, aus unserem Gewissen eigene Vorteile zu schlagen. Es zu mißbrauchen, ja zu manipulieren." Statt die Betreiber dieses unmoralischen Geschäfts beim Namen zu nennen, wandte er sich an die Juden, von denen er einen persönlichen Tapferkeitsnachweis forderte: "Allerdings müßten sich natürlich auch die jüdischen Bürger in Deutschland fragen, ob sie sich so sehr viel tapferer als die meisten anderen Deutschen verhalten hätten, wenn nach 1933 ,nur` die Behinderten, die Homosexuellen oder die Roma in die Vernichtungslager geschleppt worden wären." In einer Replik auf Bubis' Vorwürfe im Spiegel entrüstete sich Dohnanyi, wieder in der FAZ, über die "Verkürzung unserer Holocaust-Debatte auf das Geld" - nicht Walser und Dohnanyi, sondern Bubis habe von Geld und Grundstücken geredet. "Auf was für ein Niveau", empörte sich Dohnanyi, "würde denn so die Debatte über das Gedenken, aber auch über die berechtigten Ansprüche der Opfer von Ignatz Bubis gedrückt!"

Gänzlich hemmungslos gebärdete sich Rudolf Augstein, der seinem Duzfreund Walser nicht nur vollständig recht gab und Bubis einen "gehörigen Mangel an Urteilsvermögen" vorwarf. Er ergänzte den Mythos der "jüdischen Weltverschwörung" um ein aktuelles Kapitel: Auch hinter dem Projekt eines Berliner Holocaust-Mahnmals steckt der Jude: "Man ahnt, daß dieses Schandmal gegen die Hauptstadt und das in Berlin sich neu formierende Deutschland gerichtet ist. Man wird es aber nicht wagen, so sehr die Muskeln auch schwellen, mit Rücksicht auf die New Yorker Presse und die Haifische im Anwaltsgewand, die Mitte Berlins freizuhalten von solch einer Monstrosität." Daß die US-Presse von den Juden dirigiert wird, kann bei den Älteren hierzulande als bekannt vorausgesetzt werden, seit Elisabeth Noelle (nach 1945 bekannt als Noelle-Neumann) in der Nazi-Wochenzeitung Das Reich die deutschen Volksgenossen entsprechend aufklärte; die "Haifische im Anwaltsgewande" sind unschwer als die jüdischen Anwälte zu identifizieren, die 53 Jahre nach Kriegsende für die wenigen überlebenden Opfer des Nazi-Terrors Entschädigungen erstreiten wollen (daß sie für sich selbst ansehnliche Provisionen erhoffen, gehört zu den üblichen Gepflogenheiten des kapitalistischen Geschäftslebens, die im Spiegel ansonsten niemals in Frage gestellt werden).

Augstein verschonte seiner Leser auch nicht mit weiteren antisemitischen Stereotypen: Die Juden sind nicht nur mächtig und geldgierig und beherrschen die "Weltpresse", sie sind auch schuld am Antisemitismus: "Ließen wir den von Eisenmann vorgelegten Entwurf fallen, wie es vernünftig wäre, so kriegten wir nur einmal Prügel in der Weltpresse. Verwirklichen wir ihn, wie zu fürchten ist, so schaffen wir Antisemiten, die vielleicht sonst keine wären, und beziehen Prügel in der Weltpresse jedes Jahr und lebenslang, und das bis ins siebte Glied." Womit der Vollständigkeit halber auch noch die "alttestamentarische" Rachsucht in die Debatte geworfen worden ist.

Vom Generationswechsel zum Epochenwechsel?

Walsers Rede ist ein Indiz, daß die Nachkriegsübereinkunft zwischen dem (west-)deutschen Staat und seinen Eliten auf der einen, den wenigen in Deutschland lebenden Juden auf der anderen Seite von ersteren zumindest in Zweifel gezogen wird. Diese Übereinkunft entsprach der Staatsräson. In seinem Buch "Im Anfang war Auschwitz" zitiert Frank Stern den US-Hochkommissar John McCloy, der im Sommer 1949 vor Vertretern jüdischer Gemeinden sagte: "Die Welt werde es als einen Maßstab betrachten, ob Deutschland im Stande ist, gesunde Beziehungen zu den jüdischen Gemeinden zu schaffen. Das Verhalten der Deutschen zu den wenigen Juden in ihrer Mitte sei ein Prüfstein ihrer Gesittung und eines echten demokratischen Aufbauwillens."

Das war eine Sprache, die Adenauer verstand. Der in seinem vielzitierten Ausspruch "Das Weltjudentum ist eine jroße Macht" enthaltene Antisemitismus wurde philosemitisch gewendet: Man zahlte "Wiedergutmachung", war nett zu Juden und solidarisch mit Israel. Von den Vernichtungslagern aber hatte niemand gewußt; zum zentralen Datum der westdeutschen "Gedenkkultur" wurde der 20. Juli 1944.

In dem Streit um die Holocaust-Gedenkstätte geht es nicht zuletzt um die Frage, ob "wir" denn "das" noch nötig haben. Helmut Kohl, jahrelang der mächtigste Befürworter dieses Projekts, hoffte, daß auch und gerade nach der "Wiedervereinigung" ein solches Monument international Sympathien mobilisieren würde - ein nicht zu unterschätzender Faktor für einen Staat, der sich zur "gewachsenen deutschen Verantwortung in der Welt" bekennt und diese "Verantwortung" vorzugsweise durch seine Krisenreaktionskräfte exekutieren will. Sein Nachfolger Schröder, der diese Politik fortsetzen und auf eine neue Stufe heben möchte, verblüffte die Öffentlichkeit mit dem Ausspruch, das Berliner Mahnmal müsse ein Ort werden, "wo man gern hingeht".

Daß Kohl ein solcher Satz um die Ohren gehauen worden wäre, liegt auf der Hand. Für die rot-grüne Regierung ist das ungelöste Problem des Holocaust-Mahnmals eine Altlast der Kohl-Ära wie die Löcher im Haushalt. Kanzleramtsminister Hombach erklärte das "historische Ende der Wiedergutmachungspolitik", und Regierungssprecher Heye ergänzte, unsere Nachbarn sollten sich daran gewöhnen, daß Deutschland sich nicht länger "mit dem schlechten Gewissen traktieren" lasse.

1993 provozierte der inzwischen fast vergessene Steffen Heitmann lautstarken Widerspruch, als er sein politisches Credo formulierte: Deutschland möge - der "intellektuellen Debattenlage" zum Trotz - das "Ereignis" des Nationalsozialismus "einordnen in unsere Gesamtgeschichte, die wir als Volk haben", um auf diesem Wege "ein normales Volk unter normalen Völkern" zu werden. Fünf Jahre und einen Regierungswechsel später scheint dieses Programm seiner Verwirklichung näher gekommen zu sein.

Was immer Ignatz Bubis mit seiner "Regelverletzung" bezweckt haben mag - diese war nicht nur eine Notwehrhandlung, sondern durch die Reaktionen, die sie provozierte, auch ein aufklärerischer Akt. Plötzlich geht es nicht mehr um Auschwitz und die angemessene Art des Gedenkens an die Opfer - sondern um "das sich neu formierende Deutschland". Die Protagonisten der Debatte gruppieren sich anders als noch während des Historikerstreits; Augstein ist hier nur das krasseste Beispiel. Walser selbst sieht sich in der "Einschüchterungsposition" und als Opfer einer "neuen Inquisition". Die Welt dokumentiert eine Auswahl von angeblich 1.000 zustimmenden Briefen an Walser, die Junge Freiheit dankt dem Redner für seinen "entscheidenden Beitrag" zur "intellektuellen Befreiung" der Deutschen, deren "Identität als Nation durch den Nationalsozialismus und den anschließenden Gesinnungsterror der PC" gleichermaßen beschädigt sei.

Ob es nun - wegen Walser - mit der "nationalen Identität" im Sinne der Jungen Freiheit aufwärts geht, entscheidet sich in der öffentlichen Debatte. Erstaunlich ist die Zurückhaltung der Grünen. Ihr Schweigen auch in dieser Streitfrage symbolischer Politik ließe sich schlicht damit erklären, daß sie schon nach zwei Monaten Regierungstätigkeit jede Eigenständigkeit verloren haben. Es könnte aber auch darauf hindeuten, daß die Symbolpolitik wichtiger ist als allgemein angenommen - und Kritik an den zitierten Machtworten des Koalitionspartners das gemeinsame Unternehmen in Frage stellen würde.

Js., 10.12.1998

P.S. Inzwischen hat Bubis den Vorwurf der geistigen Brandstiftung öffentlich zurückgenommen. Walser hingegen steht zu jedem Wort seiner Rede und rühmt deren "befreiende Wirkung". Darin sieht nicht nur Bubis nach wie vor das Problem: "Alle diejenigen, die sich bislang nicht getraut haben, ... haben jetzt einen geistigen Vater..." Die Kontroverse bleibt.