Von deutscher Nationaldichtung
Goethes "Faust" - Begleiter zwischen Verdun und Stalingrad
Pünktlich mit dem Sylvester-Feuerwerk hat auch das "Goethe-Jahr" begonnen. "Deutschland" feiert den 250. Geburtstag seines "größten Dichters", und alle dürfen ein bißchen stolz sein und am nationalen Wonnegefühl teilhaben. Aus mehr oder minder berufenem Munde wird uns erklärt werden, warum Goethe auch heute noch aktuell, zukunftsweisend und überhaupt unverzichtbar sei. Nicht zuletzt geht es dabei ums Geschäft. Das Merchandising boomt schon jetzt: Verscherbelt werden Teller, Tassen und T-Shirts mit den einprägsamsten Worten des Dichters. Auch Gedrucktes gibt es in Hülle und Fülle: Werkausgaben zum Hinstellen, alte und neue Sekundärliteratur. Wer das ganze Brimborium nicht offensiv ignorieren will, tut gut daran, sich beizeiten mit Kenntnissen und Argumenten zu wappnen.
Dabei hilft Willi Jaspers Buch "Faust und die Deutschen", in dem es um die Ambivalenz von Goethes "Hauptgeschäft" geht: der zweiteiligen Tragödie "Faust", die zum "Nationalkunstwerk" der Deutschen erhoben wurde. Daß dieses zutiefst humanistisch sei und von Militaristen und Nazis lediglich "mißbraucht" wurde, läßt Jasper nicht gelten. Goethes Faust, der trotz seines Paktes mit dem Teufel und seiner Verbrechen am Ende erlöst wird, könne auch als Kontrahent von Lessings Aufklärer Nathan verstanden werden. Goethe ästhetisierte in ihm, was später als "das ominöse deutsche Wesen" ausgegeben wurde: "die Deutschen als ewig gespaltene Nation zwischen Innerlichkeit und Imperialismus, romantischer Dichtung und übersteigertem Nationalismus, zwischen Hölderlin und Hitler, Himmel und Hölle". Was Faust verkörpert, beschreibt Jasper auf vier Buchseiten in einer brillanten Inhaltsangabe beider Teile der Tragödie. Kostprobe: "Der entfesselte Akademiker hat jegliche Skrupel verloren. Er verführt das Mädchen (Gretchen), bringt dessen Bruder durch ein vergiftetes Schlafmittel um und tötet den Bruder Valentin im unehrlichen Kampf. (...) Im zweiten Teil der Tragödie wacht Faust in ,anmutiger Gegend` aus dem heilenden Schlaf des Vergessens mit neuer Kraft auf."
Bei solch polemischer Zuspitzung hört man die Goethe-Enthusiasten aufheulen, zumal Jasper in seinem Prolog über den "Fall Schneider/Schwerte" auf eine historische Analogie hinweist: Auch der SS-Offizier Schneider, mitverantwortlich für Menschenversuche im KZ Dachau, schöpfte nach 1945 neue Kraft aus dem "Schlaf des Vergessens" und machte unter dem Namen Schwerte eine blitzsaubere Karriere als demokratisch gewendeter Literaturwissenschaftler und Hochschulrektor.
Faust und das "deutsche Wesen"
Keine spätere Gestaltung der seit dem 15. Jahrhundert durch die Literatur geisternden Faust-Figur konnte sich gegen Goethes Darstellung durchsetzen. Nach Lessing und Heine versuchte sich auch Bertolt Brecht, dann Hanns Eisler an dem Stoff. Die beiden Letzteren wurden von der SED in die Schranken gewiesen, "da es keine ,Zurücknahme` von Goethes Faust von ,links` her" geben dürfe. Während unter Ulbricht Goethe und mit ihm der "immer strebende" Faust zu Wegbereitern des Sozialismus gemacht wurden, einigte sich die Germanistik der beiden deutschen Staaten später darauf, Goethe zum großen Humanisten zu stilisieren.
Auch dem widerspricht Jasper. Goethe sieht er in der "deutschen Mandarin-Tradition" - als Teil der "elitären Dynastie des Geistes, in der kein Platz für freischwebende Intellektuelle war". Idol des deutschen Bildungsbürgers wurde der Künstler, der zugleich Staatsdiener war - wie Goethe, der über Jahrzehnte die Geschäfte der "aufgeklärten Despotie" von Weimar besorgte. Dagegen stand das Bild des Intellektuellen, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts antisemitisch aufgeladen wurde: Der (jüdische) Intellektuelle ist entwurzelt, unpatriotisch, charakterlos; er spaltet, statt zu harmonisieren.
Der "Dichterfürst" Goethe hat, weniger durch seine Abneigung gegen die Juden als durch seine Selbstinszenierung, diese Frontstellung mitbegründet. Und er hat mit seiner Dichtung dazu beigetragen, daß "das Faustische" als Wesensmerkmal eines deutschen "Nationalcharakters" angenommen werden konnte. Jasper zitiert Heines prophetische Warnung vor dem "deutschen Faust", der die Welt erschüttern werde: "Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die Französische Revolution nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte."
Natürlich führte kein gerader Weg in die Katastrophe, vielmehr bereiteten völkische und antisemitische Ideologen und Politiker den Boden für die totale Vereinnahmung des "Faustischen" im Interesse der NS-Vernichtungspolitik. Wie schon im Ersten Weltkrieg trugen deutsche Soldaten auch im Zweiten den "Tornister-Faust" an die Front, während daheim das Theaterpublikum aufgerufen wurde, "wie Faust kämpferischen Sinnes aus Nacht und Nöten zu einem neuen Morgen aufzubrechen". Görings Generalintendant Gustav Gründgens, der umjubelte Mephisto-Darsteller, unterstützte den Vernichtungskrieg der Wehrmacht, indem er die "Idee des Soldatischen" auf die Bühne brachte.
Gründgens konnte seine Karriere nach 1945 bekanntlich fortsetzen, ebenso wie maßgebliche Größen der nazistischen Germanistik. Faust wurde "entnazifiziert", eine "kritische und selbstkritische Betrachtung der Wirkungsgeschichte der deutschen Klassik" aber, schreibt Jasper, blieb Minderheiten vorbehalten. Die in beiden deutschen Staaten betriebene ",Vergangenheitsbewältigung` durch Reaktivierung des Goethe-Kults" dokumentiere einen "unbelehrbaren Bildungshochmut", der sich heute bei den Propagandisten der "selbstbewußten Nation" in der Klage ausdrücke: "Linke Moral und parasitäre Verleumder der abendländischen Kultur haben den Willen zur Macht zersetzt." Im bevorstehenden "Goethe-Jahr" könnten wir es verstärkt mit dieser aggressiv-nationalistischen Position zu tun bekommen - diese Befürchtung formuliert Jasper in seinem Epilog über "Mephisto und die Wiederkehr des Bösen".
Hier hat der Autor ein bißchen viel zusammengerührt: die Neue Rechte, die Renaissance von Wagner und Jünger, Noltes Geschichtsrevisionismus, Antje Vollmers Plädoyer für "Faustisches" im Deutschunterricht, eine Spiegel-Titelgeschichte über den Teufel, westdeutschen Hochmut gegenüber "desorientierten ostdeutschen Intellektuellen". Das alles faßt Jasper unter dem Oberbegriff "Antiintellektualismus" zusammen, dem er einen "zeitgemäßen faustischen Höhenflug" entgegenstellt: Die "einmalige Chance und Aufgabe" der deutschen Intellektuellen, hier und heute "die Erfahrungen mit zwei verschiedenen Formen des Totalitarismus aufzuarbeiten und für eine europäische Zivilisation fruchtbar zu machen".
Auch wer auf faustische bzw. totalitarismustheoretische Höhenflüge lieber verzichtet, kann Jaspers Buch mit Gewinn lesen. Es ist nicht nur anregend, sondern auch spannend und muß trotz der Vielzahl erwähnter Geistesgrößen auch auf "Halbgebildete" nicht einschüchternd wirken.
Js.
Willi Jasper: Faust und die Deutschen; Rowohlt Berlin Verlag 1998, 304 Seiten, 42 DM