Opfer, Täter, Anstifter
Keine Versöhnung in der Walser-Bubis-Kontroverse
Die Propagandisten deutscher "Normalität" haben es wahrscheinlich gar nicht gemerkt, daß ihre Lieblingszeitung, die FAZ, sie öffentlich Lügen strafte. Oder ist es "normal", wenn die Zeitung für Deutschland ihre Ausgabe vom Montag, dem 14. Dezember, mit der Nachricht aufmacht: "Bubis und Walser haben miteinander gesprochen"? Tatsächlich konnte nur ein deutsches Publikum das Gespräch als das wichtigste Ereignis des Wochenendes ansehen - wichtiger als den Parteitag der Grünen und Clintons Nahost-Reise, Themen, die vom Aufmacher in die Kategorie "was sonst geschah" verdrängt wurden.
Die herausgehobene Plazierung des Artikels diente natürlich auch der Eigenwerbung - nach mehreren gescheiterten Vermittlungsversuchen war es die FAZ-Redaktion, die ein Treffen der Kontrahenten zustande brachte. Es "dauerte annähernd vier Stunden und verlief zunächst in angespannter, dann aber in zunehmend gelöster Atmosphäre"; mit dabei waren Salomon Korn vom Zentralrat der Juden in Deutschland und Frank Schirrmacher, Herausgeber der FAZ. Schirrmacher lieferte auch den Kommentar mit der betont nüchternen Überschrift "Ein Gespräch", geschrieben im Ton nachdenklicher "Ausgewogenheit" und erfüllt von dem Bemühen, Schaden vom deutschen Gemeinwesen zu wenden. Die Brisanz der Kontroverse ist Schirrmacher nur allzu klar. Bubis' Vorwurf, Walsers Friedenspreisrede sei "geistige Brandstiftung", richtete sich de facto nicht nur gegen den Redner, sondern auch gegen die in der Frankfurter Paulskirche versammelten Repräsentanten der deutschen Elite, die ihm zujubelten. Schirrmacher fragt: "War der Applaus eine entlarvende Gesinnungskundgebung? Enttarnte sich hier ein Ressentiment, das tief in den Seelen schlummert? Oder hörte man nicht, was Bubis und andere hörten?"
Daß Bubis den Vorwurf der geistigen Brandstiftung in dem von der FAZ vermittelten Gespräch zurückgenommen hat, entlastet auch die Jubler. Schirrmacher ist erkennbar stolz auf die eigene Rolle, vor allem aber ist er besorgt. Daß "die politische Klasse" zu der Auseinandersetzung "keinen nennenswerten Beitrag geleistet" hat, läßt ihn angesichts der bevorstehenden Entscheidung über das Berliner Holocaust-Mahnmal Schlimmes befürchten: "Keine Regierung stand vor einer vergleichbaren vergangenheitspolitischen Herausforderung wie die gegenwärtige Regierung der Nachgeborenen. Sie wird zu begreifen haben, daß sie wissen muß, was sie will."
Das Volk hat seinen Dichter verstanden
Selbst in der Frankfurter Rundschau wurde das Gespräch zwischen Bubis und Walser als "Versöhnung" mißverstanden; offensichtlich liest man dort das Konkurrenzblatt aus Prinzip nicht. Ein schwerer Fehler - das in der FAZ vom 14.12. auf vollen drei Seiten dokumentierte Wortprotokoll belegt, daß die Standpunkte der Kontrahenten unverändert sind. Walser hat nicht ein Wort zurückgenommen; die mehrfach an ihn herangetragene Sprachregelung, seine Rede sei mißverstanden worden, wies er beleidigt zurück: "Sie müssen mir nicht anbieten, daß ich mißverstanden worden bin, denn das kann ich nicht ertragen als Schriftsteller." Direkt im Anschluß daran geriet er ins Schwärmen: "Ich habe noch nie in diesen Jahren so etwas Volksabstimmungshaftes erlebt" - wie die in den angeblich 1000 Briefen an ihn übermittelte Zustimmung.
Sieben dieser Briefe hat Walser der Welt am Sonntag (6.12.) zur Veröffentlichung übergeben: "Ich fasse es nicht, was Ihnen anläßlich dieser Rede widerfährt", schreibt eine "begeisterte Leserin", "es drängt mich, Ihnen zu danken", eine andere; ein Professor zitiert "Faust" und wütet gegen die den Deutschen "wie eine mittelalterliche Schuldknechtschaft auferlegte Sippenhaft für Ereignisse, die inzwischen zwei Generationen zurückliegen" - ein Zitat, ausgewählt von Walser höchstpersönlich, der gleichzeitig darauf beharrt: "Ich bin nicht mißverstanden worden." Das ist allerdings wirklich nicht mißzuverstehen.
Auch ein zweites Angebot von Bubis und Korn hat Walser in dem FAZ-Gespräch ausgeschlagen: Daß er ungewollt den Rechtsextremen die Stichworte geliefert haben könnte. Walsers Antwort "Für mich existiert die Nationalzeitung nicht" ist vermutlich ernst gemeint - daß dieses Hetzblatt die Einstellungen von 15 Prozent der Deutschen wiedergibt, wie Korn ihm vorhält, glaubt er einfach nicht. Das ist nur konsequent - auch die in Teilen der Bevölkerung verbreitete, mehr oder weniger offene Sympathie für die rassistischen Mordbrenner hat er schon in seiner Paulskirchen-Rede (und davor) als Erfindung abgetan.
Wo der rasende Mob tatsächlich nicht zu übersehen ist (wie im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen), möchte Walser möglichst wenig Aufsehen. Daß Bubis damals sofort nach Rostock gefahren ist, mißbilligt er noch heute: "Jetzt frage ich Sie, als was waren Sie dort?" Auch um zu verhindern, "daß wegen Lichtenhagen Rostock als Stadt verdammt wird", erklärt Bubis. "Ja, aber verstehen Sie, wenn Sie auftauchen, dann ist das sofort zurückgebunden an 1933", beharrt Walser. Er hat nichts gegen Juden, solange sie sich aus den nationalen Angelegenheiten heraushalten, statt durch ihre bloße Anwesenheit an die deutsche "Schande" zu erinnern und so das "sich neu formierende Deutschland" (Augstein) zu verstören - unverwüstlich ist das Stereotyp vom zersetzenden Einfluß der heimatlosen (jüdischen) Intellektuellen und Kritiker, die mit ihrer Maßlosigkeit das gesunde Volksempfinden provozieren. Bubis war gut beraten, den Vorwurf des latenten Antisemitismus gegen Walser nicht zurückzunehmen.
Nachzutragen ist eine besonders gelungene Replik auf Dohnanyis Forderung an die Juden, selbstkritisch zu prüfen, ob sie sich so viel tapferer verhalten hätten als die meisten anderen Deutschen, wenn nach 1933 "nur" die Behinderten, die Homosexuellen oder die Roma in die Vernichtungslager verschleppt worden wären - eine unverhohlene Aufforderung, sich mit Kritik lieber zurückzuhalten. In seiner Laudatio auf den Geschwister-Scholl-Preisträger Saul Friedländer sagte Jan Philipp Reemtsma dazu u.a.: "Niemand kann von einem anderen verlangen, ein Held zu sein. Wohl aber kann von jedem verlangt werden, daß er kein Lump oder Schurke sei." Und weiter: "Das Bild einer nur passiven Bevölkerung zu zeichnen, der es allein an dem Heldenmut gefehlt habe, der im Zweifelsfalle jeder Mehrheit fehlt, ist historisch falsch." Es wirkt nicht nur einschüchternd auf die überlebenden Opfer, sondern auch entlastend für die Mittäter und Zuschauer.
Nach dem Anschlag auf das Grab Heinz Galinskis (vgl. Artikel in dieser ak-Ausgabe) ist gegen Walser und Dohnanyi erneut der Vorwurf der geistigen Brandstiftung erhoben worden. Galinskis Tochter Evelyn Hecht-Galinski nannte die beiden gar "Schreibtischtäter" - mit diesem Wort werden gemeinhin Bürokraten des Völkermordes wie Adolf Eichmann belegt. Das heutige Zusammenspiel "geistiger" und ausführender Täter ist mit Sicherheit komplizierter als zur Zeit des NS-Staates. Zweifellos sind die Propagandisten des "Schlußstrichs" und des "Wegschauens", die den Juden die Instrumentalisierung des Holocaust vorwerfen, für das gesellschaftliche Klima mitverantwortlich. Die jüngst veröffentlichte Forsa-Studie belegt im übrigen, was Walser nicht wahrhaben will: Daß bis zu 20 Prozent der Deutschen den Antisemitismus der Nationalzeitung teilen. (siehe nebenstehenden Artikel)
Schwache Gegenwehr eines "Meinungssoldaten"
Die "Walser-Bubis-Kontroverse" scheint einstweilen beendet. Walser hat sein Ziel erreicht (er selbst behauptet, "etwas ausgelöst" zu haben, "ohne es zu wollen"); Bubis hat, fast ganz auf sich allein gestellt, in einem großen Abwehrkampf eine Position der Humanität verteidigt. (Das gilt unbeschadet der Kritik an einzelnen seiner Aussagen, insbesondere seiner nicht neuen These, es sei "ein Stück Normalität", wenn Antisemiten sich zu ihren Gefühlen bekennen würden.) PolitikerInnen aus der ersten Reihe haben es vorgezogen zu schweigen; aus der zweiten bis dritten Reihe meldeten sich - nach dem Gespräch zwischen Bubis und Walser - Rita Süssmuth (mit einer Zwischenposition der Marke "Walser light"), Hessens Ministerpräsident Hans Eichel (SPD) und der Bündnisgrüne Cem Özdemir, die Bubis gegen den Vorwurf der Intoleranz in Schutz nahmen.
Günter Grass, einer der von Walser nicht namentlich genannten "Meinungssoldaten" mit der "Moralkeule", reagierte erst am 24.12. in einem Interview der Zeitung Die Woche. In Walsers Wunsch, nicht länger mit der deutschen Vergangenheit behelligt zu werden, sieht er "ein privates Bedürfnis", gegen das nichts einzuwenden wäre, "wenn er diesen Privatwunsch nicht veröffentlicht und so - gewollt oder ungewollt - zu einem allgemeinen Verhalten aufgerufen hätte." Immerhin bekräftigte Grass seinen Satz von 1990, für den er von den Nationalisten bis heute zum vaterlandslosen Gesellen gestempelt wird: "Wer gegenwärtig über Deutschland nachdenkt und Antworten auf die deutsche Frage sucht, muß Auschwitz mitdenken." Wenn die "Berliner Republik" an die Tradition des deutschen Zentralismus anknüpfen sollte, will er auch den sich daran anschließenden Satz "wieder hervorkramen": "Der Ort des Schreckens als Beispiel genannt für das bleibende Trauma schließt einen zukünftigen deutschen Einheitsstaat aus." (An anderer Stelle des Interviews wiederholt er seine Ablehnung eines Mahnmals für die Opfer des Holocaust; darauf wird zurückzukommen sein.)
Auf den Spuren von F.J. Strauß
Bedenkt man die Schärfe von Walsers Angriff, der sich auch gegen Grass persönlich richtete (vgl. ak 421), dann ist dessen Replik allzu schwach ausgefallen. Als kritischer Unterstützer der rot-grünen Regierung, inklusive Schröder und Naumann, liegt ihm der Gedanke fern, die Entsorgung der Geschichte könnte in Zukunft noch schneller voranschreiten als unter Kohl. Schröders Ausspruch vom "Selbstbewußtsein einer erwachsenen Nation" nimmt er ungerührt hin; selbst das neue deutsche Auftrumpfen innerhalb der EU findet er "völlig richtig" - "wenn das mit Augenmaß geschieht"!
Abgesehen von der linksradikalen Presse war es Wolfgang Benz, der Leiter des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung, der dem herrschenden Diskurs am vehementesten entgegentrat. Benz sieht in Walser einen Epigonen von Strauß, der fand, "wir Deutschen (hätten) das Recht, von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen, nach allem, was wir geleistet haben". Während Walser als Träger eines "sekundären Antisemitismus" den Juden Auschwitz vorwerfe, formuliere Schröder viel vorsichtiger, wenn er von der deutschen Vergangenheit spreche. Allein, es zählen die Taten, etwa in der Frage der Entschädigung der Zwangsarbeiter. "Sämtliche Anstrengungen Schröders", kritisiert Benz, "gehen in die Richtung, durch die Entschädigungen der Unternehmen an die ehemaligen Zwangsarbeiter das Image der deutschen Industrie zu verbessern. Schröders einziges Kriterium ist die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie und nicht das moralische Empfinden für die gerechte Entschädigung der Opfer. Dieser Konservatismus des Sozialdemokraten Schröder überrascht mich jeden Tag mehr."
Einziger Schönheitsfehler: Das Interview, in dem Benz diese bemerkenswert klaren Worte sprach, stand weder in der Zeit noch im Spiegel, sondern in dem italienischen Wochenmagazin L'Espresso (17.12.). Womit dem "deutschen Ansehen", zumindest in Italien, der verdiente Schaden zugefügt wurde.
Js.