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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 422 / 21.1.1999

Das Steinchen im Schuh der Mächtigen

EZLN feiert in Chiapas den fünften Jahrestag ihres Aufstandes

Das zapatistische Selbstbewußtsein provoziert und verstört - heute wie vor fünf Jahren. Symptomatisch dafür ist ein Vorfall am Rande des jüngsten Treffens zapatistischer Comandantes mit vermittlungsbereiten Parlamentariern der parteiübergreifenden Versöhnungskommission Cocopa. Während die Politiker selbstverständlich im Luxushotel des Platzes untergebracht waren, sollten die maskierten Indios in Schlafsälen mit harten Pritschen und ohne Faxanschluß unterkommen. In einer harschen Erklärung beschwerten sich die Delegierten der Zapatistenguerilla über die "miserable" Unterbringung und bezichtigten die Mitglieder der Kommission des "Rassismus"; diese reagierten ihrerseits empört und drohten, das Treffen wegen "Mangels an Respekt" platzen zu lassen. Was in weiten Teilen der Landespresse hämisch als weiterer Beleg für die vermeintlichen Starallüren der indigenen Comandantes gemeldet wurde, ist auf seine Weise typisch für den zapatistischen Umgang mit der Welt. Eine Art Sturheit, die keine politische Diplomatie, sondern nur das moralische Argument kennt - und darin allerdings kaum schlagbar ist. Deshalb erscheint das Insistieren auf den Vorbedingungen des Dialogs einleuchtend; nicht nur was, sondern vor allem wie geredet wird, ist von Bedeutung. Darum ist es in den vergangenen fünf Jahren vor allem gegangen: um ein gleichberechtigtes, respekt- und würdevolles Miteinander zwischen Verschiedenen.

Das Auftauchen des EZLN und die gleichzeitige Verabschiedung der nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA gelten als Zäsuren, als Hebel, die Mexiko buchstäblich über Nacht in andere Welten katapultiert hätten: je nach Optik vorwärts in die Verheißung der Ersten Welt oder rückwärts in die der zentralamerikanischen Barbarei. Beide Kürzel stehen für die Liberalisierung und Polarisierung des modernen Mexiko, freilich mit entgegengesetztem Vorzeichen: die Radikalisierung des Marktes oder der Gesellschaft, die wirtschaftliche oder die politische Öffnung.

Heute genießen die Zapatistas mit ihrer ebenso eloquenten wie verführerischen Diskurspolitik die weit bessere Publicity als die Freihandelsapologeten. Handelsminister Herminio Blanco, ehemaliger Chefunterhändler bei den NAFTA-Verhandlungen, unterstreicht zwar die "unbestreitbaren" Erfolge des Abkommens: Eine Million Arbeitsplätze seien geschaffen, die Exporte in die USA um 150 Prozent gesteigert und die ausländischen Direktinvestitionen fast verdreifacht worden.

Daß dieser Pseudoboom vor allem im hochkonzentrierten Sektor transnationalisierter Exportbranchen, besonders in den sogenannten Maquiladora-Industrien (Billigstlohnproduktion), stattfindet und weite Teile der nationalen Industrie und die Landwirtschaft unter der Konkurrenz der Importe aus dem Norden fast zusammenbrechen, wird in dieser Erfolgsbilanz diskret verschwiegen. Ebenso wie die Tatsache, daß in Mexiko weder die Erwerbslosigkeit noch die illegale Arbeitsmigration gen Norden gesenkt noch die Löhne erhöht werden konnten.

Ende der Lebenslügen

Das Wirtschaftsabkommen, das von den Zapatistas anfangs noch als "Todesurkunde für die indianischen Völker" bezeichnet wurde, war eher medienwirksamer Anlaß denn eigentlicher Auslöser für den Aufstand. Das komplexe Vertragswerk wurde als Symbol einer fiktiven Erste-Welt-Modernität angegriffen, in der Indigene und andere wettbewerbsschwache Randgruppen nicht einmal mehr als Ausgebeutete vorkommen. Von diesem - geografisch und sozial - äußersten Rand her formulierten die Zapatistas nun einen aus Sicht der Eliten geradezu unverschämt anmutenden Anspruch auf Teilhabe: nicht am NAFTA-Markt oder am Staat der "Institutionalisierten Revolution", sondern an der Gesellschaft. Es ging letztlich nie nur um "Wirtschaft" oder "Soziales", sondern immer um das große Ganze: also um Politik.

- Der unerwartete Auftritt der Guerilla vor fünf Jahren hat vor allem eine Art Kulturschock ausgelöst: Wie eine Seifenblase zerplatzten nicht nur der NAFTA-Traum, sondern auch die Lebenslüge der "mestizaje" (die harmonische Verschmelzung der "Rassen") sowie die Gleichsetzung von Nation und Gesellschaft, von Moderne und Staatsapparat. Zwar ist die zähe Staatspartei PRI (Institutionelle Revolutionäre Partei) trotz einer Reihe von Wahlniederlagen noch lange nicht am Ende. Immerhin aber wird heute, ausgerechnet zu seinem fünfzigsten Jahrestag, schon mal die Schließung des Indianer-Instituts INI, der Zentrale des offiziellen Indigenismus, diskutiert. "Der EZLN hat der staatlichen Vormundschaft über die Indigenen ein Ende gesetzt", sagt der Anthropologe Rodolfo Stavenhagen. Und damit habe er zugleich eine Kehrtwendung "vom Indigenismus zu indigenen Rechten" eingeleitet.

Im Unterschied zu traditionellen Identitätspostulaten ethnischer Bewegungen setzt der EZLN auf eine offene Identitätspolitik, die mit basisdemokratischen Praktiken unlösbar gekoppelt ist. Und das durchaus im Wissen darum, daß Demokratie letztlich inkompatibel mit den - wenn auch stillgelegten - militärischen Strukturen der eigenen Organisation ist. Wie überhaupt die Paradoxie, ebenso wie Poesie, Pathos und der strategische Einsatz von Witz und Selbstironie, ein zentraler Baustein der zapatistischen Mythologie ist.

In der fünften "Deklaration der Selva Lacandona" vom Juli 1998 ruft der EZLN zu einer Volksbefragung über die im Februar 1996 unterzeichneten Abkommen von San Andrés auf. Darin hatten Regierungs- und Rebellenvertreter sich auf eine Reihe von Verfassungsreformen zu indigenen Rechten auf Autonomie und Selbstbestimmung geeinigt - eine entsprechende Umsetzung scheiterte bis heute am Veto des Präsidenten Zedillo. Typisch für den zapatistischen Aberwitz ist dabei vor allem das Vorhaben, nicht weniger als 5.000 zapatistische Delegierte paarweise - immer schön geschlechterparitätisch - in die knapp 2.500 Gemeinden im ganzen Land ausschwärmen zu lassen, um eine flächendeckende und authentische Werbung für die Volksbefragung zu gewährleisten. Ob die Comandantes das derzeitige "Volks"interesse an indigenen Belangen dabei realistisch einschätzen, darf bezweifelt werden. Auch ist die "consulta" an sich kein unproblematisches Medium: die gestellten Fragen sind eher rhetorischer Natur, die nicht so sehr diskutiert als vielmehr abgesegnet werden sollen. Dabei wäre schon der Autonomie-Begriff, auch jenseits des absurden Separatismus-Vorwurfs von offizieller Seite, diskussionswürdig: Wie können die traditionalistischen Fallen der Identitätspolitik, die Verklärung und Versteinerung von "Sitten und Gebräuchen" vermieden werden? Wie können beim althergebrachten Konsensprinzip der Minderheitenschutz und das Recht auf Dissidenz gewährleistet werden? Wie verhalten sich indigene Rechtsprechung und Regierung zu nationalen Institutionen? Soll die autonome Selbstverwaltung auf regionaler oder auf der Mikro-Ebene der Dorfgemeinschaften geschaffen werden?

- Heute erscheinen diese Fragen schon fast wieder luxuriös. Denn wo latenter Krieg herrscht, läßt sich schlecht differenziert debattieren. Erst wenige Tage vor der Fünf-Jahres-Feier wurde im Hochland von Chiapas ein anderer Jahrestag begangen, der an die ganz und gar unglamouröse Seite des zapatistischen Aufstands erinnert: das Massaker von Acteal. Kein tragischer Zwischenfall, sondern kalkulierter und staatlich mindestens - aber vermutlich nicht nur - geduldeter Massenmord an unbewaffneten SympathisantInnen der Zapatistenguerilla. 45 Frauen, Männer und Kinder wurden auf bestialische Weise umgebracht. In Acteal wurde ein Exempel statutiert: Opposition ist und bleibt in rechtsfreien Regionen Mexikos lebensgefährlich. Bis heute ist der Teufelskreis der "impunidad", der Straflosigkeit, nicht nur ungebrochen, sondern hat mit der jüngsten Initiative des Gouverneurs Roberto Albores Guillen noch einen neuen Höhepunkt des Zynismus erreicht: Er schlug allen Ernstes eine Amnestie für "zivile bewaffnete Gruppen" vor - der offizielle Euphemismus für die von staatlichen Stellen und Militärs kräftig unterstützten paramilitärischen Banden. Statt Militär abzuziehen, politische Gefangene freizulassen oder PRI-Funktionäre zu verurteilen, zog die Regierung nahezu alle Register eines Krieges mehr oder weniger niedriger Intensität: hermetische Belagerung und Paramilitarisierung des Konfliktgebiets, militärische Angriffe auf autonome Gemeinden, die Ausweisung internationaler Beobachter und die Attacken gegen die von Bischof Samuel Ruíz geleitete Mittlerkommission Conai, die sich schließlich auflöste. Die vielerorts, besonders nach dem Schrecken von Acteal, dringlich geforderte "Konfliktlösung", "Versöhnung" oder gar "Befriedung" kann es in absehbarer Zeit nicht geben. Denn zu verhandeln gibt es heute weniger denn je. Höchstens politisch zu erobern.

Widerstand
aus der Defensive

Daß der EZLN sich insgesamt in der Defensive befindet, ist unbestreitbar. Aus dieser Defensive heraus aber hat die Organisation eine beeindruckende, flexible Widerständigkeit entwickelt. Daß sie, ohne jede militärische Trumpfkarte und ohne Gesichtsverlust, fast 2.000 Tage nach ihrer kamikazehaften Erhebung politisch und physisch noch lebt, ist schon eine Art Sieg. Zwar kommt die Macht diesmal gerade nicht aus den Gewehrläufen, sondern aus der Computertastatur - und der öffentlichen Resonanz auf das darauf Verfaßte. Obsolet aber sind die Waffen nicht geworden. Die Gewehre, so EZLN-Subcomandante Marcos kurz vor dem fünften Jahrestag in einem Interview, seien "die Grundlage dafür, daß wir überhaupt eine Präsenz haben". Diese Präsenz ist heute widersprüchlicher und komplexer als vor fünf Jahren: So verheddert sich die Zapatistenguerilla nur allzu oft in wuchtigem Nationalismus, Ethno-Kitsch und internationalistischer Rhetorik, zwischen martialischen Slogans, Märtyrer-Diskursen und antiautoritärer Subversion, zwischen dem Credo der Pluralität und sektiererischen Sprengseln. Und sie tendiert zweifellos dazu, die Opferbereitschaft und Geduld von Basis und Anhängern zu überschätzen. Aber es ist eben auch ein ehrgeiziges Unterfangen. "Wir haben uns nicht für Almosen oder Kredite erhoben", stellte die Stimme des Subcomandante in La Realidad, einem kleinen Dschungeldorf, anläßlich der Fünf-Jahres-Feier noch einmal klar, "wir wollen nicht die Kontrolle über ein Territorium oder die Abspaltung von Mexiko." Sondern lediglich: Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit. Daraus ist in den vergangenen fünf Jahren über den Zauber der Rebellion, eine diffuse Graswurzel-Orientierung und über die Mobilisierung indigener Gruppen hinaus noch kein Programm oder Projekt gewachsen, das sich im politischen Wettbewerb sehen lassen und behaupten könnte. Aber gerade deshalb ist zu hoffen, daß die weltweite Faszination und Sympathie für das Narrenschiff im lacandonischen Regenwald sich als Schutzgürtel um die paar tausend schlecht bewaffneten Indigenen auch die nächsten Jahre noch bewährt. Damit Marcos alias "Speedy Gonzalez", wie er Mitte letzten Jahres in einem seiner bizarren Kurz-Communiqués zum Besten gab, auch weiterhin ein "Steinchen im Schuh von Zedillo" sein kann. Normalerweise wird so ein unbequemer Stein ja schnell entfernt. Das allerdings ist dem Regime in fünf langen Jahren nicht gelungen. Irgendwann, so lautet offenbar das zapatistische Kalkül, entzünden sich dann die Füße, der Schuhträger kommt aus dem Tritt und kippt schließlich ganz aus den Latschen. Auch das ist bislang ausgeblieben. Der mexikanische Staatsapparat schreitet mittlerweile tatsächlich nicht mehr ganz so stolz daher. Jüngstes Symptom dafür ist die Minimeuterei im Herzen der mexikanischen Armee, die Mitte Dezember die Öffentlichkeit überraschte. Fünfzig zum Teil hochstehende Militärs marschierten in Mexiko-Stadt für die Wiedergewinnung ihrer "Würde" und gegen die "Korruption" der Politiker - gegenüber der Presse äußerte deren Sprecher, daß er sich dabei von Marcos und den "indianischen Brüdern" inspiriert fühle.

Anne Huffschmid

Dieser Artikel erschien zuerst in der WoZ (Die Wochenzeitung, Zürich) am 07.01.1999.