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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 423 / 18.2.1999

Aus gegebenem Anlaß:

Eine Lanze für Jelzin

Nun haben es wieder einmal fast alle gewußt! Boris Jelzin muß nicht nur gehen, er hätte schon lange gehen müssen, mehr noch, er hätte gar nicht erst antreten dürfen. Jelzin verhindert echte Reformen in Rußland!

Kaum einer der Kritiker und Kritikerinnen versucht überhaupt zu erklären, was "echte Reformen" sein könnten - wenn es denn nicht der abgetrage Hut des Liberalismus sein soll, den man Rußland in den letzten Jahren versuchte überzustülpen. Die öffentliche Kritik geht so haarscharf an der Realität vorbei wie seinerzeit der frenetische Applaus aus denselben Reihen für Jelzins sogenannte demokratische Revolution.

So wenig nämlich die Revolution des Boris Jelzin 1991 eine demokratische war, so wenig ist das, was sich jetzt in Rußland abspielt, mit einfachen Slogans wie "Voran in die Vergangenheit", "Rückkehr des Kommunismus", "Rußland auf dem Weg in die Restauration" usw. zu erfassen.

Man muß Jelzins Reformen nicht verteidigen, um zu begreifen, welche Funktion er hatte und welche er jetzt noch haben kann: Jelzin war - allem Anschein, ein überstarker Präsident zu sein, zum Trotz - der Vollstrecker der von Gorbatschow eingeleiteten Entstaatlichung des früheren sowjetischen Einheitsraumes. Drei Schritte unternahm er, die Gorbatschow noch nicht gewagt hatte: Er kündigte das staatliche Produktions- und Preismonopol, er löste die Einheit der Union auf, und er diktierte der russischen Föderation eine neue Verfassung. Darin wurden vor allem die Rechte der Regionen neu definiert.

Im Ergebnis entwickelte sich jener autoritäre Liberalismus, der sich den Begriffen westlicher Politikwissenschaft ebenso entzieht wie die zu ihm gehörende Form der Beziehungswirtschaft. Nicht Markt, nicht Kommandowirtschaft, nicht Demokratie, aber auch nicht Diktatur - vielmehr entwickelte sich ein vieldeutiger und in sich widersprüchlicher gesellschaftlicher Hybride.

Die Funktion Boris Jelzins bestand darin, aller anfänglichen Radikalität zum Trotz, diesen Schwebezustand zu halten. Als über allen schwebender Richter ermöglichte er auf diese Weise den Übergang vom sozialistischen Einheitsmodell in die Realität divergierender Interessen und Entwicklungsgeschwindigkeiten des nachsowjetischen Raumes.

Dies gilt, auch wenn Jelzin diese Rolle letztlich nicht freiwillig übernahm, sondern nach dem Scheitern seiner eigenen Illusionen vom schnellen Übergang zum freien Markt durch die Trägheit der in Bewegung zu bringenden materiellen und gesellschaftlichen Gesamtverhältnisse Rußlands und seiner nachsowjetischen Umwelt dazu gezwungen wurde.

Mehr noch, Korrekturen seines eigenen Kurses, die Jelzin zulassen mußte, ließen seine Rolle als Erhalter des Schwebezustands überhaupt erst richtig hervortreten. Zu diesen Korrekturen gehören der Übergang von Jegor Gaidar auf den "bedächtigeren" Viktor Tschernomyrdin oder die Beendigung des Krieges in Tschetschenien durch den zur Vermittlung nicht nur entschlossenen, sondern kraft seiner Beziehungen im einschlägigen Milieu auch fähigen General Alexander Lebed.

Wer heute über Jelzins gescheiterte Reformen klagt, beweist damit nur, daß er oder sie nicht verstanden hat, daß das 1991 formulierte Reformprogramm von Anfang an illusionär war. Nicht illusionär war seine Funktion als Liquidator sowjetischer Staatlichkeit. Gerade indem er die Einheit der Union opferte, die russische Föderation unter ein autoritäres Präsidialregime stellte, das auf wirtschaftlichen Zugeständnissen im Innern aufbaute, schuf er die Voraussetzungen für die allmähliche Aufteilung des sowjetischen Kuchens. Insbesondere die Regionen konnten sich so herausbilden. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß die Regionen sich sehr ungleichmäßig entwickeln.

Recht besehen, besteht die Leistung Boris Jelzins ohnehin nicht in dem, was er gemacht, sondern in dem, was er nicht gemacht hat: Er hat das Schockprogramm nicht durchgezogen wie angekündigt, sondern den Weg für die Entstehung einer gemischten Wirtschaft bereitet. Er hat Rußland nicht vollkommen vom alten sowjetischen Zusammenhang abgekoppelt, aber auch nicht gewaltsam rekolonisiert. Er hat den Krieg in Tschetschenien zwar beginnen lassen, sich dessen Beendigung aber nicht widersetzt.

Während der Krise des Sommers 1998 ließ Jelzin keinen Befehl zur Niederschlagung der Bergarbeiterrevolten im Kemerowo geben; er ließ das Lager der Besetzer vor dem Weißen Haus in Moskau nicht räumen und zog auch die Gouverneure, allen voran den Gouverneur von Kemerowo, Tulejew, der sich schützend vor die lokalen Proteste stellte, nicht zur Verantwortung. Moskau ging geschwächt, die Regionen gingen gestärkt aus der Krise hervor.

Damit ist eine neue Phase der Entwicklung in Rußland eingeleitet. Jelzins Funktion als Schiedsrichter reduziert sich. Aber weit entfernt davon, überflüssig zu sein, kommt dem Alten, gesund oder nicht, im Vorfeld der bevorstehenden Präsidentenwahl im Jahr 2000 eine äußerst wichtige Funktion zu, nämlich: den ersten legalen Machtwechsel im neuen Rußland zu ermöglichen.

Gelingt der legale Übergang, so ist das ein Schritt auf dem langen Weg zu einer Konsolidierung für eine Zeit nach Jelzin. Es wäre nicht gleich Demokratie nach unserem Verständnis, die so entstünde, aber immerhin eine durch Wahl bestätigte Legitimierung der Macht. Für Rußland, das bisher nur von oben vollzogene oder gewaltsame Wechsel der Macht kennt, wäre das ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu einem anderen Staatsverständnis.

Gelingt es nicht, droht die Gefahr, daß Rußland sich in Diadochenkämpfen zerfetzt. Diese würden die ungeklärten sozialen, regionalen und nationalen Differenzen verschärfen, statt sie zu lösen. Da bleibt einem nur, dem alternden Präsidenten das Beste für seine Gesundheit zu wünschen.

Kai Ehlers