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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 423 / 18.2.1999

Süchtig nach Leben

Ein Buch für eine tabufreie Drogendiskussion

Irene Stratenwerth ist Journalistin, Michael Alex Psychologe und Jurist. Beide sind in der niedrigschwelligen Drogenhilfeeinrichtung "Palette" in Hamburg tätig, als Vorstandsmitglied die eine, als Geschäftsführer der andere. Und beide haben ein Buch herausgegeben, das im gegenwärtigen gesellschaftlichen Klima aus dem Rahmen fällt: "Himmel und Hölle. Unerhörte Ansichten über verbotene Süchte"

Wenige Bereiche der sozialen Realität sind heutzutage so tabuisiert und gleichzeitig dämonisiert wie der Konsum illegalisierter Drogen. Während "der Drogenhändler" zum Staatsfeind Nummer 1 avanciert, gelten DrogenkonsumentInnen als "Kranke" (allerdings eher im Sinne von Aussätzigen), die mit dem Ziel der Abstinenz therapiert werden müssen. Daß diese gesellschaftliche Wahrnehmung vor Doppelmoral trieft, zeigen etwa die offene Akzeptanz von Alkohol und Alkoholhandel und die stillschweigende Akzeptanz des Tablettenkonsums. Im "Krieg gegen Drogen" wird verschwiegen, daß es in dieser Gesellschaft sowohl toleriertes, ja gewünschtes Suchtverhalten (z.B. workoholics) als auch tolerierten Drogenkonsum gibt.

Die von Stratenwerth und Alex zusammengestellten Beiträge sind im doppelten Sinne "unerhört"; es sind selten erzählte wie auch provozierende Sichtweisen aus der Welt derjenigen, die mit Opiaten oder Kokain leben. Die hier zusammengetragenen Geschichten und Berichte erzählen von Menschen, die nicht nur in ihrer Sucht überleben. Es sind Geschichten von Menschen, die mal durchaus selbstbewußt und souverän, andere Male verzweifelt, um befriedigende Lebensentwürfe ringen, mal kämpferisch und mal passiv Bedürfnisse, Wünsche und Hoffnungen artikulieren. Und von keiner der in diesem Buch auftauchenden Personen kann mit Sicherheit gesagt werden, daß ihr Leben ohne Droge besser oder schöner (gewesen) wäre.

"Himmel und Hölle" ist eine Sammlung von Bruchstücken, von Facetten. In autobiographischen Skizzen von Drogenabhängigen aus den 20er und 30er Jahren bis in die Gegenwart, journalistischen Berichten über die frühere und die gegenwärtige "Szene", Essays, Interviews, Gedichte und Erzählungen wird ein breites Spektrum unterschiedlichster Aspekte des Lebens mit der Sucht dargestellt: die Tortur des kalten Entzugs oder der Beschaffung, Aspekte der Politischen Ökonomie der Sucht, die Geschichte des Heroins vom Hustensaft zur "Teufelsdroge", Drogenhandel, die Auswirkung auf die Familien, Freunde/Freundinnen, Kinder, Sozialarbeit etc. So bruchstückhaft und facettenreich wie die Darstellungsformen sind die präsentierten Wahrheiten und Ansichten: eher Ausschnitte und Mosaiksteinchen als ein geschlossenes Bild.

"Himmel und Hölle" ist ein etwas irreführender Titel. Kein einziger Bericht schildert das Leben mit Opiaten oder Kokain als "Himmel". In den meisten Darstellungen in diesem Buch erscheint der Konsum als Ausdruck eines Leidens bzw. einer Verzweiflung an der gesellschaftlichen Realität: als Flucht, Betäubung oder Versuch, sich das eigene Leben einigermaßen erträglich zu gestalten. In einem gewissen Gegensatz zur Morphium- und Heroinabhängigkeit steht der Konsum von Kokain, der anderen in diesem Buch erwähnten Droge. Sie putscht auf, macht hektisch, aggressiv, aber auch "cool". "Kokain paßt in den Trend der Neunziger Jahre. Wir sollen alle Leistung bringen und Spaß haben", zitiert Irene Stratenwerth einen Hamburger Drogenfahnder. Dabei ist Kokain keineswegs nur die Droge der Boheme, der Yuppies und der Broker, sie hat sich mittlerweile auch in der offenen (Heroin-)Szene etabliert.

Mit Ausnahme des Kokain- und Crackkonsums (etwa in der erschütternden Darstellung Konstantin Weckers) ist die "Hölle", die in diesem Buch dargestellt wird, nicht der Drogenkonsum an sich. In erster Linie ist es die notwendige Befriedigung einer Sucht, die kriminalisiert ist, die das Leben mit illegalisierten Drogen zur Hölle macht. Die Drogensucht selbst macht die KonsumentInnen nicht kranker oder gesünder als "normale" Süchtige. Gerade in den drei Texten zum Thema "Kinder von Drogenabhängigen" wird sehr eindrücklich beschrieben, daß unter einigermaßen stabilisierten Konsumbedingungen, etwa im Rahmen einer Methadonsubstitution, ein Leben mit der Droge keineswegs eines der Verelendung und der psychischen Zerrüttung ohne soziale Bindungen und ohne Verantwortungsgefühl ist.

In seiner gesamten bruchstückhaften Darstellungsweise erscheinen DrogenkonsumentInnen in diesem Buch nie als "kranke Opfer"; auch in den schlimmsten Momenten und Situationen, wo jeder Gedanke nur um den nächsten Druck kreist, sind sie handelnde und reflektierende Subjekte. Damit erscheinen Drogensucht und Drogenkonsum durchgängig als ein Reflex auf unbefriedigende gesellschaftliche Verhältnisse und nie als ein medizinisches oder psychologisches Problem. Dies ist eine große Stärke des Buches, denn die mittlerweile weit verbreitete Sprachregelung von den "Drogen- oder Suchtkranken" mag zwar zu einer gesellschaftlichen Akzeptanz von Drogenhilfemaßnahmen geführt haben, sie führt aber gleichzeitig dazu, daß über den gesellschaftlichen Zusammenhang von Sucht und Drogenkonsum nicht mehr gesprochen wird. Sucht und Suchtverhalten wird zu einem reinen Problem der Medizin erklärt.

DrogenkonsumentInnen sind allerhöchstens in dem Sinne krank, wie jeder vernünftige Mensch in der kapitalistischen Gesellschaft krank ist oder krank sein sollte: In dem Sinne, daß er/sie an den auferlegten Normen leidet, keine befriedigenden Lebensentwürfe für sich sieht, den Hunger nach Leben, Abenteuer, Grenzüberschreitung nicht ausleben kann, schlechter verdrängt oder "alles im Kopf nicht mehr aushält". Das bedeutet im Umkehrschluß aber auch, daß Drogenfreiheit/Abstinenz kein Zeichen für "Gesundheit" ist. Das wäre nur dann der Fall, wenn "Gesundheit" mit sozialer Unauffälligkeit, Anpassung an die herrschenden (Leistungs-)Normen und "reibungsloser Funktionsfähigkeit" gleichgesetzt wird.

Einer der letzten Beiträge in "Himmel und Hölle" stammt von Henning Schmidt-Semisch und ist ein Plädoyer für das Berufsbild des "Drogenfachhändlers". Während der herrschende Diskurs zwar von "akzeptierender Drogenhilfe" spricht, gleichzeitig aber den Drogenhändler dämonisiert, fordert Schmidt-Semisch eine Versachlichung der Diskussion. Er spricht einfache, aber eminent provokative Wahrheiten aus: Jede/r DrogenkonsumentIn braucht ihren/seinen Händler, der zudem faktisch in der Szene eine enorm wichtige soziale Funktion spielen kann. Entsprechend argumentiert Schmidt-Semisch für einen sozial verantwortlichen Drogenhandel mit überprüfbaren Qualitätsstandards. Natürlich zielt eine solche Debatte nicht nur auf weniger Doppelmoral in der Drogenhilfepolitik sondern auch auf einer allgemeine Entkriminalisierung des Drogenkonsums. Dies ist die einzig vernünftige Antwort auf Verelendung und gesundheitliche Risiken in Folge unkalkulierbarer Stoffqualität oder gehetztem Konsum.

Allerdings: So wenig Drogenabhängige durch Abstinenz "gesund" werden, so wenig beseitigt die Entkriminalisierung des Konsums das Leiden, das Menschen in Suchtverhalten treibt und die Probleme, die sich aus individuellem Suchtverhalten ergeben. Die gesellschaftlichen Zustände, die Menschen dazu bringen, ihre Wünsche und Bedürfnisse im entfremdeten Ausdruck einer Sucht auszuleben, zu kanalisieren oder zu betäuben bzw. die das Sehnen zu einer Sehnsucht machen, werden durch ein Ende der Drogenprohibition nicht beseitigt. Das notwendige Ringen um eine kontrollierte Drogenfreigabe und eine Enttabuisierung von Drogenkonsum und -handel kann daher die Kritik an einer quälenden gesellschaftlichen Realität nicht ersetzen.

dk.

Irene Stratenwerth/Michael Alex (Hg.): "Himmel und Hölle. Unerhörte Ansichten über verbotene Süchte", Paranus-Verlag, Neumünster 1998, 248 Seiten, 29,80 DM