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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 424 / 18.3.1999

Atomare Erstschlagsbande feiert

Bomben und Sektkorken zum 50. Geburtstag der Nato

Am 24 und 25. April steigt in Washington eine große Jubelfeier aus Anlaß des 50. Jahrestages der Gründung der NATO. Die hohen Herren aus allen NATO-Staaten werden ihren Pakt als das "erfolgreichste Bündnis der Geschichte" abfeiern. In der Tat: Die NATO hat in der Ost-West-Blockkonfrontation, in deren Kontext sie im April 1949 gegründet worden war, den Sieg davongetragen: Ihr Gegenstück, die Warschauer Vertragsorganisation (WVO - von westlicher Seite auch abwertend "Warschauer Pakt" genannt), ist ebenso zusammengebrochen wie deren Führungsmacht, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR). Im 50. Jahr ihres Bestehens steht die NATO daher als die militärisch mit weitem Abstand stärkste Macht der Welt da; es gibt keinen anderen Akteur im internationalen System, der auch nur den Hauch einer Chance hätte, in einer militärischen Auseinandersetzung mit der NATO zu bestehen. Die NATO-Führungsmacht USA ist die einzige weltweit militärisch interventionsfähige Supermacht.

Ursprünglich gegründet als Instrument in der Konfrontation mit dem Lager des sog. realexistierenden Sozialismus, hat die NATO dessen Ableben keineswegs zum Anlaß genommen, sich nun ihrerseits aufzulösen, weil sich ihr vorgeblicher Daseinszweck, also "Verteidigung" des "freien Westens" gegen den "Ostblock", erledigt hatte. Damit brach zwar die ganze Legitimationsideologie der NATO zusammen - und es brachen die Hoffnungen zahlreicher Friedensfreunde zusammen, die dieser Ideologie aufgesessen waren und gedacht hatten, daß sich nach Auflösung von WVO und UdSSR auch die NATO auflösen würde. Aber die NATO-Oberen waren fest entschlossen, an ihrem Militärpakt festzuhalten. Nach einer kurzen schwierigen Übergangszeit hatte die NATO neue Aufgaben und neue Legitimationen gefunden: Die alte war zur "neuen NATO" transformiert. Diese "neue NATO" nun ist es, die sich Ende April in Washington selbst feiern und sich bei dieser Gelegenheit auch eine neue Strategie zulegen wird. Auf die Grundzüge der neuen Strategie, wie sie sich am Vorabend des Jubel-Gipfels herauskristallisieren, soll im folgenden eingegangen werden. Es wird sich zeigen: 50 Jahre NATO sind ein Grund zum Feiern für die NATO-Oberen. Für Frieden, Friedenspolitik und Friedensbewegte dagegen sieht es düster aus.

"Verteidigung" von Interessen

Knapp zusammengefaßt geht es bei der neuen NATO-Strategie um folgendes: Die NATO soll die Fähigkeiten erhalten, die Interessen ihrer Mitglieder auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen, wann immer und wo immer das geboten erscheint. Zu diesem Zwecke sollen die militärischen Instrumente in Richtung Interventionsfähigkeit optimiert werden. Das heißt: Aufbau hochmoderner, zu weitreichender militärischer "Machtprojektion" fähiger, rasch und flexibel einsetzbarer Streitkräfte. Solchen "Krisenreaktionskräften" oder "Schnelleingreifkräften" gehört die militärische Zukunft. Der Umbau und die Umrüstung der NATO-Streitkräfte in diesem Sinne ist zwar schon seit ein paar Jahren im Gange, erhält mit der jetzt abzusegnenden neuen Strategie aber seine endgültige Form und Basis. Und das schafft dann tatsächlich eine "neue NATO".

Man erinnere sich: Die "alte" NATO sollte zur "Verteidigung" der Territorien ihrer Mitglieder dienen; ihr militärischer Aktionsradius war geographisch gemäß Nordatlantik-Vertrag klar eingegrenzt: auf das Gebiet nördlich vom Wendekreis des Krebses. Außerhalb des NATO-Vertragsgebietes - "out of area" - durfte und wollte die NATO militärisch nicht eingreifen. Solche "non article 5 missions" (im Artikel 5 des NATO-Vertrags ist der militärische Beistand geregelt), die zu Zeiten der Ost-West-Konfrontation undenkbar waren, sollen für die neue NATO nun aber Hauptzweck werden.

An diese "out of area"-Interventionen hat sich die NATO Stück für Stück herangepirscht. Man hat nämlich zunächst die NATO als "Dienstleister" der KSZE/OSZE und den Vereinten Nationen für "friedenserhaltende Aktivitäten" - auch und gerade "out of area" - angeboten. Im Juni 1992 erklärte die NATO ihre Bereitschaft, "von Fall zu Fall, in Übereinstimmung mit unseren eigenen Verfahren, friedenserhaltende Aktivitäten unter der Verantwortung der KSZE (der heutigen OSZE - Vo) ... zu unterstützen" (Kommunique vom 4. Juni 1992). Im Dezember 1992 wurde dasselbe Angebot den Vereinten Nationen unterbreitet: "Wir bekräftigen heute die Bereitschaft unserer Allianz, von Fall zu Fall und in Übereinstimmung mit unseren eigenen Verfahren friedenserhaltende Operationen unter der Autorität des VN-Sicherheitsrates zu unterstützen ... Wir sind bereit, positiv auf Initiativen zu reagieren, die der Generalsekretär der VN ergreifen könnte, die Allianz um Unterstützung bei der Umsetzung von Resolutionen des VN-Sicherheitsrates zu ersuchen" (Kommunique vom 17. Dezember 1992). Was so vorsichtig und zurückhaltend formuliert begonnen hatte, wurde dann in den Folgejahren - insbesondere angesichts der Krisen und Kriege im ehemaligen Jugoslawien - zu "normaler" NATO-Praxis.

Mit der neuen Strategie nun soll ein weiterer qualitativer Sprung nach vorn getan werden: Die Bindung der "friedenserhaltenden" oder "friedenssichernden" oder "friedensunterstützenden" Aktivitäten (alles Synonyme für militärische Intervention) an ein Mandat von OSZE oder UNO soll fallen. In der OSZE oder im UN-Sicherheitsrat könnte eine von der NATO gewollte Militäraktion durch das Veto des einen oder anderen Nicht-NATO-Mitglieds (an erster Stelle ist hier selbstverständlich Rußland zu nennen, aber auch die VR China als Sicherheitsratsmitglied) verhindert werden. Diese Beschränkung will man nicht länger akzeptieren. "Selbstmandatierung" soll daher an die Stelle eines UN- oder OSZE-Mandats treten. "Selbstmandatierung" heißt dabei nichts anderes, als daß man selber sich das Recht zum Kriegführen herausnimmt. Das ist unter völkerrechtlichen Gesichtspunkten ein Rückfall ins letzte Jahrhundert. Die UN-Charta verbietet das Kriegführen, läßt lediglich militärische Selbstverteidigung einzelner Staaten oder Staatenbünde (aber auch das nur solange, bis der UN-Sicherheitsrat friedenserhaltende Maßnahmen ergreift!) und militärische Sanktionen der UN oder einer ihrer Unterorganisationen zu. "Selbstmandatierung" bedeutet also Bruch des Völkerrechts. Im Falle Kosovo praktiziert die NATO genau dies. Man kann jede Wette darauf abschließen, daß die NATO-Staaten lauthals "Bruch des Völkerrechts" schreien würden, wenn sich andere Mächte (etwa Rußland oder die VR China) in ihrem jeweiligen Einflußbereich des Instruments "Selbstmandatierung" bedienen würden, um ihrerseits militärische "friedenserhaltende Aktivitäten" zu begründen.

Nun wird auch in der neuen NATO-Strategie die "Selbstmandatierung" (wenn sie überhaupt explizit erwähnt werden wird) nur für den alleräußersten Einzelfall vorgesehen werden, "in der Regel" wird man sich weiterhin um ein Mandat von UNO oder OSZE bemühen. Die letzten Jahre haben allerdings gezeigt, daß sich "Einzelfälle" ziemlich häufen können... Ferner ist darauf hinzuweisen, daß auch ein UN- oder OSZE-Mandat die Sache nicht besser macht. Auch in einem solchen Falle würde die NATO selbstverständlich nur dann aktiv, wenn es ihre Interessen geboten erscheinen lassen, und sie würde sich in den konkreten Ablauf der militärischen Operationen selbstverständlich nicht hineinreden lassen, Kommando und Kontrolle blieben ganz und gar in ihren Händen. Daran seien alle jene erinnert, die gegen die "Selbstmandatierung" als "friedenspolitische" Gegenposition vertreten: Intervention nur mit UN- oder OSZE-Mandat. Dies ist gegenwärtig die Haltung z.B. der rotgrünen Bundesregierung (die es sicher als grandiosen "friedenspolitischen Erfolg" verkaufen wird, wenn diese Auffassung in der neuen NATO-Strategie niedergelegt würde und Interventionen ohne Mandat nur für den aller alleräußersten Ausnahmefall vorgesehen würden). Es ist schon merkwürdig: Das, was man 1992 als neuen Militarisierungsschritt geißelte - daß die NATO UN- oder KSZE-mandatiert "out of area" intervenieren (können) wollte - wird heute als friedenspolitisch korrekt und erwünscht dargestellt und - positiv gewertet - gegen die nun "wirklich schlimme" "Selbstmandatierung" gehalten. Und schließlich: Die Erfahrung zeigt, daß die NATO (und einzelne NATO-Staaten) auch ohne UN- oder OSZE-Mandat militärisch intervenieren, selbst wenn das nicht in der neuen Strategie explizit so gesagt werden würde. Die Umorientierung von der "Verteidigung des Territoriums" (alte NATO) auf "Verteidigung von Interessen" (neue NATO) ist gelaufen.

Diese Umorientierung erfordert neue militärische Mittel. Die panzerlastigen Massenheere der alten NATO, die auf die große militärische Auseinandersetzung mit dem gegnerischen Militärblock auf dem europäischen Kriegstheater ausgelegt waren, sind angesichts der Aufgaben der neuen NATO weitgehend dysfunktional. Sie werden daher abgebaut. Der Öffentlichkeit verkauft man das als "Abrüstung", faktisch entledigt man sich unbrauchbar gewordenen Schrotts. Und gleichzeitig steckt man viel Geld und Energie in den Aufbau kleiner, aber feiner high-tech Streitkräfte, die hochmobil und flexibel einsetzbar zu erfolgreicher militärischer Intervention "out of area" fähig sind. Besonders in modernste Kommunikations-, Aufklärungs- und Führungssysteme wird man in Zukunft investieren. Die Bundeswehr soll dabei selbstverständlich mittun. "Die Neuausrichtung der NATO und die Neuausrichtung der Bundeswehr müssen in Einklang stehen" - so Verteidigungsminister Scharping. Eine modernisierte Bundeswehr wird das Schwergewicht auf die Krisenreaktionskräfte legen, während die für die "Landesverteidigung" vorgesehenen Hauptverteidigungskräfte abgespeckt werden. In diesem Kontext ist eine weitere Verkürzung oder gar die Aussetzung der Wehrpflicht drin. Denn für die Bewältigung der neuen Interventions-Aufgaben braucht man nicht Quantität, sondern Qualität, d.h. kleine Einheiten hochmodern ausgerüsteter Profis. Die Option "Verteidigung des Territoriums", die während des Ost-West-Konflikts eindeutig dominierte und Strategie und Rüstungsentscheidungen bestimmte, ist nunmehr nur noch von nachrangiger Bedeutung (weil man beim besten bzw. bösesten Willen eine konkrete militärische Bedrohung der NATO-Länder nicht glaubhaft machen kann). Entsprechend stiefmütterlich werden die zur "Landesverteidigung" bestimmten Hauptverteidigungskräfte behandelt. Primat genießt nunmehr die Option "Verteidigung von Interessen", d.h. militärische Intervention(sfähigkeit); und entsprechend werden die Interventionskräfte gehätschelt.

Dabei wird der geographische Raum allfälliger Interventionen weiterhin begrenzt sein. Die Rede von einer global, also weltweit, interventionsfähigen und -willigen NATO ist übertrieben. Auch die USA, denen unterstellt wird, sie strebten eine solche globale Interventionsfähigkeit der NATO an, haben im Ernst kein Interesse, die NATO (und damit die europäischen NATO-"Partner", zu denen es ja durchaus auch Widersprüche gibt, s.u.) plötzlich in ihren "Hinterhöfen" in Mittel- oder Lateinamerika oder im pazifischen Raum auftauchen zu sehen. Faktisch werden es die in der Alten Welt süd(öst)lich an das NATO-Vertragsgebiet angrenzenden Regionen sein, die die "neue NATO" zum Interventionsgebiet machen wird: der Balkan, Afrika, der Nahe und Mittlere Osten. Hohe NATO-Militärs und -Politiker faseln seit geraumer Zeit mit Vorliebe vom "Krisenbogen von Marokko bis zum Indischen Ozean" oder ähnlichem. In diesem "Krisenbogen" werden sich die NATO-Interventionstruppen künftig tummeln. Man beachte also auch in diesem Punkte: Wenn in der neuen Strategie der NATO nicht von "globaler" Verantwortung die Rede sein wird, sondern - explizit oder implizit - "nur" von den an Europa grenzenden Regionen, so ist das kein "friedenspolitischer Erfolg"; als solchen - so ist zu erwarten - werden Rotgrüne es darstellen: Man habe die "schlimmen" globalen Interventionsansinnen der stiernackigen Amerikaner erfolgreich zurückgewiesen.

Die Nuklearfrage

Ein entsprechendes Argumentationsmuster deutet sich auch in der Nuklearfrage an. "Unser" Außenminister Joschka Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) hat ja wie bekannt im Dezember 1998 einen äußerst mutigen Vorstoß gemacht, indem er äußerte, die nukleare Ersteinsatzdoktrin der NATO solle zur Diskussion gestellt werden. Während die Kanadier derselben Meinung waren (und sind), wiesen die Repräsentanten der nuklearen Supermacht USA dieses Ansinnen zurück. Sie wollen über die Nukleardoktrin der NATO nicht diskutieren. Für sie ist klar: Nuklearwaffen bleiben als Abschreckungsmittel unverzichtbar. Dienten sie zu Zeiten der Blockkonfrontation offizieller Lesart gemäß dazu, als "politische Waffen" ein "Gleichgewicht des Schreckens" aufrecht zu erhalten, so sollen sie nunmehr als Mittel der sog. counter-proliferation eingesetzt werden, d.h. gegen "Schurkenstaaten" oder "Terroristen", die über Massenvernichtungsmittel verfügen. Denen müsse glaubwürdig mit dem Einsatz von Nuklearwaffen gedroht werden können, um sie von ihren schändlichen Vorhaben abzubringen. D.h., der Nukleareinsatz wird nicht nur gegen andere Nuklearmächte angedroht, sondern auch gegen Staaten oder sub-staatliche Akteure, die über biologische oder chemische Waffen verfügen (oder die Verfügung hierüber anstreben). Um die zur Räson zu bringen, müsse man sich auch den Ersteinsatz von Nuklearwaffen vorbehalten.

Mittlerweile ist die rotgrüne Regierung in der Ersteinsatzfrage ja bereits zurückgerudert, wünscht man doch nur noch, innerhalb der NATO eine hochrangige "Task Force" einzusetzen, die eine breite Palette von Fragen der nuklearen Komponente des Bündnisses diskutieren soll. Mag sein, daß die USA dem sogar zustimmen - da kann dann lange und ausgiebig diskutiert werden. Auch das könnte Rotgrün dann als "friedenspolitischen Erfolg" verkaufen: Immerhin habe man "den Amerikanern" die Diskussion aufgezwungen. Ein solches Vorgehen gewinnt noch dadurch, daß man voraussichtlich sogar darauf wird verweisen können, daß im neuen strategischen Konzept der NATO vom nuklearen Ersteinsatz nicht die Rede sein wird. Nur: Das ist im gegenwärtig gültigen strategischen Konzept, das 1991 in Rom verabschiedet wurde, auch nicht der Fall.

Allerdings wird dort die militärpolitische und -strategische Wichtigkeit der Nuklearwaffen herausgestrichen, heißt es doch, das Bündnis werde "für die vorhersehbare Zukunft eine geeignete Zusammensetzung nuklearer und konventioneller Streitkräfte beibehalten, die in Europa stationiert sind und auf dem gebotenen Stand gehalten werden, wo dies erforderlich ist, allerdings auf einem beträchtlich niedrigeren Niveau ... Einzig Nuklearwaffen machen die Risiken jeglicher Aggression unkalkulierbar und unannehmbar", und: "In Europa stationierte und der NATO unterstellte Nuklearstreitkräfte stellen ein wesentliches politisches und militärisches Bindeglied zwischen den europäischen und den nordamerikanischen Mitgliedstaaten des Bündnisses dar. Das Bündnis wird daher angemessene nukleare Streitkräfte in Europa beibehalten" (Das neue strategische Konzept des Bündnisses, zit. n. Bulletin der Bundesregierung vom 13.11.1991); allerdings wurde eine "verminderte Abstützung auf Nuklearwaffen" angekündigt. Und in der Tat wurde die Anzahl der "substrategischen" oder "taktischen" Nuklearwaffen in und für Europa in der Folge drastisch reduziert. Gegenwärtig haben die USA wohl nicht mehr als 180 Atombomben in den europäischen NATO-Staaten disloziert (und zwar in Deutschland, Belgien, Griechenland, Großbritannien, Italien, Niederlande und Türkei). Hinzu kommen allerdings noch der NATO zugeordnete seegestützte Nuklearwaffen und die Nuklearpotentiale Frankreichs und Großbritanniens. Von einer Entnuklearisierung der NATO-Strategie oder Europas kann also immer noch keine Rede sein. Und das wird auch nach dem Jubelgipfel im April so bleiben. Im neuen strategischen Konzept werden die Nuklearwaffen ebenso ihren Platz haben wie im Konzept von Rom 1991. Allenfalls ist verbale Kosmetik zu erwarten, die vielleicht soweit gehen könnte, daß die Nuklearwaffen als "letztes Mittel" (last resort) deklariert werden (wie schon einmal in der Londoner Gipfelerklärung der NATO von 1990). An der Abstützung der Militärstrategie der NATO auf die Nuklearwaffen wird das faktisch nichts ändern.

Zu befürchten ist, daß die Ersteinsatz-Diskussion nach diesem Ausgang der Geschichte von Rotgrün als Argument dafür verwendet werden wird, daß man angesichts der "fehlenden Handlungsspielräume" einfach nichts machen kann: Joschka-David hat tapfer gefightet, um einen wesentlichen Punkt des rotgrünen Koalitionsvertrags (Verzicht auf Ersteinsatz) durchzubringen, aber er ist an dem übermächtigen Goliath "die Amerikaner" gescheitert.

Das Gelaber von den "fehlenden Handlungsspielräumen" ist natürlich Unsinn. Die Bundesregierung wäre z.B. durchaus in der Lage, die USA aufzufordern, ihre Atomwaffen von deutschem Territorium abzuziehen. Ein solcher Schritt würde faktisch die nukleare Dimension der NATO-Strategie ziemlich aufmischen (zumal zu erwarten wäre, daß sich andere Bündnis"partner" dem deutschen Vorgehen anschließen würden) - im Gegensatz zum Gequassel in einer "Task Force". Man müßte es nur wollen... Handlungsspielräume sind durchaus gegeben, aber sie werden nicht genutzt; geschweige denn, daß man versuchen würde, die Handlungsspielräume auszuweiten - und wenn, dann nur in eine friedenspolitisch fatale Richtung (s.u.).

Da also zu erwarten ist, daß in der neuen NATO-Strategie keine wesentlichen Veränderungen der Nukleardoktrin vorgenommen werden, wird es auch mit der nuklearen Abrüstung nicht vorangehen - im Gegenteil. Andere Atomwaffenstaaten (wie etwa Indien und Pakistan) und -aspiranten werden darauf verweisen, daß die Nuklearmächte der NATO ihren Verpflichtungen zu nuklearer Abrüstung aus dem NPT-Vertrag (Non-proliferation Treaty, Nichtweiterverbreitungsvertrag) wieder einmal nicht nachgekommen sind und damit ihre eigenen nuklearen Ambitionen rechtfertigen. Das gibt wiederum der NATO den Vorwand, an ihrer nuklear-militärischen counter-proliferation festzuhalten. Ein Teufelskreis.

Rußland und die NATO-Osterweiterung

Einen Dreck schert sich die NATO mit dieser Behandlung der Nuklearfrage - wie auch in anderen Fragen - um russische Interessen und Befindlichkeiten. Rußland wird von den USA und der NATO ohnehin nicht mehr als gleichberechtigte Macht akzeptiert; vielmehr wird ihm nurmehr der Status einer Regionalmacht zugestanden. Militärisch ist Rußland der NATO mittlerweile hoffnungslos unterlegen. Die NATO-Nuklearpolitik setzt die russische Seite unter zusätzlichen Druck. Das Ergebnis: Auch Rußland hält an seiner Nuklearrüstung fest und spitzt seine Nukleardoktrin sogar "NATO-mäßig" zu. Das heißt: Früher, zu Zeiten des Ost-West-Konflikts, hat die NATO ihre taktische Nuklearrüstung und ihre nukleare Ersteinsatzoption mit der angeblich drückenden konventionellen Überlegenheit von WVO/UdSSR gerechtfertigt. Jetzt argumentiert Rußland spiegelbildlich: Wegen der drückenden konventionellen Überlegenheit der NATO sei man gezwungen, sich stärker auf taktische Nuklearwaffen abzustützen.

Das ist ein Ausdruck der Bedrohungs- und Ausgrenzungsängste Rußlands. Die Osterweiterung der NATO um die ehemaligen WVO-Staaten Polen, Ungarn und Tschechien haben die NATO-Gewaltigen gegen den erklärten Willen Rußlands durchgezogen. Diese Staaten dürfen im April in Washington als frischgebackene NATO-Mitglieder mitfeiern. Der mit großem Trara 1998 installierte Gemeinsame NATO-Rußland-Rat hingegen, der der russischen Seite die bittere Pille der NATO-Osterweiterung versüßen sollte, kümmert vor sich hin. Trotz aller gegenteiliger Deklamationen: Rußland wird weiterhin aus dem "gemeinsamen europäischen Haus" ausgegrenzt. Die NATO behält sich weitere Runden der Osterweiterung prinzipiell vor. Allerdings sind für die nähere Zukunft keine Neuaufnahmen zu erwarten (obgleich sich die Kandidaten drängeln: Slowenien, Rumänien, Bulgarien, die baltischen Staaten usw.), weil sich die NATO intern nicht auf die Reihenfolge und das Procedere einigen kann. So wird wohl den Beitrittsaspiranten eine ausgebaute und differenzierte "Partnership-for-Peace" offeriert werden.

Aufgepaßt: ESVI droht

Es ist zweifellos so, daß die USA den Vorreiter beim Umbau der NATO zum Interventionspakt spielen und daß alle die oben beschriebenen "schlimmen Sachen" aus "Amerika" kommen. Wie früher auch wollen die USA die übrigen NATO-Staaten dazu bewegen, Neuerungen der nationalen US-Militärstrategie für die NATO-Strategie zu übernehmen - und wie früher auch wird ihnen das weitgehend gelingen. Friedenspolitisch fatal ist allerdings eine Antwort auf die "Zumutungen der Amerikaner", wie sie in Kreisen der europäischen sicherheitspolitischen Community verstärkt propagiert wird, nämlich: "Wir Europäer" müssen uns von "den Amerikanern" auch auf militärischem Gebiet unabhängig(er) machen, was auch heißt: eigenständige europäische Interventionskapazitäten aufbauen. Auch die rotgrüne Bundesregierung scheint auf diesen Europäisierungstrip gehen zu wollen und das dann wiederum als "Friedenspolitik" verkaufen zu wollen: Damit wir nicht immer alles mitmachen müssen, was "die Amerikaner" von uns verlangen, brauchen wir eine eigenständige europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik - so lautet die Argumentation. O-Ton Joschka auf der Münchner Wehrkundetagung im Februar: "Die EU muß die Fähigkeit auch für ein eigenes Krisenmanagement entwickeln, wann immer aus europäischer Sicht ein Handlungsbedarf besteht. Das muß letztlich auch eine militärische Komponente beinhalten".

In der gegenwärtigen NATO-Diskussion läuft dieser Prozeß unter dem Schlagwort: Stärkung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität (ESVI) (In der EU/WEU ist von der Herausbildung einer gemeinsamen "europäischen Verteidigungspolitik" und schließlich einer "europäischen Verteidigung" die Rede). Das ist eigentlich ein alter Hut. Schon seit langem wird einer Stärkung des "europäischen Pfeilers" der NATO das Wort geredet. Dabei werden allerdings diesseits und jenseits des Atlantik unterschiedliche Dinge damit verbunden: Die USA sind für eine solche Stärkung des "europäischen Pfeilers" im Sinne einer "gerechteren Arbeits- und Lastenteilung im Bündnis", sprich: die europäischen "Partner" sollen gefälligst mehr "Verantwortung" übernehmen, mehr zahlen und die "Drecksarbeit" nicht immer die USA allein machen lassen; die Führungsrolle der USA im Bündnis und die Kontrolle der USA über die europäischen "Partner" sollen dabei aber nicht angetastet werden. Gewichtige Kräfte in NATO-Europa hingegen (traditionell als Gaullisten bezeichnet) wollen via ESVI/europäische Verteidigung(spolitik) eine von den USA unabhängige(re) europäische Militärpolitik entwickeln.

Man könnte selbstverständlich versuchen, diese NATO-internen Widersprüche friedenspolitisch auszunutzen. Doch sich nur auf die eine Seite zu schlagen, wie Rotgrün es vorhat, bringt friedenspolitisch nichts. Auf den Europäisierungstrip zu gehen, um ein "Gegengewicht" zur US-Dominanz in der NATO zu schaffen, heißt, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben.

In Washington wird man - wie früher auch - in der Frage der ESVI Formelkompromisse präsentieren, die für die divergierenden Lesarten auf beiden Seiten des Großen Teichs offen sind. Unabhängig davon wird es in nächster Zeit verstärkte Anstrengungen in Richtung ESVI geben. Die Friedensbewegung ist gut beraten, das genau zu beobachten.

Vo