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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 424 / 18.3.1999

Politik ohne festen Boden unter den Füßen

Möglichkeiten und Grenzen der Existenzgeldforderung

Warum wird ausgerechnet heute und ausgerechnet in linksradikalen Kreisen eine Forderung attraktiv, die bald zwanzig Jahre auf dem Buckel hat, aber über einige Arbeitsloseninitiativen und ein paar versprengte grüne ParteigängerInnen hinaus nie an Relevanz gewann? Das Faszinierende an der Existenzgeldforderung ist wohl, daß sie eine politische Perspektive eröffnet, die über reine Abwehrkämpfe hinausgeht. Nicht nur abstrakt - Existenzgeld tangiert unmittelbar unseren Alltag und entfaltet dabei einen gewaltigen Schub an utopischen Szenarien.

"Wie würde sich dein Leben verändern, wenn es Existenzgeld gäbe?" ist offenbar eine inspiriendere Frage als "Wie würde dein Leben im Sozialismus aussehen (oder wie das Kind genannte werden soll)?" - weil wir selbst kaum noch daran glauben, eine Gesellschaft jenseits der herrschenden Verhältnisse erleben zu können, nicht mehr wissen, wie sie zu erreichen ist, geschweige denn, wie sie aussehen könnte.

Deshalb scheint die Forderung nach Existenzgeld die Chance zu bieten, die Marginalisierung der Linken zu überwinden. Zudem bezweifelt tendenziell niemand die Relevanz der Problematik, an der die Existenzgeldforderung ansetzt und die sich durch eine Fülle von Alltagserfahrungen wie Streß, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Existenzangst oder Arbeitslosigkeit vermittelt. Daß der alte Mechanismus der Verteilung von Einkommen und (Lohn-)Arbeit nicht mehr funktioniert, thematisieren alle gesellschaftlichen Gruppen und politischen Richtungen, wenn auch unter den unterschiedlichsten Vorzeichen und mit entgegengesetzten Interessen.

Gemessen am linksradikalen Standard, nichts zu vertreten, was Staat und Kapital, Patriarchat und Rassismus bedeuten könnte, ist der Preis der Existenzgeldforderung freilich ziemlich hoch: "1.500 DM plus Warmmiete für alle" kommt schlicht in der Form eines potentiellen Regierungsdekrets daher, das sowohl einen Staat (meinetwegen auf ein basisdemokratisch organisiertes Finanzamt reduziert) als auch eine geldvermittelte Ökonomie voraussetzt. Mehr noch, mit der Einführung eines Existenzgeldes wäre weder die Lohnarbeit abgeschafft, noch wären die Geschlechterverhältnisse, die gesellschaftlichen Naturverhältnisse oder die internationale Arbeitsteilung nur einen Deut weniger Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse. Ebensowenig bedingte es eine Abschaffung von Rassismus und Nationalismus.

Strategischer Strohhalm

Vielleicht bedienen sich manche Linke der Forderung nur taktisch: weil die "soziale Frage" gerade mal wieder en vogue ist, die Radikalität des AC! zum Träumen verleitet oder weil eben niemand mehr von Sozialismus, Kommunismus, Autonomie etc. pp. etwas hören will. Weil die Hoffnung besteht, daß die "Arbeitslosen" und "SozialhilfeempfängerInnen" zur Adrenalinspritze des dahinsiechenden Linksradikalismus werden könnten. Weil sich aus den "Prekarisierten", zu denen sich vielleicht auch der ein oder die andere postuniversitäre Linke zählen mag, endlich jene Massenbewegung formen soll, die gemäß den eingemotteten Blaupausen linksradikaler Zirkel die Verhältnisse umstürzt.

Ganz abgesehen vom fraglichen Demokratieverständnis jeder avantgardistischen Politik: Wenn die Existenzgeldforderung nur taktisch gemeint ist, dürfte sich der oben skizzierte Impuls schnell erledigt haben. Entweder realisieren die Leute, daß ja überhaupt keine 1.500 DM plus Warmmiete gewünscht sind, sondern daß sie eigentlich am altbekannten Projekt der Revolution hier und jetzt mitmachen sollen - und winken ab. Oder es entsteht tatsächlich eine Bewegung, die die Forderung wörtlich nimmt und der die weitergehenden Erwartungen der Linken unter Umständen herzlich egal sind.

Formulieren die Linksradikalen dagegen von vornherein die Forderung wieder so um, daß ihre Verwirklichung mit dem revolutionären Bruch identisch wäre (etwa daß sie weltweit zeitgleich eingeführt und zugleich die Lohnarbeit abgeschafft werden muß), besteht die Gefahr, dort weiterzumachen, woran sie gerade gescheitert sind: in der Marginalität. Da hilft auch nicht das ausgefuchsteste Werbekonzept.

Spitzfindig könnte nun argumentiert werden, daß die Linken ruhig ernsthaft 1.500 DM plus Warmmiete fordern könnten, weil eh nicht die geringste Gefahr besteht, daß die Forderung erfüllt wird - auch wenn das viele erst einmal denken. In der Tat reicht ein flüchtiger Blick auf die gegenwärtigen Kräfteverhältnisse, um die Existenzgeldforderung sofort ins Reich der Utopien zu katapultieren. Außer der PDS diskutieren heute alle Parteien statt den Ausbau sozialer Sicherung lieber die Frage, wie der Sozialstaat umgebaut werden müsse, um neue Arbeitsplätze zu schaffen, und landen fast unisono bei der Subventionierung niedriger Einkommen.

Erheblicher Widerstand findet sich aber auch jenseits des Establishments, selbst bei potentiellen Verbündeten. Die meisten LohnarbeiterInnen sehen es gar nicht ein, daß sie etwa auf ihre Rente verzichten sollen, um ein Existenzgeld zu finanzieren. Und selbst all denjenigen, die von der Einführung des Existenzgeldes unmittelbar profitieren würden, ist es wahrscheinlich kaum plausibel, warum Arbeitslose, MillionärInnen, Kinder, Hausmänner und LohnarbeiterInnen gleichermaßen Existenzgeld bekommen sollen.

Angesichts dieser Situation ist Existenzgeld tatsächlich erst einmal nur ein neues Chiffre für das alte Projekt, die Verhältnisse umzukrempeln. Die Frage ist allerdings, ob die Differenz zwischen der gesetzesförmigen Formulierung der Forderung und der Utopie ihrer Verwirklichung unhintergehbare Bedingung linken Engagements ist. Wenn das so wäre, dann ist das Nachdenken über Realisierungsprobleme, die Diskussion, mit welchen gesellschaftlichen Gruppen Bündnisse anzustreben sind, aber auch der Streit um die Höhe des geforderten Betrags schon ein Verrat am linksradikalen Charakter der Forderung. Eine Existenzgeldbewegung wäre unter dieser Voraussetzung nur dann wünschenswert, wenn all ihre Mitglieder zugleich Linksradikale wären und sie die Forderung letztendlich zugunsten des radikalen Bruchs mit den Verhältnissen verwerfen. Zu befürchten bleibt in diesem Fall jedenfalls, daß aus der Beschäftigung mit Existenzgeld dann nicht viel mehr herausspringt als ein kurzfristiger Hype in der spätlinksradikalen Szene und vielleicht ein paar neue AktivistInnen.

Utopie in Form eines Regierungsdekrets

Wenn die Existenzgeldforderung aber nicht nur Köder für führungsbedürftige Massen oder ein zeitgemäßeres Outfit für gescheiterte linksradikale Strategien sein soll, dann bedeutet dies, die Einführung des Existenzgeldes auch als Gesetzesprojekt gutzuheißen. 1.500 DM plus Warmmiete sind ja durchaus verlockend, und nicht wenige schlußfolgern aus ihren eigenen Träumen, daß dann quasi automatisch sowieso niemand mehr lohnarbeiten würde. Die Existenzgeldforderung ist in dieser Sichtweise so etwas wie eine listig formulierte Reform, die mit der Überwindung der Lohnarbeit identisch wäre.

Mal abgesehen von den skizzierten Kräfteverhältnissen und ungeachtet der anderen Widersprüche, die mit der Abschaffung der Lohnarbeit ja noch keineswegs verschwunden wären, wird in diesem verlockenden Gedankenspiel meilenweit die Funktion der Lohnarbeit als Vergesellschaftungsmodus Nummer 1 unterschätzt. Der Zwang zur Lohnarbeit vermittelt sich in der BRD eher selten durch ein Unterschreiten der absoluten Reproduktionsgrenze des einzelnen (sprich: Verhungern) noch allein durch ein Unterschreiten des notwendigen finanziellen Backgrounds, um am gesellschaftlichen Leben angemessen teilhaben zu können. Lohnarbeitsverhältnisse stehen im Zentrum gesellschaftlicher Anerkennung - selbst in unseren Kreisen. Genau hier liegt die Gefahr, daß sich aus dem Gesetzesprojekt Existenzgeld ein schlanker Sozialstaat entwickelt, der die Gesellschaft um so nachhaltiger spaltet.

Existenzgeld läßt sich durchaus als moderne soziale Absicherung von hochqualifizierten und flexiblen DienstleisterInnen denken, die zwischen kurzfristigen Jobs leider immer wieder mal erwerbsarbeitslos sind, aber im Gegensatz zu Geringqualifizierten prinzipiell wieder an Lohnarbeit kommen können. Dieser potentielle Interessengegensatz, dem eine gleichzeitige radikale Arbeitszeitverkürzung die Sprengkraft nehmen kann, sollte nicht geleugnet werden, wenn postuniversitäre Linksradikale und Bohemiens ein Bündnis mit den Marginalisierten suchen.

Dennoch gibt es Gründe, für ein Existenzgeld als Gesetzesprojekt zu kämpfen, nämlich sofern es für eine Strategie steht. Mit dem Existenzgeld wären weder der Kapitalismus noch all die anderen gesellschaftlichen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse überwunden. Aber es besteht die berechtigte Hoffnung, daß sich durch die Minderung des Zwangs zur Lohnarbeit die Ausgangsposition verbessert, sowohl das Lohnverhältnis abzuschaffen als auch die anderen gesellschaftlichen Verhältnisse anzugehen. Die aktuellen Anstrengungen müßten sich dann in gleicher Weise auf die Durchsetzung des Existenzgeldes wie auch auf die Verknüpfung der Forderung mit weiterreichenden Zielen richten.

Mit Existenzgeld als Strategie dürfte die Linke Realisierungsprobleme, sowohl bezüglich der Kräfteverhältnisse (etwa welches Verhältnis zu den Gewerkschaften eingenommen werden sollte) als auch in technischer Hinsicht (etwa ob die Rentenkassen zugunsten des Existenzgeldes aufgelöst werden sollten oder ob auch Kinder voll existenzgeldberechtigt sind), gerade nicht beiseite schieben. Die Diskussion der Realisierungsprobleme, die auch im Verwerfen der ursprünglichen Forderung enden könnte, sogar Voraussetzung für die Entstehung einer systemkritischen Existenzgeldbewegung, sofern sie nicht sich selbst genügen will, sondern auf die Durchdringung der Gesellschaft zielt.

Ohne Zweifel liegt in der Diskussion der Realisierungsprobleme die Gefahr, zugunsten aktueller Machbarkeit - etwa bezüglich der Finanzierbarkeit, der Verfassungskompatibilität oder der Suche nach mächtigen Verbündeten - das utopischen Ziel der Forderung aus den Augen zu verlieren, sprich: "einverleibt" zu werden. Diese Gefahr beginnt aber weder mit der Diskussion der Realisierungsprobleme noch wäre sie mit der Konzentration auf utopischen Potentiale gebannt. Würde tatsächlich eine breite Existenzgeldbewegung entstehen, ließen sich weder die Diskussion der Realisierungsprobleme noch die Formulierung konkreter Gesetzesinitiativen verhindern, geschweige denn die partielle Übernahme durch die politischen Gegner.

Egal, wie unvermittelt die Forderung vorgetragen wird: Die einzige Garantie gegen die Vereinnahmung einer Bewegung wäre ihre Irrelevanz, alles andere ist eine Frage des fortwährenden Kampfs innerhalb der Bewegung und des eigenen Engagements.

Von der anderen, der utopischen Seite her betrachtet, kommt es also darauf an, die Diskussion so zu organisieren, daß die Realisierungsprobleme mit der systemüberwindenden Perspektive möglichst eng verkoppelt werden. Allein den Zwang zur Lohnarbeit mindern zu können, reicht als Perspektive freilich bei weitem nicht aus. Zu Recht lernte die Linke in den vergangenen Jahrzehnten, daß die anderen Widersprüche - Geschlechterverhältnis, Rassismus, Nationalismus, gesellschaftliche Naturverhältnisse - eben gerade nicht im Kapitalverhältnis aufgehen. Die Existenzgeldforderung rüttelt zwar an einer der zentralen Säulen der Vergesellschaftung. Die anderen gesellschaftlichen Verhältnisse löst sie nicht, aber sie wirkt sich auf diese massiv aus. Deshalb ist es entscheidend, die Erfahrungen aus den Auseinandersetzungen mit den anderen gesellschaftlichen Verhältnissen zu einem integralen Moment der Strategiediskussion zu machen.

In jedem Fall hieße das, die Existenzgeldforderung in ihren Auswirkungen auf andere gesellschaftliche Verhältnisse zu diskutieren (und unter Umständen zu verwerfen), anstatt das goldene Zeitalter zu versprechen oder gemäß der bisherigen Praxis der radikalen Linken die Forderungen aus den einzelnen Verhältnissen unverbunden nebeneinander aufzulisten.

Die Chance, die das Existenzgeld bietet, ist eine Re-Formierung der Linken, die nach 25 Jahren neoliberaler Konterrevolution systematisch desartikuliert ist, sich zerstreut hat. Es gibt gewiß mehr Linke, als es den Anschein hat, aber es gibt keine Linke mehr, nicht zuletzt, weil es sehr schwierig geworden ist, zu sagen, wer oder was links ist - es sei denn, der eigene Standpunkt wird zum alleinigen Kriterium. Der Ausgang dieser Re-Formierung ist höchst ungewiß, weil die gesellschaftliche Entwicklung schlicht nicht zu planen ist. Aber wie zum Teufel sollen sich die Verhältnisse ändern, wenn nicht durch uns.

Frieder Dittmar