Der Kongreß hat getanzt
Ambivalente Existenzgeldkonferenz in Berlin
Die "Arbeitskonferenz für das Existenzgeld und für eine radikale Arbeitszeitverkürzung", die am 19. bis 21. März in Berlin stattfand, ist nicht zum Startsignal für eine "Existenzgeldkampagne" der (radikalen) Linken geworden. Doch die Absage an eine nur vordergründig vereinheitlichende Zauberformel in der "sozialen Frage" ist eher einer der positiven Aspekte des Berliner Treffens.
Die Konferenz, zu der die Berliner Gruppe F.e.l.S. (Für eine linke Strömung) und einige andere eingeladen hatten, traf auf ein erfreulich großes zahlenmäßiges Interesse. Zur Auftaktveranstaltung am Freitag Abend hatten sich ca. 500 Leute in der Humbolduniversität versammelt, die Arbeitsgruppen und Foren am Samstag und Sonntag besuchten immerhin 200-260 Leute. Allerdings: Es dominierte deutlich ein Publikum aus (ex-) autonomer und universitärer Linke, AktivistInnen aus der sog. Betriebs- und Gewerkschaftslinken waren, mit Ausnahme einiger weniger Einzelpersonen in der AG Prekarisierung, in Berlin überhaupt nicht anwesend, und auch der Bereich der Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen spielte eher die marginalisierte Rolle eines Farbtupfers.
Diese Einschränkung des politisch-kulturellen Spektrums und Milieus ist angesichts der Art und Weise der Vorbereitung und Mobilisierung nicht weiter verwunderlich. Um so problematischer war da schon der Umstand, daß die wenigen anwesenden Einzelpersonen und Gruppen aus dem Spektrum der Sozialhilfeinitiativen auch auf der Konferenz selbst sehr stiefmütterlich behandelt worden sind. Die Vorstellung der Sozialhilfeinitiativen, das Thema Existenzgeld nicht als Modelldiskussion zu behandeln, sondern auf unmittelbare Forderungen gegenüber Sozial- und Arbeitsämtern zuzuspitzen, wurde von den MacherInnen der "zuständigen" AG nicht akzeptiert. Hier prallte das Bedürfnis, über die konkrete eigene Politik zu sprechen, unversöhnlich auf die Idee eines Oberseminars zur Regulationstheorie. Es kann darüber spekuliert werden, inwieweit hier auch die Kluft zwischen unterschiedlichen politischen Kulturen eine Rolle gespielt hat. In der Konsequenz mußten die Sozialhilfeinitiativen ihre eigene AG machen, ihre - auch schriftlich formulierte Kritik - blieb folgenlos. Dieser wenn auch nicht böswillige, so aber doch ein Stück weit ignorante Umgang mit einem politischen Spektrum, das dem eigenen Milieu vielleicht fremd ist, fand seinen Ausdruck auch darin, daß einfach vergessen wurde, die AG der Sozialhilfeinitiativen über das am Samstag Abend stattfindende Treffen der AG-KoordinatorInnen zu informieren. So wurden die Sozialhilfeinis zusätzlich von den formalen Austauschwegen der Konferenz ausgeschlossen.
Die Reflexion der eigenen politischen Praxis und der eigenen politischen Erfahrungen mit den Themen Existenzgeld und Arbeitszeitverkürzung war nicht oder nur kaum Thema der Konferenz; entsprechende Befürchtungen (vgl. ak 424) haben sich damit bestätigt. Darüber hinaus beschlich einen während der drei Tage der Verdacht, daß vordiskutierte Gruppenpositionen zu den Themen der Konferenz in Berlin eher Ausnahmen waren. Bei den verschiedenen Statements wurde nur selten klar, ob es sich um individuelle Äußerungen oder politische Positionen eines Arbeitszusammenhangs handelte; inwieweit es sich somit bei der Konferenz im Grundsatz um ein Treffen "arbeitender Gruppen" gehandelt hat, das über den kleinen Kreis der VorbereiterInnen hinausreicht, ist daher zumindest fraglich.
Dabei war das Bedürfnis nach intensiver und konzentrierter Diskussion in Berlin bei allen Beteiligten völlig unverkennbar. Aus allen Arbeitsgruppen wurde von einem ausgesprochen freundlichen und rücksichtsvollen Diskussionsstil gesprochen. Die DiskutantInnen waren sichtlich bemüht, sich zuzuhören und auf die jeweiligen Positionen und Argumente einzugehen. Angesichts der bitteren Erfahrungen mit sektiererischen Grabenkriegen ist dies eine Qualität, die durchaus gewürdigt werden sollte.
Neben der Existenzgeldforderung hatte die Konferenz in ihrem Titel eine radikale Arbeitszeitverkürzung propagiert. Diese Forderung ist in Berlin jedoch niemals Gegenstand der Diskussion gewesen, sie war schlicht kein Thema. Dies ist zum einen ein Indiz dafür, daß die Parole kaum mehr als ein abstraktes Bündnisangebot an die Betriebs- und Gewerkschaftslinke gewesen ist, aber keine ausgearbeitete und reflektierte eigene Position. Darüber hinaus spiegelt sich darin auch wieder, daß die Niederungen des kapitalistischen Produktionsprozesses und der alltäglichen Ausbeutung auf der Tagung eher ausgeblendet worden sind; die AG Prekarisierung war hier wohl die einzige Ausnahme.
Das zweite inhaltlich hervorstechende Merkmal der Konferenz war die deutliche und breite Absage an die Vorstellung von einem Existenzgeld als unmittelbare Forderung, etwa im Sinne einer neuen Kampagne. Die anwesenden Aktivistinnen aus den Sozialhilfe- und Erwerbsloseninitiativen, für die die Existenzgeldforderung immerhin seit langem ein fester Bezugspunkt ihrer politischen Arbeit ist, haben in Berlin deutlich von einem Existenzgeldkonzept gesprochen. Gemeint ist damit wohl eine allgemeine politische Orientierung im Sinne eine konkreten Utopie. Für ihre praktische Politik spielt das Existenzgeld als konkrete Forderung jedoch keine Rolle. In ihrer "Kampagne 99" fordern die Sozialhilfe- und Erwerbsloseninitiativen eher 300 DM mehr für SozialhilfeempfängerInnen, eine Abschaffung der restriktiven Meldepflicht beim Arbeitsamt und die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes. (vgl. ak 422).
Lediglich Laurent Guilleteau von AC! hat in seinem Podiumsvortrag den Vorschlag einer Kampagne "Für das Einkommen" präsentiert. Doch auch der Aufruf der Einkommenskommission von AC! (abgedruckt in dieser ak-Ausgabe) versteht sich eher als eine "gesamtgesellschaftliche Lohnforderung" und geht damit im Grunde über die bisherige Existenzgelddebatte in der Bundesrepublik hinaus.
Am weitgehendsten wurde die Existenzgeldforderung bzw. die Existenzgelddiskussion in der AG feministische Ökonomiekritik und von der Gruppe Blauer Montag kritisiert (vgl. die Beiträge von Martin Rheinlaender und der Frauengruppe "Glanz der Metropole" in dieser ak-Ausgabe). In der feministischen Kritik wurde darauf hingewiesen, daß die Existenzgeldforderung die patriarchale geschlechtshierarchische Arbeitsteilung keineswegs aufhebe. Es sei daher kein Zufall, daß entsprechende Forderungen stets additiv hinzugefügt werden müßten. In der Kritik der Existenzgeldforderung ist in der AG dabei auf die alte Kampagne "Lohn für Hausarbeit" zurückgegriffen worden, die zu Beginn der 70er Jahre heftig diskutiert worden war. Bei dieser Bezugnahme ging es wohl nicht so sehr darum, sich diese Position zu eigen zu machen, sondern vordringlich darum, sich Anregungen für eine grundsätzlichere feministische Kritik der (Lohn-)Arbeit und der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung zu holen, als sie die Existenzgeldforderung bietet.
In der AG "Prekarisierung" warnte die Gruppe Blauer Montag davor, daß angesichts der real existierenden gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse eine Mobilisierung für die Existenzgeldforderung nur zum Vehikel einer neoliberalen Modernisierung der Sozialpolitik wird, ähnlich wie die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung letztlich nur zu einem Flexibilisierungsschub in der Ausbeutung geführt habe. So wie die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung eine historische Niederlage der Betriebs- und Gewerkschaftslinken markiert, läuft die Existenzgeldforderung Gefahr, in Gestalt eines rot-grünen Grundsicherungsmodells zur historischen Niederlage der Erwerbslosenbewegung zu werden.
In der AG Prekarisierung wurde im übrigen ein Thema ausgiebig diskutiert, das ansonsten während der Konferenz kaum eine Rolle spielte: die Lohnarbeit. Deutlich wurde dabei zumindest, daß eine starre, an der statistischen Messung orientierte Kategorisierung von prekärer Beschäftigung und "Normalarbeitsverhältnis" zur Beschreibung der tatsächlichen Klassenzusammensetzung nur bedingt tauglich ist. Dabei wurde die Dynamik von Lebenslagen, Bedürfnissen etc. genauso betont wie die zunehmende Ununterscheidbarkeit von flexibilisierter Ausbeutung im formal regulierten Betrieb, von prekären Beschäftigungsverhältnissen im ersten oder zweiten Arbeitsmarkt und Erwerbslosigkeit.
Die Berliner Konferenz hat unter dem Strich also keinen Stein der Weisen hervorgebracht, keine neue Losung, die es jetzt umzusetzen gilt. Vereinzelt war am Sonntag deswegen auch die Frage nach der "organisatorischen Wende" der Konferenz zu hören. Diesem Ansinnen hat sich das Treffen verweigert. Organisation, Vernetzung, Austausch wird, wenn überhaupt, eher informelle Wege nehmen, auch wenn ein offizielles Nachbereitungstreffen im Juni in Hamburg verabredet worden ist. Dennoch mußte niemand ganz ohne praktische Vorschläge nach Hause fahren: Angesichts einer überall zunehmenden repressiven Armutsverwaltung und angesichts verschärfter Pflichtarbeit für SozialhilfeempfängerInnen und Erwerbslose haben die anwesenden Sozialhilfe- und Erwerbsloseninitiativen noch mal darauf hingewiesen, daß jeder und jede vor Ort die Möglichkeit habe, sich auf ihre Kampagne '99 zu beziehen.
dk.