Balkanische Verhältnisse
Nationenbildung und Nationalismus in Südosteuropa
"Balkanische Verhältnisse" ist ein geflügeltes Wort für ein Ensemble von Nationalismen, paternalistischen Strukturen, Blutrache, Frauenraub, tausendjährigen Reichsmythen, ethnischen Vertreibungen - kurz, ein Synonym für besonders grausame Krisen, die, so scheint es, nur dieser Region eigen sind. Zugleich ist es, wie die Geschichte der Balkankrisen seit dem vorigen Jahrhundert zeigt, Ausdruck des andauernden Unverständnisses, das der Westen gegenüber Südosteuropa aufbringt und das sich auch im Krieg um das Kosovo wieder äußert. Das hat zahlreiche Gründe. Zum einen mangelt es oft an Kenntnissen über die politische Lage und die sie konstituierenden geschichtlichen Abläufe; zum anderen liegt dies an der Nichtbeachtung grundlegender struktureller Unterschiede in der Entwicklung Ost- und Südosteuropas. In diesem Artikel soll vor allem auf letztere hingewiesen werden. Im Kern geht es dabei um die gegenüber Westeuropa ganz anders verlaufene Herausbildung der Nationen und Nationalstaaten. Daran knüpft auch eine spezielle Ausformung der Nationalismen in den einzelnen Staaten an, deren durchgängiges Merkmal die "Großreich-Vision" ist.
Die Geschichte Europas ist die Geschichte seiner Grenzen, innerhalb derer sich sehr unterschiedliche Entwicklungen vollziehen. Die erste große Grenze, der Limes (1), teilt Europa in die römische Zivilisation, die sich vom Mittelmeer bis zum Rhein und zur Donau ausdehnt. Nördlich davon befinden sich die Gebiete der "Barbaren", Stammesverbände unterschiedlicher Herkunft, teils nomadisch, teils seßhaft, oft in Kämpfe untereinander verwickelt, fast ausschließlich auf agrarischer Basis lebend - ein krasser Gegensatz zu Rom, das eine staatliche Organisation entfaltet, Städte und Kommunikationswege baut, eine einheitliche Währung und ein einheitliches, schriftlich fixiertes Recht besitzt. Ein Reich allerdings, das im dritten Jahrhundert inneren Spannungen und wachsendem äußeren Druck ausgesetzt ist, so daß es als Ganzes unregierbar wird.
Die Teilungsgrenze von 395 in Westrom und Ostrom entlang der Donau und der Drina wird sich bald zu einer Strukturgrenze mit schwerwiegenden Folgen herausbilden. Sie stellt in mehrfacher Hinsicht eine Achse für den Ost-West-Konflikt in Südosteuropa dar. Westlich dieser Linie wird vom päpstlichen Rom aus missioniert, während sich die griechische Osthälfte am kaiserlichen Konstantinopel orientiert. Für den westlichen Teil tritt nach dem Zerfall des Römischen Reiches das ein, was Krzysztof Pomian als "dreifache Bekehrung" bezeichnet: Die Oberschichten der meisten ethnischen Gruppen (Fürsten, Aristokraten, Krieger) nehmen das römische Christentum, die lateinische Sprache und Schrift an. Eine "erste Europäisierung" findet statt, ein Prozeß, der allerdings nur den Teil Südosteuropas einbezieht, den die päpstliche Mission erreicht, während Konstantinopel und die Orthodoxie dem östlichen Teil ein deutlich unterschiedliches Gepräge gibt. Im Westen lebt bei den geistlichen und weltlichen Herrschern der römische Imperiumsgedanke fort, das Karolingerreich z.B. versteht sich als eine Renovatio imperii romani. Konstantinopel hingegen hält an der Antike fest, wird außerdem in weit höherem Maß erschüttert von den zahlreichen Migrationswellen, deren wichtigste die slawische Landnahme (6. und 7. Jahrhundert) ist.
Das Schisma (2) von 1054 und die Versuche des Westens, Konstantinopel politisch und militärisch einzunehmen, vertiefen den Bruch. Die Eroberung der orthodoxen Metropole und die Errichtung eines 60 Jahre dauernden lateinischen Ostreichs ist einer der Gründe für die tiefe Kluft zwischen orthodoxen und katholischen Christen. Zugleich schwächt sie den Osten, der in der Folge dem Ansturm der Osmanen nicht standhalten kann.
Die mittelalterliche Nation ist multikulturell
Trotz aller politischen Spaltungen und Kriege sind die im katholischen Westen errichteten Reiche stabiler als jene im Osten. Die großen Wanderungen enden hier weit früher, zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert findet hier die größte Urbarmachung seiner Geschichte statt, die Städte entwickeln sich und gewinnen an politischer Bedeutung. Der Südosten Europas findet dagegen wesentlich schwierigere Bedingungen vor, trotz einiger Reichsgründungen (Bulgaren, Serben) entsteht keine "universelle" Kultur. Gegenüber der lateinischen Kircheneinheit im Westen existieren mehrere autokephale (3) Kirchen und häretische Bewegungen, weder politisch noch kulturell kann der Partikularismus überwunden werden. Einige historische Nationen (Serben, Kroaten, Bulgaren, Ungarn...) entstehen, sie beherbergen ein bunt durchmischtes Völkergemenge. Zunächst unmerklich zeichnet sich ein wesentlicher Unterschied in diesen "zwei Europas" ab: Im westlichen Teil existiert schon früh ein wie immer geartetes durchgängiges Staatsdenken; im migratorisch bewegten Osten können sich die Nationen nicht auf Dauer etablieren. Ohnehin bezieht sich der mittelalterliche Nationsbegriff nur auf den Adel und konstatiert hier Gemeinsamkeiten von Sitten, Gesetzen, Sprache und Religion, also vorwiegend kulturelle und rechtliche, nicht aber territoriale Angelegenheiten.
Die Nationalisten, die sich heute gern auf die "historischen Nationen" berufen, müßten daher glühende Anhänger multiethnischer und multikultureller Staatswesen sein, denen jede territoriale Forderung fremd ist. Ohnehin jagen sie einer Schimäre vom "reinen" Volk nach, das doch immer nur ein Konstrukt ist. Ein alter ethnographischer Atlas aus der Habsburgermonarchie weist z.B. für die Batschka und den Banat (die heutige Vojvodina) und für Istrien mehr als 25 ethnische Gruppen aus - Vermischung ist also das Grundprinzip, das Deklarieren einer ethnischen Zugehörigkeit eine Glaubenssache.
Im 14. und 15. Jahrhundert wird die Balkanhalbinsel nach und nach von den Osmanen erobert. Entscheidend ist dabei nicht die Schlacht auf dem Kosovo Polje (Amselfeld, 1389), wie dies die nationalistische Geschichtsschreibung propagiert, sondern zuvor schon, 1371, die Schlacht bei Cernomen an der Marica. Auch der Heldenmythos vom serbischen Alleingang stimmt nicht, da es sich um ein Heer von serbischen, bulgarischen, kroatischen, albanischen und anderen Kriegern handelt, das gegen ein türkisches Heer mit zahlreichen Balkan-Söldnern unterliegt. Der Mythos nährt die Legende, daß Serbien zwar das Abendland verteidigt habe, von Europa aber immer in Stich gelassen worden sei - also die Legende von der Opferrolle der Serben. Die ersatzlose Zerstörung des alten nationalen Rahmens, an dem die anationalen Osmanen einfach kein Interesse haben, dient als Grundlage einer weiteren Legende von der "Zeit der türkischen Finsternis". Die Osmanen bringen jedoch eine Kultur mit, die zunächst in vieler Hinsicht höher entwickelt ist als die des Westens. Sie führen auch keine Zwangsislamisierung durch, sondern kassieren von den Balkanchristen "Schutzsteuern". Sie unterscheiden nicht in Völker und Nationen, sondern in Gläubige und Ungläubige. Beiden gemeinsam ist die Gegnerschaft zum katholischen Westen. Allerdings wechselt in den Gebieten des heutigen Bosniens, Albaniens und Bulgariens, teilweise auch Serbiens ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung zum Islam - was 500 Jahre später große Folgen haben wird, wenn aus der Religionszugehörigkeit ein "ethnischer" Begriff geprägt wird, die "Türken" und die "Muslime".
Der einsprachige Nationalstaat
Der Prozeß der Staats- und Nationenbildung in Südosteuropa vollzieht sich also ganz anders als im Westen. Während in Westeuropa zwischen dem 15. und dem 17. Jahrhundert die Grundlagen des modernen Staates entstehen, werden die osteuropäischen Nationen von anationalen Reichsbildungen überwuchert: dem Habsburger Reich und dem Osmanischen Reich. Die einzige nationale Institution von Kontinuität ist die orthodoxe Kirche, die Schriftsprache und Geschichte aufbewahrt und die Verbindungen zwischen Personen desselben Glaubens sichert. Die Religion wird so sehr zum Bestandteil nationaler Identität, daß Kroaten und Serben in ihr das wesentliche Merkmal sehen. Der serbische Sprach- und Volkskundeforscher Vuk Karadzic z.B. bezeichnet Anfang des 19. Jahrhundert die Kroaten als "katholisierte Serben".
Den neuen nationalen Bewegungen im 19. Jahrhundert fehlen zunächst jene Bedingungen zur Nationenbildung, wie sie im Westen entstanden sind: Es gibt keine Hauptstadt, kein Staatsapparat, keine eigenständige Wirtschaftsorganisation, keine politische Kultur, keine geschulte nationale Elite (István Bibó). Also greifen sie auf "das Volk" als Träger "unterscheidbarer nationaler Eigenheiten" zurück. Angesichts der ethnischen Gemengelage in Südosteuropa ist "das Volk" eine Sache des Bekenntnisses, schließlich eine Frage der Sprachzugehörigkeit. Anstelle des fehlenden politischen Rahmens sucht man in der Sprachgemeinschaft ein Grundelement der Nation - die "Sprachnation" ist ein typisch östliches Produkt. Da es an historischer Kontinuität mangelt, schaffen die romantisch beeinflußten Intellektuellen aus Überlieferung, Sagen, Bruchstücken historischer Aufzeichnungen usw. eine historische Fiktion. Sie soll "durch die erinnernde Vergegenwärtigung einstiger nationaler Größe dem Selbstbewußtsein der kleinen Völker aufhelfen und gleichzeitig die für den täglichen Emanzipationskampf brauchbaren historischen Argumente bereithalten." (Edgar Hösch, S. 160)
Man kann den sich anhäufenden Konfliktstoff erahnen. Mit der nationalen Befreiung, die im 19. Jahrhundert einsetzt, versuchen die südosteuropäischen Staaten in der Folge immer wieder, ihre Territorien auszudehnen; sei es, um alle Sprachverwandten einzugliedern, sei es, um angebliche historische Grenzen wieder herzustellen. Gleich in der ersten großen Balkankrise 1878 tauchen die makedonische und die albanische Frage auf. Die "verspäteten Nationen" melden Unabhängigkeitsansprüche an, verbleiben aber noch im Osmanischen Reich. Montenegro, Serbien, Bulgarien und Griechenland stellen territoriale Ansprüche, die zum ersten Balkankrieg 1912 führen. Mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches entsteht auf dem Balkan ein Machtvakuum, zugleich entladen sich rivalisierende Nationalismen. Unter dem Druck der Großmächte kommt es zum Frieden von London (1912/13) und zur Aufteilung der europäischen Besitzungen des Osmanischen Reiches, das fast bis zum Bosporus zurückgestutzt wird; Bulgarien erhält einen Zugang zur Ägäis; Makedonien wird aufgeteilt an Serbien, Griechenland und Bulgarien; Kosovo und Novipazar werden Serbien zugeschlagen; mit Albanien wird ein neuer Staat geschaffen.
Im Grunde ist damit kein Problem gelöst worden, denn die neuen Grenzen schaffen nur neue Probleme. Haben die Nationen dieser Region ursprünglich gegen die Fremdherrschaften gekämpft, so beginnen sie mit Entstehen des Sprachnationalismus, schreibt Bibó, "die sprachlichen Kräfteverhältnisse in den Mittelpunkt ihrer Selbstdefinition zu stellen: Jene Nationen, an deren historischen Grenzen Sprachverwandte lebten oder die über keine historischen Grenzen mehr verfügten, hefteten sich das Programm der Vereinigung aller Sprachverwandten auf ihre Fahnen, jene hingegen, auf deren Territorium auch Anderssprachige lebten, favorisierten die Idee des einsprachigen Nationalstaates. Das Wesentliche beider Bestrebungen war identisch: Es ging darum, mit ethnischen Faktoren der eigenen politischen Existenz, die auf schwachen Beinen stand, zusätzliches Gewicht zu geben." (Bibó, S. 19f)
Visionen vom national homogenen Großreich
Seit der Unabhängigkeit ist es die Grundprämisse der serbischen Politik, die historischen Grenzen des mittelalterlichen Serbenreiches wiederherzustellen und die durch verschiedene Migrationen über Ungarn, Kroatien, Bosnien, Kosovo und Makedonien zerstreuten Landsleute zusammenzufassen. Aus dieser Logik heraus beansprucht Serbien 1878 die Gebiete um Nis, 1913 dann wesentliche Teile von Makedonien und das Kosovo, nach dem Zerfall Österreich-Ungarns 1918 die Vojvodina und Bosnien. Zugleich sucht es eine "höhere Einheit", die der Südslawen unter serbischer Führung, die sich als Avantgarde im nationalen Unabhängigkeitskampf versteht: Mit den aus dem Habsburger Verband ausgetretenen Regionen Slowenien und Kroatien bildet Serbien nach dem Ersten Weltkrieg eine Föderation, der sich auch Montenegro anschließt und der Bosnien eingegliedert wird. Dieser neue Staat trägt erst recht die Züge eines multiethnischen Gebildes.
Den anderen Weg geht Griechenland. Sein militärisches Abenteuer in Kleinasien (1920) endet mit einer Niederlage, deren Folge die Abwanderung von weit über einer Million Griechen aus der Westtürkei ist. Umgekehrt müssen rund eine halbe Million Muslime griechisches Territorium verlassen. Den albanischen Arvanitas gegenüber wird eine scharfe Assimilierungspolitik verfolgt, so daß der Staat bald über eine national homogene Struktur verfügt. Nachdem der Versuch gescheitert ist, (vermeintlich) historische Grenzen in Kleinasien wiederherzustellen, richtet sich die Politik voll und ganz auf die innere Homogenisierung.
Wieder anders ist die Situation der Albaner, die wegen ihrer muslimischen Bevölkerungsmehrheit von etwa 70 Prozent im Westen gemeinhin als "Türken" gelten. Sie fühlen sich lange dem Osmanischen Reich zugehörig und entwickeln kaum nationale Gefühle. Erst als Teile ihres Siedlungsgebietes an Serbien, Montenegro und Griechenland abgetreten werden, wird der Türkei Versagen vorgeworfen. Der bescheidene Widerstand intensiviert sich erst, als sich der Zerfall der Pforte (4) ankündigt. Die Albaner müßten sich entscheiden, ob sie mit der Türkei untergehen oder sich von ihr trennen sollen, schreibt der Publizist Sami Frashëri: "Einen toten Menschen muß man beerdigen, so sehr man ihn auch geliebt haben mag." (zitiert nach Michael Weithmann, S. 179) Als fast ganz Albanien von Truppen des Balkanbundes (Serbien, Bulgarien, Montenegro) besetzt ist, wird in Vlorë am 28.11.1912 die Unabhängigkeit ausgerufen. Doch umfaßt der neue Staat nur die Hälfte des Siedlungsgebietes; Kosovo, Westmakedonien, einige Landstriche in Montenegro sowie die Hafenstadt Ulcinj und Gebiete im griechischen Epiros bleiben außen vor. Angesichts starker Nachbarn (Serbien/Jugoslawien und Griechenland) ist der Ruf nach nationaler Einigung verhaltener.
Vielvölkerstaaten ohne demokratische Traditionen
Südosteuropa hat sich also nach dem Ersten Weltkrieg grundlegend verändert. Die alten Vielvölkerreiche (Österreich-Ungarn, Osmanisches und Russisches Reich) sind zerfallen, Nationalstaaten und Föderationen sind entstanden. Doch diese neuen Staaten sind labile Gebilde. Sie sind zumeist Vielvölkerstaaten - im Königreich der Slowenen, Kroaten und Serben (späterer Name: Jugoslawien) leben 15 nichtsüdslawische Nationalitäten (Ungarn, Deutsche, Albaner, Rumänen, Juden, Italiener u.a.) mit einem Bevölkerungsanteil von 15 Prozent; in Groß-Rumänien steigt die Minderheitenquote bei 19 Nationalitäten auf etwa 28 Prozent. Ihre Grenzen sind oft zufällig, der Gunst des Krieges oder dem Verhandlungsgeschick entsprungen, abhängig von der Wahl der Bündnispartner und westlichen Fürsprecher, die über die ethnischen und nationalen Verhältnisse in dieser Region nur mangelhafte Kenntnisse haben. Bibó sieht das Problem nun nicht in der an ein "Leopardenfell" erinnernden Landkarte, also in der Verzahnung von Sprach- und ethnischen Gruppen, sondern darin, daß die historischen Affekte der Bevölkerung sich an größeren Territorien als dem bewohnten orientieren. Die erste Hälfte des Jahrhunderts ist dominiert von Grenz- und Nationalitätenkonflikten, denn die Grenzziehungen der Pariser Vorortverträge werden nur als Demarkationslinien mit Revisionsvorbehalt hingenommen.
Verkompliziert wird die Lage Südosteuropas noch durch die Krise des Parlamentarismus und durch die ökonomische Verelendung der rückständigen Agrargesellschaften. Nationalbewußtsein mal westliche Demokratie hätte eine Formel sein können, um Widersprüche zu lösen oder einen tragfähigen Status quo herzustellen. Doch das parlamentarische Regierungssystem ist im Laufe des 19. Jahrhunderts als etwas Fremdes in eine politische Wirklichkeit verpflanzt worden, der es an allen Voraussetzungen fehlt: ein historisch gewachsener politischer Kontext und eine kulturelle Entwicklung, eine Staatsmacht, die nicht auf Mythen, sondern auf historisch gewachsene Festigkeit baut, ein Nationalbewußtsein anstelle nationaler Hysterie, letztlich auch das Prestige einer demokratischen Revolution (Bibó). In den dreißiger Jahren setzen sich überall Diktaturen durch, die zudem ökonomisch zunehmend vom Deutschen Reich abhängig werden.
Im Zweiten Weltkrieg wird Südosteuropa zum Kriegsschauplatz fremder Mächte. Wieder werden die Grenzen neu gezogen, diesmal unter dem Diktat Hitlers. Im Zuge des Kampfes gegen den nationalsozialistischen Staat werden für die westlichen Alliierten die Balkanstaaten immer mehr zu einer strategischen Manövriermasse. Als die Rote Armee bereits in Rumänien, Bulgarien und Ungarn steht, geht es Roosevelt und Churchill um "Schadensbegrenzung", um das Abstecken von Einflußsphären zwecks Eindämmung des sowjetischen Vorstoßes nach Europa. Mit Stalin wird vereinbart, daß der Sowjetunion in Rumänien und Großbritannien in Griechenland zu 90 Prozent die politische Neuordnung zusteht; außerdem der SU zu 75 Prozent Bulgarien, während für Ungarn und Jugoslawien halbe-halbe gemacht wird.
Die Praxis sieht anders aus. In Griechenland kommt es zu einem mehrjährigen Bürgerkrieg, Jugoslawien befreit sich dank Titos Nationaler Befreiungsarmee nahezu aus eigener Kraft und wird nach dem Bruch mit Stalin 1948 eine Position zwischen den Blöcken einnehmen. Die von den Nazis gezogenen Grenzen werden grundlegend revidiert, mit ein paar Veränderungen werden die Grenzen von 1919 wieder hergestellt. Volksfrontregierungen werden gebildet, in denen die Kommunisten bald die Macht übernehmen; die Muster der Machtübernahmen ähneln sich, Angelpunkt ist der stalinistische Sozialismus. Jugoslawien und zu einem gewissen Grad Albanien stellen dank der Partisanenbewegungen Sonderfälle dar, hier erfolgt die Machtübernahme unmittelbar.
Ideologische Kämpfe mit nationalen Zuordnungen
Man könnte die kommunistische Herrschaft als einen Versuch sehen, die nationalen Problematiken zu entschärfen durch Konzentration der Politik auf die soziale Frage. Es ist jedoch eine Herrschaft, die, abgesichert durch die Rote Armee bzw. durch die jeweiligen sogenannten Volksarmeen, jede Forderung nach nationaler Unabhängigkeit von vornherein erstickt - oder, wie der Ungarn-Aufstand zeigt, gewaltsam niederschlägt. Breschnews völkerrechtswidriges Diktum der begrenzten Souveränität ist auch Ausdruck der dogmatischen Haltung der Kommunisten zur nationalen Frage.
Interessant ist auch, daß Tito nie Zweifel daran gelassen hat, die Kosovo-Frage im "jugoslawischen Sinn" zu lösen. Die Beschlüsse der Bujani-Konferenz (1944), die sowohl die Vereinigung im Rahmen einer Balkan-Föderation als auch die nationale Selbstbestimmung der Albaner im Kosovo inklusive Recht auf Lostrennung beinhaltet haben, sind von der Parteiführung widerrufen worden. In den sechziger Jahren wird auch offiziell zugegeben, daß Zahlen der Volkszählungen verfälscht worden sind (aus Albanern sind "Türken" geworden) und es unter Beteiligung der UDBA, des kommunistischen Geheimdienstes, eine Reihe von Abschiebungen gegeben hat.
Auch die Verfassung von 1974, lange Zeit als Fortschritt in der Nationalitätenfrage bewertet, erweist sich immer weniger als integrativer Faktor. Schließlich zeigt sich auch in der Instrumentalisierung der sozialen Frage, die in Jugoslawien in den achtziger Jahren wieder mit aller Schärfe aufbricht, daß der Nationalismus trotz aller anderslautenden Beschwörungen problemlos überlebt hat - gerade auch bei den kommunistischen Führern.
Die ehemalige PRAXIS-Theoretikerin Zagorka Golubovic meint, "daß die Koexistenz der Völker im ehemaligen Jugoslawien kein echtes Fundament erhalten hat, das ihr wirklich einen höheren Grad der Integration ermöglicht hätte, weil ideologische Elemente als grundlegende Integrationsfaktoren aufgestellt wurden: Der Bund der Kommunisten Jugoslawiens und der sozialistische Staat sowie die einheitliche Ideologie - anstatt der Entwicklung eines gemeinsamen kulturellen Raumes, allerdings auf der Grundlage des Reichtums der nationalen Kulturen." (Dardania 2/97, S. 70) Tatsächlich wird in jeder größeren Krise in Jugoslawien die nationale Karte gespielt; Leidtragende sind vor allem muslimische Bosnier und Albaner, von denen eine unbekannte Zahl zwangsausgesiedelt wird.
Auffallend ist, daß die "ideologischen Kämpfe" im BdKJ meist nationale Zuordnungen haben. Milosevic spricht schon 1985 davon, daß der Nationalismus dem Kommunismus folgen wird - ein Signal an die großserbischen Intellektuellen. Mit dem Zerfall des Sozialismus funktioniert die Nationalismusfalle vollends, da es den Angehörigen der Völker nicht ermöglicht worden ist, sich zu freien Bürgern zu entwickeln, denn die bürgerlichen Rechte und Freiheiten sind ihnen vorenthalten worden.
Das ist der springende Punkt für das rasche Hochkochen der verschiedenen Nationalismen in Südosteuropa. Der Sozialismus hat die nationalen Konflikte nur vorübergehend kontrolliert, bereits in den achtziger Jahren brechen einige wieder auf (Ceausescus "Dorfbereinigungsprogramm", die Vertreibung der bulgarischen Türken, die nationalistische Mobilisierung in Serbien gegen die Kosovaren usw.). Mit der Wende öffnen sich zwei Möglichkeiten: der zivilgesellschaftliche Weg einer demokratischen, multikulturellen Republik, die sich nicht über die Volkszugehörigkeit definiert; oder der nationalstaatliche Weg einer völkisch definierten Republik mit meist eingeschränkter demokratischer Ausstattung. Aufgrund des völligen Mangels an demokratischen und zivilgesellschaftlichen Traditionen fungiert der Nationalismus als Schutzschild, der angeblich den Transformationsschock des plötzlichen Einbruchs des Kapitalismus auffangen soll (Slavoj Zizek), vor allem aber den politischen Eliten als ideologisches Instrument zur Durchsetzung ihrer Machtinteressen dient.
Die Reden von der "überraschenden Wiederkehr des Nationalismus" oder vom "neuen Nationalismus" tragen wenig bei, das Phänomen in Südosteuropa zu erklären. Man muß eines sehen: Es hat hier keine Aufklärung gegeben, die Ideen der bürgerlichen Revolution sind Importe gewesen, ebenso der Marxismus. Dagegen sind die jeweiligen Nationalismen bodenständige Ideologien mit umfangreicher parawissenschaftlicher Auspolsterung, vielfach populär und populistisch vermittelt. Immer setzen sie an real existierenden Problemen an, die sich aus den Verfilzungen und Überlagerungen ethnischer und sprachlicher Räume ergeben, durch die Grenzen verlaufen, die aufgrund bestimmter Machtkonstellationen meist als Kriegsresultate gezogen worden sind. Letztlich ist auch die Geschichte Südosteuropas die leidvolle Geschichte seiner Grenzen.
Balduin Winter
Anmerkungen:
1) Grenzwall des Römischen Reiches
2) Kirchenspaltung
3) mit eigenem Oberhaupt
4) bis 1924 der Hof und Palast des Sultans von Konstantinopel, auch die türkische Regierung
Literatur:
Skënder Gashi, Christine von Kohl (Hg.): Die Wiederkehr der albanischen Frage - Ihre Bedeutung für den Balkan und Europa. Dardania, Band 1 und 2 (Nr. 6 und 7/1997).
Krzysztof Pomian: Europa und seine Nationen. Aus dem Französischen von Matthias Wolf. Berlin (Wagenbach), 1990.
István Bibó: Die Misere der osteuropäischen Kleinstaaterei. Aus dem Ungarischen von Béla Rásky. Frankfurt (Verlag Neue Kritik), 1992.
Joscha Schmierer: Die neue Alte Welt oder wo Europas Mitte liegt. Ein Essay. Klagenfurt/Celovec (Wieser), 1993.
Edgar Hösch: Geschichte der Balkanländer. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart. München (C.H.Beck), 1988.
Michael Weithmann (Hg.): Der ruhelose Balkan. Die Konfliktregionen Südosteuropas. München (dtv), 1993.
Nationalismus am Ende des 20. Jahrhunderts. PROKLA, Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft. Heft Nr. 87. Berlin (Rotbuch), 1992.
Bogdan Bogdanovic: Der verdammte Baumeister. Erinnerungen. Aus dem Serbischen von Milo Dor. Wien (Zsolnay), 1997.