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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 427 / 10.6.1999

Israel: Multikulti und Freihandel

Wahlsieger Barak soll einen "Neuen Nahen Osten" schaffen

Ehud Baraks deutlicher Wahlsieg gegen Benjamin Netanjahu bereits im ersten Wahlgang am 17. Mai 1999 wurde in Israel mit einer Welle von Euphorie begrüßt. Viele beschreiben die dreijährige Regierungszeit Netanjahus als einen "bösen Traum", von dem sie nun erwacht seien.

Die überwiegende Mehrheit der kulturellen und wirtschaftlichen Eliten des Landes sowie die Medien überboten sich bereits während des Wahlkampfes in vernichtenden Urteilen über den scheidenden Regierungschef. Er wurde mit Reagan und Thatcher verglichen, als intriganter Machiavellist beschimpft und als "vogelscheuchenhafter Robocop" verhöhnt. Netanjahu erwiderte diese Abneigung mit einer populistischen Wahlkampagne, die auf die Ressentiments der "einfachen Leute" gegen das Establishment zielte.

Netanjahu wird vorgeworfen, er habe zur Krise der israelischen Wirtschaft und zur Verarmung breiter Bevölkerungsschichten beigetragen. Ihm wird nachgesagt, er habe "Haß gesät", die verschiedenen vertikalen Konfliktlinien in der israelischen Gesellschaft (etwa zwischen religiösen und säkularen, europäischen und arabischen Juden) verschärft und für sein eigenes politisches Überleben genutzt; außerdem habe er der Korruption im Staatsapparat Vorschub geleistet.

Seine radikale nationalistische Rhetorik und seine demonstrative Kraftmeierei gegenüber Palästinensern und (was ihm weitaus übler genommen wurde) gegenüber der US-Regierung stießen auf breite Ablehnung. Im Falle seiner Wiederwahl, so eine verbreitete Ansicht, sei es nur eine Frage von Monaten bis zum nächsten großen Nahost-Krieg.

Modernisierung
und Marginalisierung

Barak hingegen wird als die neue Lichtfigur gehandelt, die den von Netanjahu hinterlassenen Scherbenhaufen auffegen soll. Er sei "der Heiler", welcher den liberalen und demokratischen Charakter Israels stärken, soziale Widersprüche verringern, vertikale Konfliktlinien in der Gesellschaft entschärfen und Frieden mit den Palästinensern und den arabischen Nachbarstaaten im Sinne seines Mentors Yitzhak Rabin schließen könne.

Seine Wahlkampagne war darauf ausgerichtet, ihn als integrative Persönlichkeit, als moralisch glaubwürdigen und gleichzeitig starken Führer darzustellen. Qualitäten, die angeblich seit jeher von einem Generalstabschef der israelischen Armee verlangt werden. Barak wurde nicht ohne Grund als "bester Soldat" gepriesen, den Israel jemals hervorgebracht habe. Dazu wurde das Profil der sozialdemokratischen Arbeitspartei verringert, deren Vorsitz Barak seit 1996 innehat. Die Partei wird allgemein mit den meist aus Osteuropa stammenden zionistischen Gründungseliten und mit deren Arroganz gegenüber jüdischen MigrantInnen aus mittelöstlichen Ländern identifiziert.

Mit der Unterstützung wichtiger Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, vor allem des aus Marokko stammenden ehemaligen Außenministers David Lévy und dessen Gescher-Partei (zu deutsch: Brücke, sic!), trat Barak als Vorsitzender einer Liste an, die sich "Ein Israel" nennt. Obwohl sich viele andere anvisierte Allianzen zerschlugen, zog die Kampagne. Der aus Baghdad stammende kurdischstämmige Likud-Rebell Yitzhak Mordechai konnte als Kandidat der neuen Zentrumspartei für das Amt des Ministerpräsidenten nicht überzeugen. In Umfragen kam er nur auf sieben Prozent. Einen Tag vor der Wahl zog Mordechai seine Kandidatur zugunsten Baraks zurück und erwies sich damit als Königsmacher.

Die Freude über Netanjahus Abwahl ist nachvollziehbar. Die Licht-und-Schatten-Symbolik und die Selbstzufriedenheit, welche die öffentliche Meinung in Israel seit den Wahlen prägen, sollten jedoch mißtrauisch machen. Die vertikalen Konfliktlinien in der israelischen Gesellschaft, die Netanjahu manipulativ für sich zu nutzen versuchte, bestehen seit Gründung des Staates Israel.

Die aus Europa stammenden sozialdemokratischen israelischen Gründungseliten, die das Land bis 1977 unangefochten regierten und nun mit einem Paukenschlag wieder an die Macht gekommen sind, verfolgten eine anti-religiöse und auf die Assimilierung "traditioneller" ethnischer Identitäten in eine "moderne" jüdisch-israelische Nation zielende Politik. Sie orientierten sich am Ideal westeuropäischer Demokratien und tolerierten mittelöstliche kulturelle Einflüsse und religiöse Traditionen im besten Fall als Folklore.

Diese Politik ging mit in einer bis heute fortdauernden ökonomischen wie geographischen Marginalisierung von jüdischen EinwanderInnen aus mittelöstlichen Ländern einher. Dies konterkarierte den erklärten integrativen Nationalismus der zionistischen Gründungseliten. Lange Zeit konnte dieses Konfliktpotential jedoch unter Kontrolle gehalten werden - dank der kontinuierlichen Enteignung und Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung und der dadurch zementierten Konfrontation Israels mit seinen arabischen Nachbarn sowie aufgrund des fortdauernden Wachstums der israelischen Wirtschaft.

Mit dem Beginn der 90er Jahre veränderten sich die politischen Spielregeln. Der von der sozialdemokratischen Regierung Rabin/Peres initiierte Oslo-Prozeß ist unter anderem der Einsicht der israelischen Eliten zu verdanken, daß eine politische Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes (einschließlich eines territorialen Kompromisses) Voraussetzung für den Erfolg der israelischen Wirtschaft unter den Bedingungen der Globalisierung sei. "Oslo" war Teil einer strategischen Umorientierung der israelischen Eliten, die eine Integration Israels als regionale Führungsmacht in eine zu schaffende mittelöstliche Freihandelszone zum Ziel hatte.

Mit den Oslo-Verträgen wurde dem zuvor im israelischen Diskurs weitestgehend für illegitim erklärten nationalen Kampf der palästinensischen Bevölkerung plötzlich eine begrenzte Legitimität zugestanden. Die jüdisch-israelische Bevölkerung wurde mit der Aussicht auf einen, wenn auch vor allem symbolischen Akt des Verzichts zugunsten der Palästinenser konfrontiert. Parallel dazu wurde die noch in den 80er Jahren eher protektionistische und auf einem starken öffentlichen Sektor basierende Ökonomie zügig nach neo-liberalen Kriterien umstrukturiert.

Sozialer Protest

Dies führte zu einer Verschärfung der sozialen Widersprüche innerhalb der jüdisch-israelischen Gesellschaft. Da deren soziale Schichtung und geographische Verteilung entlang ethnischer Linien verläuft, führte dies nach Oslo wie in vergleichbaren anderen Ländern zu einer verstärkten Politisierung ethnischer, kultureller und religiöser Identitäten.

Bereits bei den Parlamentswahlen 1996 äußerte sich diese Tendenz innerhalb der jüdisch-israelischen Bevölkerung beispielsweise im Wahlerfolg der religiösen Shas-Partei, die eine populistische Mischung zwischen traditioneller sephardischer Religiösität, sozialem Protest und jüdischem Nationalismus vertritt und ein Sprachrohr marginalisierter Schichten mittelöstlicher Provenienz sein will.

Was haben verschärfte soziale Widersprüche unter der jüdisch-israelischen Bevölkerung mit einer Ablehnung der Oslo-Verträge zu tun? Marginalisierte jüdische Bevölkerungsschichten stimmten bei den Parlamentswahlen 1996 überwiegend gegen "Oslo" und für eine Regierung, die in ihrer neo-liberalen Radikalität die sozialdemokratische Arbeitspartei weit übertrifft. Dies erklärt sich aus der Tatsache, daß die Arbeitspartei mit der Arroganz der zionistischen Gründungseliten identifiziert wird und zusätzlich aufgrund der Vernachlässigung peripherer Regionen während ihrer Regierungszeit 1992-96 für Angehörige dieser Schichten nicht wählbar ist. Der von Peres viel zitierte "Neue Nahe Osten", dessen Ouvertüre die Oslo-Verträge sein sollten, versprach den marginalisierten jüdischen Bevölkerungsschichten keine Vorteile.

Im Gegenteil: Die Liberalisierung der israelischen Ökonomie und der wirtschaftliche Aufschwung während der Regierungszeit Rabin/Peres gingen zu ihren Lasten. Während etwa die HighTech-Industrie boomte, kam es zu starken Einbrüchen in der Landwirtschaft und in arbeitsintensiven Industriezweigen wie der Textilindustrie, die meist in peripheren Regionen angesiedelt sind und in denen überwiegend jüdische ArbeiterInnen mit mittelöstlichem Hintergrund arbeiten. Das Wahlergebnis von 1996 und die Aufsplitterung des ehemals hegemonialen zionistischen Identitätsdiskurses sind zu einem großen Teil Ausdruck des sozialen Protestes marginalisierter jüdischer Bevölkerungsschichten gegen die Staatseliten.

Allerdings waren die Leistungen der Regierung Netanjahu etwa in den Bereichen Arbeitnehmerrechte, Lohnpolitik und im Gesundheitswesen weitaus verheerender als die ihrer Vorgängerin. Gleichzeitig zogen sich internationale Investoren, für die der israelische Markt nach Oslo attraktiv geworden war, wegen des erhöhten Kriegsrisikos wieder zurück. Auch die Tourismusindustrie erlitt deutliche Einbußen. Washington zeigte sich genervt.

Anders als früher hat Netanjahus Versuch, seine Position durch eine Dämonisierung der Palästinenser zu stärken, bei großen Teilen der jüdisch-israelischen Bevölkerung nicht mehr gewirkt - vor allem unter den diesmal wahlentscheidenden EinwanderInnen aus der ehemaligen Sowjetunion. Ausbleibende Attentate auf israelische Zivilisten und der eher jämmerliche Zustand sowohl der palästinensischen Administration als auch des palästinensischen Widerstandes mögen dazu beigetragen haben.

Freilich ist diese Entwicklung weniger einem etwaigen plötzlichen Mitgefühl unter jüdischen Israelis mit der palästinensischen Bevölkerung zu verdanken als vielmehr den allzu durchsichtigen Versuchen Netanjahus, die Öffentlichkeit mit Hilfe dieser Rhetorik "für dumm zu verkaufen". Die diesjährigen Wahlen wurden daher vor allem aufgrund von innenpolitischen Themen entschieden.

Baraks mögliche Koalitionspartner

Barak will seine aus seinem überwältigenden Wahlsieg resultierende sehr starke Position nutzen, um eine möglichst breite Koalition zu bilden. Er wird möglichst viele politische Gegner in diese Koalition einbinden. Immerhin ist die Anzahl der im Parlament vertretenden Parteien von 11 auf 15 angestiegen. Die beiden ehemaligen Volksparteien Likud und Arbeitspartei verfügen zusammen nur über 45 der 120 Mandate.

Zu den für Barak wertvollsten potentiellen Koalitionspartnern zählt die von 10 auf 17 Mandate gewachsene Shas-Partei, welche trotz der Verurteilung ihres Vorsitzenden Der'i vor dem Obersten Gerichtshof wegen Veruntreuung von Staatsgeldern und Bestechung im März 1999 die große Gewinnerin dieser Wahl ist. Weitere wichtige Partner wären der von 32 auf 19 Mandate dezimierte und seiner kreativsten Köpfe beraubte Likud-Block, die über 10 Mandate verfügende säkulare links- liberale Meretz-Partei (auch wenn sie bislang öffentlich jede Zusammenarbeit mit der als "fundamentalistisch" verteufelten Shas-Partei ablehnt) sowie die Partei der russischen EinwanderInnen, Yisrael Be'Aliya, mit 6 Mandaten.

Es bleibt abzuwarten, ob es nach der weitgehenden Erosion des herkömmlichen nationalen Blocks (der Likud-Rebell Benny Begin, Sohn von Menahem Begin, und seine neue nationale Sammlungspartei haben sogar den Einzug ins Parlament verpaßt) in der neuen Knesset überhaupt eine ernstzunehmende Opposition geben wird.

Barak wird eine Neuauflage der Politik vergangener Jahrzehnte anstreben. Er wird versuchen, unter einer versöhnlichen Rhetorik nationaler Einheit die Hegemonie der israelischen Gründungseliten erneut zu stabilisieren und den Diskurs von einer modernen und demokratischen jüdisch-israelischen Nation wieder zu stärken. Er wird dabei einige Zugeständnisse an den Multikulturalismus machen, der mittlerweile auch unter den säkularen israelischen Mittel- und Oberschichten als politisch korrekt gilt, sowie einige Maßnahmen zugunsten sozial schwacher Klientel verabschieden.

Keine Chance für Palästina

Eine genuine Politik der Umverteilung politischer, ökonomischer und kultureller Macht zugunsten marginalisierter jüdischer Bevölkerungsschichten ist von ihm jedoch nicht zu erwarten - schon gar nicht zugunsten der über die israelische Staatsbürgerschaft verfügenden palästinensischen Minderheit. Dadurch werden die Spannungen innerhalb der israelischen Gesellschaft nicht gelöst, aber vielleicht um einige Jahre vertagt, um danach um so deutlicher wieder auf die Tagesordnung zu kommen.

Außenpolitisch wird Barak sich an der von der Regierung Rabin/Peres anvisierten Integration Israels in eine zu schaffende mittelöstliche Freihandelszone orientieren. Deshalb wird er pragmatischer vorgehen als Netanjahu, vor allem bezüglich der besetzten Gebiete im Südlibanon und auf dem Golan. Jedoch stehen die arabischen Regierungen aufgrund der klaren Unterlegenheit ihrer Volkswirtschaften gegenüber der israelischen einer etwaigen mittelöstlichen Freihandelszone zu Recht sehr skeptisch gegenüber.

Die palästinensische Bevölkerung in den besetzten Gebieten schließlich wird auch weiterhin keine Chance haben, ein unabhängiges nationales Gemeinwesen in einem Maße durchzusetzen, das über bloße Symbolik, einige Brotkrumen, Landfetzen und feuchte Händedrucke hinausgeht. Eine einigermaßen wohlhabende und unabhängige palästinensische Volkswirtschaft wird sich im Hinterhof der mächtigen israelischen Ökonomie in diesen Zeiten der globalen Piraterie ohnehin nicht entwickeln können.

Achim Rohde