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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 427 / 10.6.1999

Je weiter die Anreise, desto lauter der Protest

EuromarschiererInnen, Erwerbslose und Linksradikale demonstrierten gegen Kölner EU-Gipfel

Rund 30.000 Menschen aus vielen europäischen Ländern demonstrierten am 29. Mai in Köln gegen Erwerbslosigkeit, Ausgrenzung, Rassismus und Krieg - wenige Tage vor dem EU-Gipfel. So schön, bunt und laut der Demotag auch war, er zeigte auch, daß die EU-Thematik im bundesdeutschen Protest- und Widerstandsspektrum noch nicht richtig verankert ist. Rund 2.500 Menschen folgten wenige Tage später dem Aufruf des linksradikalen Bündnisses und demonstrierten gegen den EU-Gipfel.

Eines scheint bei Demonstrationen des "Euromarsches" gesichert: Regenklamotten oder Pullover können zu Hause bleiben. Wie vor zwei Jahren in Amsterdam begleitete strahlender Sonnenschein die rund 30.000 Demonstrierenden am 29.5. in Köln. Temperaturen, die nach möglichst wenig Textilien am Körper drängten. Gut beraten war, wer einen Sonnenschutz auf dem Kopf hatte.

Nur die Kölner Einsatzleitung der Polizei hatte den Sonnenschutz falsch verstanden. Helme mit herunter gelassenem Visier dienen höchstens einem Hitze- und Aggressionsstau. Einsatzleiter Granitzka koordinierte seine Kräfte vom Hubschrauber aus und wollte anscheinend seine Jungs und Mädels am Boden im wahrsten Sinne des Wortes heiß machen auf Randale.

Da die Temperaturen und die volle Kampfmontur der Staatsbesoldeten noch nicht zum Kampfeinsatz ausreichten, wurde flugs vom Hubschrauber aus gesichtet, daß angeblich aus einem im Demozug mitfahrenden Bauwagen Hunderte von Zwillen ausgegeben wurden. Daß es sich dabei um eine vollkommene Wahrnehmungstrübung des Einsatzleiters handelte, war zwar offensichtlich, aber irgendein Unsinnsgrund für die Anwesenheit von 12.000 uniformierten Waffenträgern in der Stadt mußte gefunden werden.

Im Gegensatz zur Einsatzleitung und zu den hitzegeschädigten Sondereinheiten behielten die GenossInnen des antifaschistischen Blocks kühlen Kopf und ließen sich nicht provozieren. Daß es nicht zu übleren Auseinandersetzungen kam, ist einzig der Besonnenheit der DemoteilnehmerInnen zu verdanken, die allerdings auch nicht in Ehrfurcht vor dem Polizeiaufgebot erstarrten, sondern entschlossen auf ihrem Demonstrationsrecht beharrten.

Leider verzögerten die Polizeiprovokationen die Demo erheblich, so daß die Schlußkundgebung nicht mehr zu einem krönenden Abschluß dieses sehr bunten Events wurde. Der zeitweise eingekesselte Demozug erreichte den Kundgebungsplatz erst, als viele schon wieder auf dem Heimweg waren.

Die Demonstration war trotzdem ein Erfolg; sowohl zahlenmäßig, als auch von der internationalen Zusammensetzung. Etwa zwei Drittel der TeilnehmerInnen waren aus anderen europäischen Ländern angereist. Die größten Gruppen kamen aus Frankreich, insbesondere von den Erwerbslosengruppen von AC! (agir ensemble contre le chomage - Gemeinsam handeln gegen Erwerbslosigkeit) und den Basisgewerkschaften SUD und der CGT. Eine Delegation von Renault-Arbeitern war ebenso zu sichten wie ein kleinerer Block der LCR (Ligue communiste révolutionnaire).

Internationale Zusammensetzung

Ebenfalls sehr stark vertreten waren GenossInnen von Rifondazione Comunista aus Italien und ein international zusammengesetzter anarcho-syndikalistischer Block (sehr beeindruckend mit einem Meer, na ja, sagen wir See an schwarz-roten Fahnen, Transparenten und einer lautstarken kämpferischen Stimmung). Aus Griechenland prägten die weißblauen Fahnen der griechischen kommunistischen Partei KKE das Bild.

Deutlich als Block wahrnehmbar waren kurdische Menschen, deren zentrales Anliegen die Freiheit für Öcalan war, und einige linke türkische Gruppen. Mit einem größeren Transparent machten Frauen auf den im nächsten Jahr geplanten internationalen Marsch der Frauen gegen Armut und Gewalt aufmerksam, der mit Großdemonstrationen im Oktober 2000 in Brüssel bzw. New York enden soll.

Angeführt wurde die Demonstration von Euromarschierern, die sich einige Tage zuvor aus Brüssel bzw. Freiburg/ München auf den Weg gemacht hatten. In Köln trafen sie sich am Vortag der Demonstration mit der Euromarsch-Fahrraddemo und der Karawane "Geld oder Leben - für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen", die am 11. Mai in Prag startete und über Dresden, Wurzen, Leipzig, Braunschweig, Hannover nach Köln reiste. Die Interkontinentale Karawane - VertreterInnen von bäuerlichen und sozialen Bewegungen hauptsächlich aus Indien und Nepal - war ebenso dabei wie der ostdeutsche Arbeitslosenverband, andere Erwerbslosengruppen und antirassistische Initiativen. Auffällig war die Vielfalt an Gruppen und Initiativen und die thematische Breite.

Trotz dieser Vielfalt war die bundesdeutsche Beteiligung mit Sicherheit nicht zufriedenstellend. Hier müssen Euromarsch, Bündnis Köln 99 und andere Unterstützungsgruppen in nächster Zeit eine intensive "Ursachenforschung" und kritische Bilanzierung vornehmen. Fast gar nicht vertreten waren Gruppen der Friedensbewegung und der bundesdeutschen Gewerkschaften. Einzig eine größere Delegation der Gewerkschaft NGG (Nahrung, Genuß, Gaststätten), die seit ihrem letzten Gewerkschaftskongreß die Euromärsche unterstützt, wurde gesichtet.

Die Zusammenstellung der Redebeiträge der Auftaktkundgebung kann durchaus als programmatische Zielorientierung der Euromärsche verstanden werden. Der NGG-Vorsitzende Franz-Josef Möllenberg trat für ein sozialeres Europa ein, Pietro Maestri von der italienischen Antikriegskoalition für ein Europa ohne Nationalismus und Krieg.

Eine Möglichkeit, die Erwerbslosigkeit in Europa zu bekämpfen, sah Angelika Beier von der gewerkschaftlichen Koordinierungsstelle der Erwerbslosengruppen in Bielefeld in einer deutlichen Arbeitszeitverkürzung. Die Notwendigkeit einer internationalen Zusammenarbeit betonte Sister Philomine Mary aus Südindien für die Interkontinentale Karawane. Hasan Calhan vom Wanderkirchenasyl forderte gleiche Rechte für MigrantInnen.

Linksradikale Demo

Daß es auch eine andere Vorgehensweise der Polizei geben kann, zeigte ihr Verhalten bei der linksradikalen Demonstration am 3. Juni, also am ersten Tag des EU-Gipfels in Köln. Die Polizei zeigte zwar ebenfalls Präsenz, hielt sich aber mit Provokationen oder zu engem Spaliergehen zurück. So daß, entgegen allen Befürchtungen nach den Erfahrungen vom Samstag, die rund 2.500 TeilnehmerInnen ihre Demo wohlbehalten und in guter und kämpferischer Stimmung beenden konnte.

Thematisiert wurden im wesentlichen die Fragen Migration/Bleiberecht, Türkei/Kurdistan und Weltwirtschaft als Terrorregime. Längs dieser Themen ordneten sich neben einem großen Frauen- und Lesbenblock die DemoteilnehmerInnen ein.

Kurz vor der linksradikalen Beratungskonferenz kam es zu einer weiteren Spaltung in diesem Spektrum. Streitpunkt: die Einschätzung und Bewertung von nationalen Befreiungsbewegungen. Ein Konflikt, der das linksradikale Bündnis schon über Monate verfolgte und der kurz vor der Konferenz offen ausbrach. Die Solidarität mit nationalen Befreiungsbewegungen und eine gleichzeitige Kritik an ihnen ließen sich offensichtlich nicht unter einen gemeinsamen Konferenz-Hut bringen.

Die bunte internationale Demonstration in Köln am 29.5. hat wie die Demonstration vor zwei Jahren in Amsterdam gezeigt, daß mit den Euromärschen ein Netzwerk mit AC! als "ideologischem" und organisatorischem Zentrum geschaffen wurde, das eine konkrete europäische/internationale Zusammenarbeit möglich macht. Daß in Amsterdam die Stimmung doch wesentlich kämpferischer war, lag in der damaligen konkreten Kampf- und Aufschwungphase der französischen Erwerbslosen- und "Papierlosen"-Bewegung. Offensichtlich befindet sich AC! zur Zeit in einer Stabilisierungs- und Orientierungsphase.

Eine europäische Zusammenarbeit der radikaleren Linken wird auf Dauer nur dann fruchtbar sein, wenn aus den einzelnen Ländern/Regionen eigenständige Beiträge eingebracht werden. Deswegen ist darüber zu reden, wie sich Informationsaustausch und Diskussion zwischen den beteiligten Gruppen auf europäischer Ebene intensivieren lassen und wie daraus eine stärkere gemeinsame Praxis entwickelt werden kann.

An inhaltlichen Themen wird es mit Sicherheit nicht mangeln, wie die Beschlüsse des jüngsten EU-Gipfels zeigen. Neben den bisherigen Schwerpunktthemen von Euromarsch wird insbesondere die Entwicklung und Stärkung einer eigenständigeren EU Außen- und Kriegspolitik eine radikale Linke vor neue Aufgaben stellen. Dies setzt Versuche voraus, Bereichsabgrenzungen zu durchbrechen. In Zukunft wird das Nebeneinander der verschiedenen Ansätze nicht ausreichen, um der herrschenden EU-Politik dauerhaft eine Politik von unten entgegen zu setzen.

Die strategische Orientierung der Euromärsche und der europäischen Koordination wird dabei ebenfalls diskutiert werden müssen. Darunter fällt insbesondere eine kritische Bewertung der Rolle und Funktion der bundesrepublikanischen Gewerkschaftslandschaft. Unterschriften unter einen GewerkschafterInnen-Aufruf zur Kölner Demonstration sind zwar schön und gut. Allerdings bedeuten sie leider wenig, wenn aus diesem Spektrum kaum jemand zu sehen ist (Ausnahme NGG). In der Bundesrepublik stehen wir zusätzlich vor der Situation, daß (abgesehen von regionalen Ausnahmen) keine Erwerbslosenbewegung existiert, jedenfalls keine, die über eine gesellschaftliche Verankerung verfügt.

Des weiteren ist das inhaltliche Defizit bezüglich der Beschäftigung mit Fragen der europäischen Politik und deren Auswirkungen innerhalb der bundesdeutschen Linken offenkundig. In der Regel beschränkt sich das Wissen auf Auswirkungen der Schengenpolitik und eventuell auf europäische Repression. Man wird bei der Bilanzierung der diesjährigen Euromärsche ernsthaft diskutieren müssen, ob und wie dieser Mangel in nächster Zeit behoben werden kann und welche inhaltlichen Schwerpunkte gesetzt werden müssen.

Die Vorbereitungen zur nächsten Großaktion in der zweiten Jahreshälfte 2000 in Paris beim nächsten EU-Gipfel können dafür auf europäischer und nationaler, aber auch auf örtlicher Ebene genutzt werden. Davor wird es anläßlich des nächsten EU-Gipfels in Helsinki im kommenden Dezember einen europäischen Aktionstag gegen Billigjobs und Zwangsarbeit geben.

gw.