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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 428 / 8.7.1999

Die Grenze im Landesinneren

Interview mit Sasha Khokha (Oakland) zur US-Einwanderungspolitik

Im Büro des Nationalen Netzwerks für die Rechte von ImmigrantInnen und Flüchtlingen (NNIRR) im kalifornischen Oakland ist Sasha Khokha für Öffentlichkeitsarbeit zuständig.

In den letzten Jahren hat sich die US-Einwanderungspolitik massiv verändert. Was waren die wichtigsten Stationen?

1986 wurde der Immigration Control and Reform Act verabschiedet. Damit wurden einerseits mehrere Millionen Menschen ohne Papiere, vor allem mexikanische und zentralamerikanische EinwanderInnen, legalisiert und später eingebürgert. Andererseits führte das Gesetz Sanktionen gegen Unternehmer ein. Erstmals konnten Arbeitgeber bestraft werden, die Leute ohne Arbeitserlaubnis beschäftigten, ebenso wie die ArbeiterInnen selbst. Wir sahen darin eine sehr gefährliche Strategie, was sich mit der Zeit leider bewahrheitet hat. Das Netzwerk entstand im Laufe des Widerstandes gegen diesen Teil des Gesetzes. Seitdem ist es eine unserer vordringlichsten Aufgaben zu zeigen, wie die Immigrationsgesetze als Werkzeug dienen, um Arbeitsrechte zu beschneiden und die Lebensbedingungen von EinwandererInnen zu diktieren.

Seit 1986 wurden die Einwanderungsgesetze immer restriktiver und die Grenze zu Mexiko militarisiert. Welchen Einfluß hatte dabei das nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA?

Die neoliberale Wirtschaftspolitik im Zuge der NAFTA hat in Mexiko den Auswanderungsdruck massiv verstärkt. Und ich glaube nicht, daß wir bereits den vollen Effekt absehen können, da viele NAFTA-Bestimmungen noch nicht umgesetzt wurden. Ein Beispiel sind aber die Veränderungen in der mexikanischen Landwirtschaft. Viele KleinbäuerInnen sind jetzt der Konkurrenz des multinationalen Agrobusiness ausgesetzt und wurden so von ihrem Land vertrieben. Menschen werden in die Städte und in die Grenzregion gedrängt, wo die Maquiladoras - die Weltmarktfabriken - angesiedelt sind. Und von dort aus treibt es die Leute weiter in die USA.

Der nächste Einschnitt kam 1996.

Ja. Damals wurde das bislang grausamste Immigrationsgesetz verabschiedet, der Illegal Immigration Reform and Immigrant Responsibility Act. Eine Bestimmung darin sieht vor, daß die Einwanderungspolizei Immigration and Naturalization Service (INS) massiv verstärkt wird, an der Grenze und im Landesinneren. Seitdem sind auch solche Gebiete einer massiven Präsenz des INS ausgesetzt, in denen es vorher keine Anti-Immigrations-Beamten gab. Lange Zeit war der Großteil des INS-Personals an der Grenze zwischen den USA und Mexiko stationiert. Jetzt gibt es Beamte in Bundesstaaten wie Nebraska, Tennessee oder North Carolina.

Seit 1996 bekommen wir unzählige Anrufe, in denen Leute berichten: "Sie waren gerade hier und haben die ganze Gemeinde durchsucht. Sie trieben die Leute um zwei Uhr morgens aus ihren Häusern, stießen sie herum. Die Männer waren in Unterwäsche und durften sich nicht anziehen." Die Grenze wurde ins Landesinnere verschoben.

Kampagne gegen Razzien

Ihr habt daraufhin eine INS Raids Task Force gegründet, eine Arbeitsgruppe, die sich mit den INS-Razzien beschäftigt.

Genau. Wir wollten uns auf die Erfahrung derer stützen, die bereits seit Jahren die Übergriffe an der Grenze dokumentieren. Wir wollten, daß diese ihr Wissen mit Leuten aus dem Landesinneren teilen. Wichtig war uns vor allem, EinwanderInnen über ihre verfassungsmäßigen Rechte gegenüber dem INS aufzuklären. Zudem wollten wir in der Lage sein, eine möglichst große Zahl dieser neuen Fälle zu dokumentieren. Denn oft werden Leute abgeschoben, ohne daß wir davon erfahren, weil die ZeugInnen total verängstigt sind.

Unser Ziel war es, die INS-Strategie anzuprangern, nach der Menschen in ihren Wohnungen, an ihren Arbeitsplätzen und in ihren Gemeinden verfolgt und ihre Grundrechte verletzt werden. Zugleich wollten wir zeigen, daß der INS sein erklärtes Ziel - den Stopp der Einwanderung - mit diesem Konzept sowieso nicht erreichen kann. Denn diejenigen, die abgeschoben werden, sind sowieso schnell wieder zurück. Es gibt schlicht die wirtschaftlichen Verhältnisse und die Familienbeziehungen.

Zu Anfang organisierten wir mehrere Konferenzen, auf denen Leute aus Oregon, New York und Florida sich austauschten. "Was für Fälle gibt es bei euch?" "Wie klärt ihr die Leute über ihre Rechte auf?" Allein dabei konnten wir schon viele Informationen zusammentragen. Am Schluß hatten wir dann ein Treffen in Los Angeles zum Thema der Grenzüberwachung, auf dem über 400 Leute aus den ganzen USA teilnahmen. Dort entschieden wir, eine nationale Aktionswoche gegen die Razzien zu organisieren. Daraufhin gab es im vergangenen Oktober in 27 Städten Demonstrationen und verschiedene Aktionen. Zudem veröffentlichten wir einen nationalen Bericht, auf den wir viel Presseresonanz bekamen. Sogar die "New York Times" berichtete. Wir schafften es, das Thema auf die politische Tagesordnung zu bringen. Vor einem Monat verkündete der INS schließlich, daß die Razzien wegen ihrer Ineffektivität eingestellt werden.

Das hört sich nach einem großen Erfolg an.

Das Problem ist, daß sie neue Strategien entwickeln. Der INS arbeitet jetzt wesentlich enger mit der normalen Polizei zusammen und macht mit Unternehmen Hinterzimmergeschäfte: "Wenn ihr uns Einsicht in eure Personalakten gewährt, sagen wir euch, wessen Papiere nicht in Ordnung sind, und dann feuert ihr diejenigen einfach." Denn viele Unternehmen hatten sich darüber beschwert, daß die INS-Razzien die Produktion unterbrechen, ArbeiterInnen belästigt und Beschäftigte herausgepickt werden, die US-BürgerInnen sind oder eine Arbeitserlaubnis haben.

Wir haben also nicht gewonnen. Die Verantwortung wurde schlicht auf die Arbeitgeber verschoben, die - entgegen dem Gesetz - aber auch nicht bestraft werden, wenn sie ArbeiterInnen ohne Papiere anheuern. Wir meinen allerdings auch nicht, daß darauf der Schwerpunkt liegen sollte. Die Kriminalisierung von arbeitenden Menschen ist nicht die Lösung. Unternehmen sollten bestraft werden, wenn sie Arbeitsrechte verletzen oder in den Betrieben Sweat-shop-Bedingungen haben. Aber wir kennen Firmen, in denen der Arbeitgeber damit drohte, den INS in den Betrieb zu rufen, wenn ArbeiterInnen sich über die Arbeitsbedingungen beschwerten und eine Gewerkschaft gründen wollten.

Eine Bestrafung für die Anstellung von ArbeiterInnen ohne Papiere geht an der Frage von Migration vorbei. Es treibt die Leute nur noch weiter die Illegalität. Daher fordern wir, daß die Milliarden Dollar, die in die Grenzüberwachung gesteckt werden, lieber für die Überwachung der Arbeitsgesetze verwendet werden.

Es gibt noch einen weiteren Grund dafür, daß wir nicht gewonnen haben. Wir konnten nicht deutlich machen, warum ArbeiterInnen, die letztlich auf ihre Art an der NAFTA teilnehmen, das Recht auf Mobilität haben - daß Wirtschafts-Migration legitim ist. Für die US-Öffentlichkeit ist dies schwer nachzuvollziehen. Zumal die Anti-Immigrations-Kampagne sehr stark ist und die Suche nach Sündenböcken für soziale und wirtschaftliche Probleme in vollem Gange ist. Außerdem spielt da die ganze Diskussion um race (1) rein. In dieser Frage verändert sich hier derzeit sehr viel, was eng mit der Debatte um Immigration verwoben ist. Denn EinwanderInnen verändern die Zusammensetzung der Bevölkerung, und Leute fühlen sich davon bedroht.

Konkurrenz ganz unten

Es heißt immer wieder, daß es Probleme zwischen EinwanderInnen und eingesessenen Minderheiten - vor allem mit Schwarzen - gibt. Als Grund wird angegeben, daß sie um die selben Arbeitsplätze oder die selben Wohnungen konkurrieren.

Gerade die Diskussion um Verdrängung von Schwarzen auf dem Arbeitsmarkt ist ziemlich aufgeheizt. Mit der Botschaft, daß Immigration nicht im Interesse von Schwarzen sei, ist es der Rechten gelungen, in farbige Gemeinden einzudringen. Es gibt zum Beispiel eine ultra-konservative Gruppe, die eine Zeitung mit dem Namen "Immigration Impact" herausbrachte. Dort "dokumentierten" konservative schwarze Intellektuelle die negativen Folgen von Einwanderung für African Americans. Einige von uns taten das als typisch rechte Propaganda ab. Aber diese Argumente überzeugen manche Leute. Daher müssen wir uns damit beschäftigen.

Beide Seiten stellen diese Problematik meist nur vereinfacht dar. Das muß ich auch als Selbstkritik sagen. Viele von uns haben bisher dogmatisch verneint, daß so etwas wie Verdrängung überhaupt stattfinden kann. Mittlerweile legen aber verschiedene zuverlässige Studien nahe, daß es ein gewisses Maß an Verdrängung von African Americans durch Immigration gibt. Das müssen wir anerkennen. Aber meine Frage ist: Reden wir dabei über Zahlen und Dollars? Oder reden wir über Menschenrechte, Würde und die Möglichkeit zu arbeiten? Und, wie wir alle zusammenkommen können, um das Wirtschaftssystem zu zwingen, daß die Menschen ihre Bedürfnisse erfüllen können.

Was heißt das konkret?

Es ist wichtig, zweierlei zu berücksichtigen: Das eine ist die Wahrnehmung und wie sie das Verständnis der Leute beeinflußt. Beispielsweise war es bislang normal, in Hotels schwarze Putzfrauen zu sehen. Jetzt sieht man Mexikanerinnen die Zimmer sauber machen. So etwas sagt den Leuten, was in der Wirtschaft passiert - egal wie repräsentativ die Eindrücke sind. Solche Wahrnehmungen prägen die Einstellungen viel mehr als harte Daten. Und diese Wahrnehmungen sind sehr real. Daher müssen wir darüber reden.

Die andere Frage ist, wie die neuen Immigrantengruppen in das etablierte Schwarz-Weiß-Schema der race-Beziehungen in den USA passen. Dieses Paradigma hat zwar nie der Realität entsprochen, denn schon immer gab es Native Americans, und Chicanos/as lebten hier bereits, bevor der Südwesten Teil der USA wurde. Und AsiatInnen haben hier auch eine lange Geschichte.

Aber die Frage ist: Wie passen ImmigrantInnen in dieses Paradigma? Wie schnell lernen ImmigrantInnen dieses Schema? Denn wenn die Leute in die USA kommen, ist ihnen schnell klar, daß African Americans auf der untersten Stufe der sozialen Leiter stehen. Und diesen Platz wollen sie natürlich nicht selbst einnehmen. Komplizierter wird die Frage noch dadurch, daß EinwanderInnen selber noch eine gute Portion Rassismus mitbringen. Es gibt ja leider nicht nur in den USA eine Farbhierarchie. Auch in Lateinamerika und in Asien diktiert die Hautfarbe, wer Rechte hat.

Habt ihr Kontakte mit schwarzen Gruppen?

Ja, und wir wollen diese Kontakte noch intensivieren. Anfangs war das etwas problematisch. Gerade zu der Frage der Arbeitgebersanktionen gab es zwischen uns und eingesessenen Bürgerrechts-Organisationen wie der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) durchaus Unterschiede. Schließlich sprach sich die NAACP aber gegen Arbeitgebersanktionen aus.

Zudem gab es zu verschiedenen Themen, zum Beispiel hier in Kalifornien zur Proposition 187 (ein Referendum gegen "illegale" Einwanderung), bereits tragfähige Koalitionen mit schwarzen Prominenten wie Jesse Jackson. Gerade die Proposition 187 hat viele Diskussionen ausgelöst. Denn beide Seiten wollten schwarze Stimmen gewinnen. Aber leider sind wir noch nicht über den Kreis derer hinausgekommen, die sowieso schon am Aufbau von multi-ethnischen Beziehungen arbeiten.

Globalisierung

Ihr beginnt jetzt ein neues Projekt: "Building a Race and Immigration Dialogue in the Global Era" (BRIDGE). Was verbirgt sich dahinter?

Wie gesagt gibt es in den USA viele Diskussionen und Projekte zu den race-Beziehungen. Die meisten sind aber unzulänglich. Erstens berücksichtigen sie nicht ausdrücklich Immigration. Sie fragen nicht, wie Einwanderung die race-Beziehungen verändert hat. Zweitens laufen die meisten nur auf der zwischenmenschlichen Ebene ab. Nach dem Motto: "Ich will mich gut fühlen, du sollst dich gut fühlen." Es wird nicht auf die strukturellen, die ökonomischen Komponenten geschaut.

Uns geht es vor allem um die Dimension der Globalisierung. Daher starten wir BRIDGE im Juni in sieben Städten in einer Pilotphase. Als erstes wollen wir eine Diskussion zwischen AktivistInnen aus Gewerkschaften, religiösen Gruppen, Einwanderungs- und Bürgerrechtsorganisationen initiieren. Damit wollen wir eine Art lokaler Bestandsaufnahme machen, welchen Einfluß Globalisierung und Einwanderung in der jeweiligen Stadt haben und wie sie die race-Beziehungen verändern. Im Anschluß planen wir ein achtteiliges Trainingsprogramm für die TeilnehmerInnen. Auf diese Weise wollen wir einige grundlegenden Fragen tiefgehender behandeln.

Neben den race-Beziehungen behandeln wird auch andere Fragen, beispielsweise Einwanderung und Ökologie. Auch darüber wird hier groß diskutiert. ImmigrantInnen werden für Überbevölkerung und Umweltprobleme verantwortlich gemacht. Mit was für Argumenten kannst du so etwas begegnen?

Und Globalisierung ist ein Schlüsselthema. Denn die Leute wissen nicht wirklich, was das heißt. In Lateinamerika sind Neoliberalismus und Globalisierung in aller Munde. In Ländern, die offensichtlich negativ von diesem Phänomen betroffen sind, wissen die Menschen darüber Bescheid. Aber wir in der Bewegung für Einwandererrechte haben es bislang noch nicht allzu gut begriffen, diese Verbindung zu ziehen.

Werner Lamottke,

Informationsstelle Lateinamerika, Bonn

Das Gespräch wurde am 29. April 1999 in Oakland geführt.

Anmerkung

(1) Das Wort race ("Rasse") wird in den USA quer durch alle politischen Spektren und Bevölkerungsgruppen benutzt, um Menschen nach Hautfarben und sozio-kulturellen Hintergründen zu unterscheiden. Da das Wort "Rasse" im Deutschen andere Konnotationen hat, bleibt race hier unübersetzt.