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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 428 / 8.7.1999

Kriegsdiplomatie im Kosovo:

Die Betroffenen wurden nicht gefragt

Am 9. Juni unterzeichnete der britische Generalleutnant Mike Jackson mit Generaloberst Syetozar Marjanovic (Jugoslawischer Generalstab) und Generalleutnant Obrad Stevanovic (Serbisches Innenministerium) ein Waffenstillstandsabkommen für Jugoslawien. Das Papier war die Vorlage für die Resolution 1244, die der UN-Sicherheitsrat am 10. Juni verabschiedete. Das NATO-Bombardement Jugoslawiens, das am 24. März um 19:58 Uhr begann, wurde mit Verkündung der UN-Resolution am 10. Juni ausgesetzt. Am 20. Juni erklärte NATO-Generalsekretär Javier Solana offiziell das Ende der "Operation Allied Force" gegen Jugoslawien.

Wie kam es zu diesem Waffenstillstand, der der NATO weniger Kompetenzen einräumt als jener Teil des Rambouillet-Papiers, zu dessen Unterschrift die serbische Seite Mitte März bereit gewesen wäre?

Ausgangsbasis aller diplomatischen Bemühungen um den Kosovo waren zunächst die NATO-Forderungen von Rambouillet: Rückzug aller jugoslawischen Sicherheitskräfte, NATO-Protektorat für ganz Jugoslawien und ein späteres Referendum über den künftigen Status des Kosovo. Nachdem Jugoslawiens Präsident Milosevic mehrere NATO-Ultimaten zur Unterschrift dieses Drohfriedens verstreichen ließ, ging es der Militärallianz, die Ende April ihren 50. Geburtstag feiern wollte, um ihre Glaubwürdigkeit. Bomben sollten nun die serbische Unterschrift erzwingen. Doch trotz ihres imposanten Truppenaufmarsches an der Adria war die NATO auf einen längeren Krieg nicht vorbereitet, da sie wie im Falle Bosniens mit einem schnellen Einlenken Milosevics rechnete.

Erwartungsgemäß protestierte Rußlands Präsident Boris Jelzin gegen das NATO-Bombardement, UN-Generalsekretär Khofi Annan nannte die "Selbstmandatierung" der NATO eine "schwarze Stunde" für das Völkerrecht. Doch was die NATO wirklich irritierte, war das serbische Beharrungsvermögen. Zwei Wochen sahen die NATO-Regierungen ratlos gewaltigen Flüchtlingsbewegungen zu, bevor sie zur Linderung dieser Eskalationsfolgen das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) zur Hilfe riefen.

Gab es während der Rambouillet-Verhandlungen noch parallele Verhandlungsinitiativen von USA und EU, so endete diese Diplomatie mit Kriegsbeginn in der sonoren Forderung von US-Außenministerin Madelaine Albright, Milosevic müsse Rambouillet unterzeichnen. Nach obligatorischem Kettenrasseln erkannte Rußland an, daß es den Preis für eine direkte Konfrontation mit der NATO nicht zahlen konnte. Stattdessen übernahmen zunächst Primakov, später Viktor Tschernomyrdin die prestigeversprechende Rolle des Vermittlers.

Drohende Imageverluste erzwingt Gespräche

Der stagnierende Kriegsverlauf schwächte die politische Position der NATO. In Griechenland sprachen sich bereits Ende April über 90% der Bevölkerung gegen die NATO-Angriffe aus. Es kam sogar zu Anschlägen gegen Einrichtungen von NATO-Ländern. In Mazedonien, das zunächst bereitwillig nicht nur deutsche NATO-Truppen aufmarschieren ließ, kippte die Stimmung in der Bevölkerung angesichts der etwa 250.000 Kosovo-Flüchtlinge. Beim NATO-Newcomer Ungarn mehrten sich die Zweifel am neuen großen Bruder, der nun die Vojvodina mit einem hohen magyarischen Bevölkerungsanteil bombardierte. Im zunächst NATO-freundlichen Montenegro gab es kein Verständnis für die Bombardierung von Einrichtungen der jugoslawischen Sicherheitskräfte. Bulgarien, Rumänien, Bosnien und Kroatien klagten über ökonomische Milliardenausfälle in Folge der NATO-Angriffe. In Deutschland drohte den regierenden Grünen, die Basis davonzulaufen.

Anfang Mai hatte die NATO alle "strategisch wichtigen Ziele" in Jugoslawien bombardiert - ohne Einlenken der serbischen Führung. Nun wurden die Ziele erneut ins Visier genommen, ergänzt um "legitime strategische Ziele" wie Rundfunkgebäude, Parteizentralen, Kraftwerke, Stomnetze oder zivile Fabriken. Die Folge waren unpopuläre Pressemeldungen über "Kollateralschäden", zerstörte Wohnviertel, Züge, Busse und Irrläufer auf Bulgarien. Großbritannien forderte Bodentruppen, die USA entsandten A-10 und AH-64 Erdkampfflugzeuge, zögerten aber, sie der jugoslawischen Flugabwehr auszusetzen.

Diplomatisch wurde von russischer Seite bis Mai nichts erreicht. Jede harmonische Übereinkunft auf Milosevic' Sofa entpuppte sich nach Tschernomyrdins Abflug als gegenstandslos. Fünf Gründe drängten die NATO-Staaten Mitte Mai zum politischen Handeln:

- Im inoffiziellen Teil der Washingtoner NATO-Feierlichkeiten vom 24. April traten die amerikanischen und unterschiedlichen europäischen Einschätzungen über den Kosovo-Krieg zu Tage. Ein geschlossenes Handeln war nur noch für kurze Frist zu erwarten. Ein Disput oder Abbröckeln der NATO-Front auf dem Balkan hätte aber die NATO in eine Existenzkrise gestürzt.

- Nationale Alleingänge deuteten sich bereits an: Während in Griechenland der wichtige Transithafen Thessaloniki blockiert wurde, kündigte der französische Präsident Chaques Chirac humanitäre Hilfsflüge ins Kriegsgebiet an, um der Aufnahme von Flüchtlingen vorzubeugen. Deutschlands Außenminister Joseph Fischer präsentierte einen eigenen Friedensplan, wenig später griff der italienische Präsident Massimo d'Alema Teile davon für sein Friedenskonzept auf. Zeitgleich verlegten die USA Apache-Hubschrauber für den Bodenkampf nach Albanien.

- Sollte die militärische Rechnung der NATO wirklich aufgehen und Jugoslawien einlenken, könnte dies zum Triumph von Rußland oder der UNO werden. Denn US-Emissär Strobe Talbot reiste stets mit leichtem Gepäck: Außer der jugoslawischen Kapitulation hatte er nichts anzubieten. Demgegenüber würde Milosevic eher auf Tschernomyrdin eingehen. Im Mai beantragte Jugoslawien die Aufnahme in einen russisch-weißrussischen Staatenverbund. Zuletzt hatte sich auch UN-Generalsekretär Annan gesammelt und schickte den Bosnien-erprobten Unterhändler Carl Bildt ins diplomatische Rennen.

- Innenpolitisch war das erklärte Kriegsziel der NATO, die Unterzeichnung des Rambouillet-Papiers, nach zwei Kriegsmonaten nicht mehr zu vermitteln. Da die NATO nicht wußte, ob und in welcher Form Jugoslawien vor drohenden NATO-Zerfallsprozessen einlenken würde, hütete sie sich, sich erneut mit einer unrealistischen Forderung ins Abseits zu manövrieren. Schließlich hatte die NATO-Propaganda Slobodan Milosevic zu einem Unmenschen erklärt (Talbot: "2. Hitler"), mit dem nun keine Regierung mehr einen Vertrag unterzeichnen wollte. Das zweite NATO-Kriegsziel hieß Unterbindung der serbischen Vertreibungspolitik im Kosovo. Als der NATO mit ihren Bombardements das Gegenteil gelang, forderte sie zuletzt die Rückführung der vertriebenen Kosovaren. Schließlich erhöhten Presseberichte aus den Flüchtlingslagern den Druck auf die europäischen NATO-Regierungen. Die Kritik spitzte sich auf die Frage zu, ob das NATO-Bombardement die Eskalation nur verschäfte oder tatsächlich noch humanitär zu legitimieren sei.

- Zuletzt war das Zeitargument von Bedeutung. Mitte Mai war sich keine NATO-Regierung mehr sicher, ob und wann die Belgrader Führung einlenken würde. Deshalb wurde die Option von Bodentruppen diskutiert. Auch wenn nur wenige Regierungen zur Entsendung eines Bodenkontingentes bereit waren, galt doch aus militärischer Sicht als unstrittig, daß mindestens 100.000 Soldaten bei einem Kampfauftrag benötigt würden, die frühestens ab August einsatzbereit gewesen wären. Da aber sämtliche Flüchtlingslager vor dem Winter 1999/2000 aufgelöst werden sollten, da die NATO-Regierungen nicht für Hunger, Seuchen und Erfrierungen verantwortlich gemacht werden wollten, andererseits aber auch keine größeren Flüchtlingskontingente in ihren Staaten aufnehmen wollten, bedeutete dies, daß bis zum Herbst Siedlungsraum im Kosovo für die Flüchtlinge zur Verfügung stehen mußte.

Verhandlungen
in Hinterzimmern

Die Option Bodentruppen war eine erneute Sackgasse, weil die NATO diese Truppen nicht zusammenbekommen hätte. Deshalb sollte unter allen Umständen eine diplomatische Lösung gefunden werden, die

- Rußland integriert

- die VR China im UN-Sicherheitsrat zustimmen läßt

- das Primat der NATO vor der UNO sichert, zugleich aber die UNO einbindet, um Vorbehalte europäischer Staaten und Rußlands gegen künftiger NATO-Willkür vorzubeugen

- Slobodan Milisevic als gleichberechtigten Verhandlungspartner ausschließt.

Spätestens auf dem Kölner G-8-Treffen vom 18.-20. Juni sollte einer Übereinkunft zugestimmt werden, die als Vorlage einer UN-Sicherheitsratsresolution dienen sollte. Ins diplomatische Wettrennen gingen die Unterhändler wieder getrennt: Chancenlos weil ohne westliche Unterstützung war von vornherein UN-Vermittler Carl Bildt. Gewichtig, aber politisch für die serbische Seite nicht akzeptabel, war das US-Gespann Albright/Talbot. Mit dem finnischen Präsidenten Ahtisaari schickte die EU einen unverdächtigen Makler ins Rennen, der engen Kontakt zum russischen Unterhändler Tschernomyrdin hielt. Hinzu kamen zahlreiche Emisäre wie Petritsch, Fischer oder Holbroke, die häufig nur im nationalen Auftrag reisten.

Der Preis für das Einlenken Rußlands und Chinas ist schnell benannt: Der Internationale Währungsfonds signalisierte dem neuen russischen Premierminister Sergej Stepaschin seine Bereitschaft, über neue Kreditlinien zu verhandeln. Im übrigen hätte sich Rußland durch weiteren Widerstand gegen die NATO nur weiter von der Entwicklung auf dem Balkan isoliert. Für Chinas Zustimmung im UN-Sicherheitsrat ist dessen künftige Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation (WTO) entscheidend. Hartnäckig halten sich allerdings Gerüchte, wonach die Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad kein Versehen war, sondern einen zu engen Schulterschluß der Volksrepublik mit den EU-Unterhändlern verhindern sollte.

Mit der Kapitulation beginnen die Probleme

Was letztlich den Ausschlag für das serbische Einlenken gab, ist bis heute nicht bekannt. Denn aus serbischer Sicht war eine unbegrenzte Fortsetzung der NATO-Luftangriffe ebenso unwahrscheinlich wie der massive Einsatz von NATO-Bodentruppen. Zudem konnte es keine attraktive Perspektive sein, nach Unterzeichnung eines Waffenstillstandes vor das Haager Kriegsverbrechertribunal gestellt zu werden.

Wahrscheinlich sind daher innenpolitische Druckpotentiale wie Führungsstreitigkeiten, der Unwille des jugoslawischen Militärs, in einem ungewinnbaren Krieg nach und nach aufgerieben zu werden, die desolate ökonomische und soziale Situation in Serbien, aber auch mögliche Druckmöglichkeiten des ehemaligen Gasprom-Chefs Tschernomyrdin und Wiederaufbauanreize des EU-Vermittlers Ahtisaari entscheidend. Die NATO wird den ersten gewonnenen Luftkrieg der Welt erst feiern dürfen, wenn sie den Preis verrät, den sie Belgrad für das Einlenken zahlte.

Am 3. Juni billigte das serbische Parlament und die jugoslawische Regierung das Waffenstillstandsabkommen, das Präsident Ahtisaari ihnen vorgelegt hatte. Nicht zufällig wurde der Waffenstillstand nicht auf höchster Ebene mit Slobodan Milosevic unterzeichnet, sondern am 9. Juni von Generälen, wobei die USA dieses zweifelhafte Vergnügen einem Briten überließen. Pikant am Zustandekommen des Textes ist, daß statt China quasi Deutschland die Rolle eines UN-Sicherheitsratsmitgliedes übernahm und die NATO ihr "UN-Mandat" selbst formulierte. Rußland ebnete zwar das politische Terrain für den Waffenstillstand, wurde aber - wie bei den entscheidenden Verhandlungsmomenten von Rambouillet - nicht bei der Entwicklung des KFOR-Einsatzplanes beteiligt. Direkte Verhandlungen zwischen den Verantwortlichen von Jugoslawien und NATO-Regierungen hat es nie gegeben. Vielmehr wurde die Einigung über den Waffenstillstand weitgehend zwischen NATO und Rußland erzielt.

Auch ohne viele Details in dem Abkommen geklärt zu haben, war der NATO zunächst nur wichtig, daß die serbische Seite ihrem eigenen Truppenabzug und dem Einzug von NATO-Soldaten im Kosovo vor dem Winter zugestimmt hatte. Als Großbritannien (13.000 Soldaten), Deutschland (8.500), die USA (7.000), Frankreich (7.000) und Italien (7.000) ab dem 10. Juni ihre Sektoren im Kosovo beziehen wollten, war der Flughafen von Pristina bereits von 270 russischen Fallschirmjägern besetzt. Hektische Verhandlungen vor Ort und in Helsinki führten zu der vordergründigen Abmachung, daß 3.600 russische Soldaten auf die bestehenden fünf KFOR-Zonen verteilt werden und Rußland einen stellvertretenden KFOR-Kommandanten stellen wird. Allerdings hat die russische Seite bisher so wenig bestätigt, daß sie NATO-Befehlen folgen würde, wie NATO-Soldaten auf Kommando eines russischen Generals marschieren würden. Im belgischen NATO-Hauptquartier von Mons hofft man derweil, daß Rußland das nötige Gerät und die monatlich 800 US-Dollar pro Soldat nicht finanzieren kann, zumal dies dem zehnfachen Sold eines russischen Soldaten entspricht.

In der Sache steht die "Militärtechnische Übereinkunft zwischen der internationalen Sicherheitstruppe (KFOR, ak) und der Verwaltung der Federalen Republik von Jugoslawien und der Republik Serbien" weit hinter den Formulierungen des Rambouillet-Papiers zurück: Der Einsatzbereich von KFOR beschränkt sich auf Kosovo, hier allerdings hat der KFOR-Oberbefehlshaber unbeschränkte Vollmachten - selbst die Auslegung des Vertragstextes liegt in seiner Hand. Serbische Sicherheitskräfte haben abzuziehen, entmilitarisierte Boden- und Luftzonen an der Grenze zum Kosovo sind festgelegt. Die Entwaffnung der UCK ist ebenso wenig geregelt, wie der künftige Status des Kosovo, der allerdings als Teil Jugoslawiens benannt wird. Wiederaufbau und humanitäre Hilfe sind nicht Teil des Abkommens oder der entsprechenden UN-Resolution 1244.

Als ungeschriebene Abmachung gilt hierfür, daß die EU den Wiederaufbau Jugoslawiens weitgehend finanziert, zumal die USA etwa 75% der Kriegskosten trugen. Auf dem Kölner G-8-Gipfel gab Präsident Clinton seinem Kollegen Gerhard Schröder den Schubs, einen Spendengipfel für einen "Balkan-Stabilitätspakt" zu organisieren. Kanzler Schröder nominierte sogleich seinen ausgedienten Kanzleramtsminister Bodo Hombach zum Leiter eines Wiederaufbauprogramms, für das am 30. Juli in Sarajevo auf einem G-8-Gipfel Milliarden eingetrieben werden sollen. Zeitgleich rechneten EU-Experten die zunächst auf 35-60 Mrd. DM geschätzten Wiederaufbaukosten für Jugoslawien herunter: Solange in Belgrad Slobodan Milosevic regiert, kann Serbien bestenfalls mit humanitärer Hilfe rechnen. Gemessen an den staatlichen Wiederaufbaukosten von ca. 5 Mrd. DM für Bosnien umfaßt Kosovo nur etwa 20% des Territoriums und war weniger industrialisiert, so daß von der EU mittlerweile etwa 3 Mrd. DM als ausreichend für den Wiederaufbau des Kosovo erachtet werden.

Der Waffenstillstand hat bisher lediglich zu einem Austausch der Truppen geführt. Eine dreimonatige Entwaffnungsphase der UCK wurde zwar mittlerweile vereinbart, doch diese Zeit ist zu lang, um den neuen Kriegsgewinnern Einhalt zu gebieten. Ungeklärt ist die Unterstützung für die desolate Republik Serbien, der künftige Status des Kosovo, die Zusammenarbeit ziviler und militärischer Hilfskräfte im Kosovo, das Verhältnis von Rußland und NATO im Kosovo und der Umfang des Wiederaufbaus, der notwendige Voraussetzung zur Auflösung der Flüchtlingslage ist. Sicher ist lediglich, daß die NATO mit jährlichen Kosten von über einer Milliarde DM auf unbestimmte Jahre und unklarem Auftrag ihr fünftes Balkan-Protektorat übernommen hat.

Stefan Gose