Renten-Revolution durch die Hintertür
Riester setzt Sparvorgaben "innovativ" um
Das "Eichel-Paket" der Schröder-Fischer-Regierung verlangt vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung mit 12,5 Mrd. DM im Jahr 2000 den größten absoluten Ausgabenabbau. 40% der anstehenden Haushaltskürzungen sollen damit im Ressort "Arbeit und Soziales" erfolgen - die weiteren Einsparungen im sozialen Bereich, die bei anderen Ressorts anfallen, nicht eingerechnet.
Der Verzicht auf politische Prioritäten verleiht dem Sparprogramm ein Stück politische Durchsetzungsfähigkeit: Alle sparen mit, Sparen wird medial als nationale Kraftanstrengung inszeniert. Und innerhalb der Regierungsfraktionen gibt es kaum noch jemanden, der darauf hinweist, daß man dem Staatsdefizit ja auch durch Verbesserungen auf der Einnahmeseite zu Leibe rücken könne.
Die prozentualen Kürzungen durch alle Ressorts überlassen es den jeweils verantwortlichen Politikern, darüber zu entscheiden, bei welchen Ausgaben sie kürzen wollen. Erst unter diesem Gesichtspunkt sind die Sparmaßnahmen von Arbeits- und Sozialminister Walter Riester einer näheren Betrachtung wert. Sein Haushalt umfaßt für 1999 knapp 175 Mrd. DM. Davon entfallen 120 Mrd. DM auf die Rentenversicherung, knapp 10 Mrd. auf die Kriegsopferversorgung und gut 43 Mrd. DM auf die Arbeitsmarktpolitik und die Arbeitslosenhilfe. Der Rest verteilt sich auf verschiedene andere Bereiche.
Sozialabbau à la "New Labour"
Die Kürzungsvorschläge, mit denen Riester die Vorgaben des "30-Milliarden-Programms" aus dem Finanzministerium erfüllen will, sehen u.a. vor:
- Streichung der originären Arbeitslosenhilfe; geplantes Einsparvolumen: 1 Mrd. DM im Jahr 2000, danach jährlich 1,3 Mrd. DM. Mindestens zwei Drittel der Kürzung werden bei den Kommunen als Mehrausgaben für Sozialhilfe anfallen;
- Kürzung der Lohnkostenzuschüsse für Neueinstellungen in ostdeutschen Wirtschaftsunternehmen um 0,8 Mrd. DM in 1999, danach 1,1 Mrd. DM;
- Die Beiträge für Arbeitslosenhilfe-BezieherInnen zur Renten- und Pflegeversicherung werden nur noch nach der tatsächlichen Höhe der ausgezahlten Arbeitslosenhilfe berechnet. In der Konsequenz entstehen bei den Versicherungen geringere Einnahmen und niedrigere Rentenansprüche bei den Arbeitslosen; Einsparung 1999: 4,5 Mrd. DM, dann 4,4 Mrd. DM;
- Die Renten sollen in den nächsten zwei Jahren nicht gemäß der Nettolohnentwicklung, sondern nur noch nach der Inflationsrate angepaßt werden; Einsparung 1999: 2,8 Mrd. DM, dann 6,9 Mrd. DM;
- Kürzung des Bundeszuschusses an die Rentenversicherung um jährlich 1 Mrd. DM;
- Globale Minderausgabe von jährlich 2,4 Mrd. DM, wobei noch nicht feststeht, wo diese "erwirtschaftet" werden soll. Möglicherweise kommt sie allein dadurch zustande, daß die Bundesanstalt für Arbeit einen niedrigeren Bundeszuschuß benötigt.
Der Überblick verweist auf erste, durchaus gravierende Unterschiede zu den Sparpaketen der Ära Kohl und Blüm: Bis auf die Kürzung bei den Lohnkostenzuschüssen betreffen alle Streichungen Leistungen für nichtarbeitende Anspruchsberechtigte. Die Arbeitsmarktpolitik, die Verzahnung von Sozialleistung und Arbeit, kommt fast ungeschoren davon. Und: Bis auf die Streichung der originären Arbeitslosenhilfe, die etwa 80.000 Personen betrifft, sind direkte Einkommenskürzungen bei Arbeitslosen nicht vorgesehen. Der übergroße Teil der Einsparungen betrifft die gesetzliche Rentenversicherung. Riester hat die Vorgabe, daß "wir alle sparen müssen", durchaus einseitig zu Lasten der RentnerInnen umgesetzt. Dieser Umstand verdient insofern politische Beachtung, als er bewußt den Vorwurf des "Rentenbetrugs" und die Abkehr gerade gewonnener älterer WählerInnen in Kauf nahm.
Diese Entscheidung ist Bestandteil eines tatsächlichen Politikwechsels der rot-grünen Regierung. "Moderne Sozialdemokraten wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln", heißt dieser Wechsel im "Blair-Schröder-Papier". Bodo Hombach nannte ihn den Umbau der "Gouvernante Sozialstaat" in den "aktivierenden Sozialstaat". Von RentnerInnen läßt sich nun schlecht "Eigenverantwortung" verlangen, da sie das Erwerbsleben hinter sich haben - deshalb stehen sie auf der aktuellen Kürzungsliste obenan. Zukünftige Streichlisten werden auch andere Personengruppen treffen, die für eine Erwerbsarbeit nicht (mehr) in Frage kommen.
Für alle diejenigen SozialleistungsbezieherInnen, die nach Alter und körperlicher Konstitution arbeitsfähig sind, sieht die rot-grüne Politik eine umfassende Strategie der (Zwangs-)Mobilisierung in Erwerbsarbeit vor; das gegenwärtige Jugendprogramm ist dafür ein Vorläufer. Das anvisierte Projekt ist die staatliche Subvention von Niedriglohnsektoren, die aus den Mitteln der Arbeitsförderung und der Lohnersatzleistungen finanziert werden sollen. Die Schröder-Regierung hält hier (fast) Wort: Kürzungen bei Arbeitslosen erfolgen nur, wenn sie die ihnen einmal gebotene "Chance" ablehnen und sich nicht in Billigjobs mobilisieren lassen. Aus dieser Perspektive ist es folgerichtig, den Angriff auf die Sozialleistungen von Erwerbslosen hinauszuschieben, bis ein Subventionsprogramm für den Niedriglohnsektor steht.
Zwar wird im Eichel-Paket angekündigt, daß auch die Lohnersatzleistungen für Arbeitslose nur entsprechend der Inflationsrate erhöht werden sollen, aber in der quantitativen Zusammenstellung der Kürzungen ist diese Maßnahme nicht enthalten. Auch die zweijährige Abkoppelung vieler lohnbezogener Sozialleisungen wird zwar angekündigt, aber nur bei den Renten wirklich angegangen.
Umbau der Rentenversichrung
Riesters Rentenpläne enthalten verschiedene Elemente. Mit der für die Jahre 2000 und 2001 vorgesehenen Anpassung an die Inflationsrate steigen die Renten nicht um 3,7% und 3,5%, sondern nur um 0,7% und 1,6%. Die Bundesregierung verkauft dies als "Realeinkommenssicherung". Bei einem Durchschnittsrentner führt dies dazu, daß ihm monatlich 63 DM (West) bzw. 54 DM (Ost) an eigentlich zu erwartender Erhöhung vorenthalten werden. Im Jahr 2001 summiert sich dies auf monatlich 111 DM bzw. 97 DM und macht auf das Jahr gesehen eine Monatsrente aus.
Die Suspendierung der Rentenanpassung an die Nettolohnentwicklung begründet Riester damit, daß es im nächsten Jahr zwar durch die diesjährige Beitragssenkung, durch das höhere Kindergeld sowie durch die Umsetzung des "Familienurteils" des Bundesverfassungsgerichtes einen deutlichen Anstieg der Nettolöhne aufgrund politisch gesetzter Umverteilungen gebe, jedoch nicht aufgrund eines realen Lohnabstieges. Es sei nicht einzusehen, daß von der Besserstellung von Familien mit Kindern auch die Rentner etwas haben sollten. Diese Argumentation ist manipulativ und soll nur den Rentnerprotest stillstellen. Denn würde Riester es damit ernst meinen, müßte er bereits die nächste Aussetzung der Rentenformel für das Jahr 2004 ankündigen, da im Jahr 2003 die zweite Stufe der steuerlichen Entlastung für Familien in Kraft treten soll.
Die Aussetzung der Rentenanpassungsformel ist somit kein einmaliger Akt, sondern nur als Einstieg in den Abschied von der nettolohnbezogenen Anpassung zu begreifen. Die Diskussion darum, wonach sich das Rentenniveau richten soll, nach welcher Größe Renten am steigenden gesellschaftlichen Reichtum beteiligt werden, ist faktisch eröffnet. Mit seinen weiteren Vorschlägen hat Riester dafür Eckpunkte gesetzt:
- Weitere Senkung des Beitragssatzes im Zuge des Ausbaus der Ökosteuer um 0,7 Prozentpunkte auf 18,8% im Jahr 2000. Die Senkung der Beiträge führt zu höheren Nettoeinkommen und realisiert somit ein Wahlversprechen. Sie folgt dem sozialdemokratischen Grundsatz "Arbeit entlasten, Umweltverbrauch belasten", ist faktisch aber eine Umschichtung von direkten Abgaben zu indirekten Verbrauchssteuern. Jeder Autofahrer und Energiekonsument trägt somit - so das öffentlich erzeugte Bild - zur Rentenfinanzierung bei, nicht mehr nur die Lohnabhängigen. Der Kreis der gesellschaftlichen Kräfte und Interessen an niedrigen Rentenerhöhungen wird größer, der Legitimationsspielraum für politische Eingriffe in die Rentendynamik wächst.
- Einführung einer privaten Rentenversicherung, auf freiwilliger Basis oder als gesetzliche "Zwangsrente" mit Beiträgen von 0,5% im Jahr 2003 und 2,5% ab 2007. Laut Spiegel haben bereits 80% der abhängig Beschäftigten eine private Altersvorsorge. Diese soll zur dritten Säule der Alterssicherung werden. Das hat einen finanziellen Effekt: Die privaten Beiträge schmälern, wenn gesetzlich vorgeschrieben, den Nettolohn und die Rentenerhöhung. Insofern besteht ein enger Zusammenhang zwischen Riesters Aussage, an der Nettolohnorientierung festzuhalten und die private Vorsorge gesetzlich zu erzwingen.
Der Vorschlag hat zweitens einen ordnungspolitischen Aspekt, nämlich den Einstieg in den Ausstieg aus der paritätischen Aufbringung der Beiträge für die Alterssicherung durch Unternehmer und Beschäftigte. Und er hat drittens einen politischen Aspekt: Wer in der Rentenpolitik systematisch auf Privatvorsorge setzt, sagt damit zugleich, daß die gesetzliche Rente keine zureichende Alterssicherung garantieren kann und will. Riester demontiert damit bewußt die gesetzliche Rente.
- Einführung einer "Grundsicherung" in der Rentenversicherung, um niedrige Renten auf ein Mindestniveau aufzustocken. Hierbei handelt es sich um ein Vorhaben aus dem rot-grünen Koalitionsvertrag. Wie es realisiert werden soll, ist noch offen. Mal heißt es: Aufstockung auf Sozialhilfeniveau ohne Gang zum Sozialamt, mal werden Beträge genannt von 1.200 DM für Ledige und 1.800 DM für Verheiratete.
Die Einführung einer "Grundsicherung" stellt das sozialpolitische Bonbon für Linke dar. Damit soll es schwergemacht werden, Riesters Pläne als Ganze anzugreifen. Auf die Kritik, mit der Kürzung der Rentenerhöhung schaffe er mehr Altersarmut, kann Riester nun darauf verweisen, daß er bestimmte Formen von Altersarmut sogar beseitige. Die Einführung der "Grundsicherung" taugt zugleich dazu, die Kürzung der Rentenbeiträge für Arbeitslosenhilfe-BezieherInnen zu beschönigen, weil ja auf keinen Fall jemand unter das Mindestniveau rutschen werde. Schließlich läßt sich so auch ein Argument gegen Niedriglohnsektoren und Billigjobs entkräften.
Alternativen
zum Neoliberalismus?
Faßt man die einzelnen Punkte zusammen, so ergibt sich: Senkung des Rentenniveaus, Abbau der beitragsfinanzierten Anteile der Rentenversicherung, Ausbau der privaten Zusatzversicherung und Einführung einer "Grundsicherung", also weit mehr als ein reines Kürzungspaket. Erkennbar wird die Bereitschaft, aus den sozialstaatlichen Regelungen der Rentenversicherung seit 1957 (Einführung der heutigen Rentendynamisierung/-formel) auszusteigen. Statt dessen entsteht ein Einstiegsszenario in neue Regulative, welches sehr den Biedenkopfschen und anderen Modellen einer staatlich garantierten, über Beiträge finanzierten Grundrente mit "freiwilligen" privaten Zusatzversicherungen gleicht.
Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Blüm scheint Riester zu einem durchgreifenden Umbau der Alterssicherung bereit zu sein. Während Blüm auf eine allmähliche Senkung des Rentenniveaus durch den Einbau eines "demographischen Faktors" (Abschmelzen der Rentenerhöhungen um jährlich 0,4 Prozentpunkte mit ansteigender Lebenserwartung) setzte, will Riester eine vergleichbare Senkung in einem ersten Schritt erzielen, der zugleich Auftakt für weitere Reformen ist.
Um dies durchzusetzen, muß er die gesellschaftlichen Verteilungskämpfe verschärfen. Bereits jetzt hantiert er offen mit angeblichen Interessengegensätzen zwischen Alten und Kindern, wenn er sagt, die Verbesserungen für Familien dürften nicht zu höheren Ausgaben für Renten führen. Offen verbindet er die Rentenkürzung mit niedrigeren Beitragssätzen. Und insbesondere für die heute unter 30jährigen verspricht er deutliche finanzielle Entlastungen. Nach Berechnungen des Instituts für Finanzwissenschaft in Freiburg führt das Riester-Modell gegenüber dem Blüm-Modell für heute über 45jährige zu stärkeren finanziellen Belastungen, für 30-45jährige zu niedrigeren Belastungen und bei unter 30jährigen zu deutlich höheren Entlastungen (Wirtschaftswoche Nr. 26, 24.6.1999). Riester spielt also auch offen Erwerbstätige gegen Nicht(mehr)erwerbstätige, Junge gegen Alte aus.
Die Linke steht vor der Frage, wie sie auf diese neue, rot-grüne Etappe der Verteilungskämpfe um die Kosten des Sozialstaatsabbaus reagieren will, ob und wie sie die traditionellen Formen und Ansprüche verteidigt oder ob sie eigene Alternativen und erstrebenswerte Gesellschaftsmodelle entwickelt. Voraussetzung hierfür wäre es, das Hauptargument aller bisherigen "Rentenreformer", die zunehmende "demographische Belastung" durch die "Vergreisung", auf die tatsächlichen gesellschaftlichen Transformationsprozesse herunterzubrechen.
Dafür reicht die Forderung nach einer verstärkten Zuwanderung oder nach dem Abbau der Arbeitslosigkeit nicht aus. Die heute steigenden Zahlungen für die gesetzliche Rente resultieren überwiegend noch aus dem "Normalarbeitsverhältnis" der fordistischen Nachkriegsgesellschaft. Die damit verbunden Finanzierungsprobleme sind demgegenüber bereits ein Resultat der veränderten Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit. Sie sind die Konsequenz der erfolgten Umverteilung von Lohneinkommen zu Gewinn- und Vermögenseinkommen einerseits und der damit verbundenen Erosion des Normalarbeitsverhältnisses andererseits. Die Massenarbeitslosigkeit ist da nur ein Teilaspekt des Problems.
Prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Scheinselbständigkeit und "flexible" Erwerbsbiographien führen jedoch nicht nur zu abnehmenden Beitragszahlungen, sondern auch zu geringeren späteren Rentenansprüchen. Bleibt es bei der ausschließlichen Lohnorientierung der Rente, wird angesichts der fortschreitenden Spaltung und Ausdifferenzierung der Lohnarbeit für viele die Rente nicht mehr zum Lebensunterhalt ausreichen. Gleichzeitig eröffnet die Diskussion über die Subventionierung der Sozialversicherungsbeiträge für Niedriglohnjobs ohnehin die Perspektive, daß für Millionen Erwerbstätige die Rentenbeiträge aus Steuermitteln aufgebracht werden würden.
Unter diesen Konstellationen ergeben sich auch für Linke Chancen, mit eigenen Vorstellungen zur Entkoppelung von Arbeit und Einkommen wieder in die gesellschaftliche Diskussion zu kommen. Hierzu würde auf jeden Fall die Einführung einer Grundsicherung auch in der Rentenversicherung gehören; zweitens aber auch eigene Ideen zur Finanzierung der Renten. Dabei kann durchaus an Vorschlägen zur Einführung einer Wertschöpfungsabgabe anstelle der lohnsummenorientierten Arbeitgeberbeiträge angeknüpft werden.
Und schließlich wäre zu überdenken, ob für die Beteiligung der Rentner am zukünftigen gesellschaftlichen Reichtum die Löhne - brutto oder netto - noch ein akzeptabler Maßstab sein können. Um die Rentenerhöhungen den tagespolitischen Verteilungskämpfen der öffentliche Haushalte zu entziehen, wäre es geeigneter, die Rentenerhöhungen nach der Steigerung des Bruttosozialprodukts zu bemessen.
Horst Kahrs
Der Autor ist Mitarbeiter der PDS-Bundestagsfraktion