Todesurteil gegen Öcalan
Die Türkei ist bereit, den Krieg weiterzuführen
Es war schon ein seltsamer Prozeß, der da auf einer kleinen, von zwei Fregatten umkreisten Insel im Marmarameer mit einem Todesurteil zu Ende ging. Ein Prozeß ganz ohne Zeugen und Beweismittel. Ein Prozeß, in dem der Staatsanwalt den Angeklagten nicht für glaubwürdig hielt, wohl aber der Ministerpräsident Bülent Ecevit, denn der zog aus den Aussagen Öcalans den Schluß, es gebe ein internationales Komplott gegen die Türkei.
Die Frage ist nicht nur, ob es ein fairer oder ein unfairer Prozeß war, sondern es drängt sich die Frage auf, ob überhaupt ein Prozeß gegen Abdullah Öcalan stattgefunden hat. Keine Aussage wurde überprüft. Nachfragen, Beweisführung oder Zeugenvernehmungen fanden nicht statt. Der einzige Zeuge und zugleich das einzige Beweismittel war der Angeklagte, und der wurde nur sehr oberflächlich vernommen. So gibt Abdullah Öcalan zu, daß es parteiinterne Todesurteile gab. Aber wer waren die Richter, wer die Henker? Aussagen Öcalans zufolge unterhält die PKK im Iran ein Krankenhaus. Die türkische Presse verbreitet, daß dieses Krankenhaus dem iranischen Staat gehöre. Niemand konfrontiert den Angeklagten mit Beweisen über Verbindungen zwischen der PKK und Teheran. Öcalan sagt, es gab PKK-Ausbildungslager in Griechenland und Jugoslawien. Niemand fragt wo, wie viele oder wer dafür verantwortlich ist. Die Türkei behauptet immer wieder, die PKK stecke tief im Drogenhandel. Doch niemand befragt Öcalan dazu oder konfrontiert ihn mit Beweisen, noch wird versucht, ihn zu zwingen, Namen und Routen zu nennen. Ein letztes Beispiel: Öcalan sagt, er habe gehört, eine Abspaltung der PKK, die sogenannte PKK-Vejin, habe den Mord an dem schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme begangen. Müßte da nicht ein Richter oder Staatsanwalt sofort nachfragen, wo, wann und von wem habe er das erfahren? Wie war es überhaupt möglich, so etwas über ihre Gegner in Erfahrung zu bringen? Nichts von alledem geschieht. Kein Wunder, daß der Angeklagte, und nicht nur er, während der paar Verhandlungstage mehrfach eingenickt ist.
Gelegen war dem Gericht nicht an der Aufarbeitung der Vergangenheit, sondern an der Festschreibung der offiziellen Sicht. Der hat sich Öcalan so gut es eben ging angepaßt. Wäre er noch nachgiebiger gewesen, so wäre ihm nichts mehr geblieben, um seine Vergangenheit noch irgendwie zu rechtfertigen. Das ist ihm vielleicht erst im Laufe des Prozesses klar geworden. Seine letzte Verteidigungslinie war, das Verbot der kurdischen Sprache von 1982 - es wurde 1991 aufgehoben - als wesentlichen Grund für den Aufstand zu benennen und sich als Verhandlungspartner anzubieten. Das war ein Friedensangebot an die Türkei ohne große Zumutungen, ohne große Forderungen. Der billigste Frieden, der mit der PKK je zu haben war. Immerhin kann Öcalan zu Recht darauf verweisen, daß sein Friedensangebot auf der Linie liegt, was er seit März 1993 immer wieder versucht hat, als Lösung anzubieten - wenn auch in einer sehr abgespeckten Form.
Dieses Angebot ist mit dem Todesurteil erstmal ausgeschlagen worden. Dabei geht es nicht darum, ob die Türkei wirklich mit Öcalan verhandeln will. Aber sollte das Todesurteil gegen Öcalan vollstreckt werden, dann wird sich sobald niemanden finden, der zu Friedensverhandlungen bereit ist. Die Türkei scheint bereit, den Krieg noch jahrzehntelang weiterzuführen.
Andererseits stellt sich die Frage, woher Abdullah Öcalan vor Gericht das Mandat nimmt, für die KurdInnen zu verhandeln - auch wenn er es vergeblich tut. Abdullah Öcalan muß zwar um sein Leben fürchten, aber es hat den Anschein, daß er politisch gestärkt aus diesem Verfahren hervorgeht. Nach diesem Prozeß und diesem Urteil wird ihn unter Kurden kaum jemand nach der Ermordung von Abweichlern in den eigenen Reihen oder nach der einen oder anderen Terroraktion fragen. Es gilt für diesen Prozeß mithin das gleiche, was schon im Guerilla-Krieg galt, daß die Vergeltungsmaßnahmen des türkischen Staates der PKK oft mehr genützt als geschadet haben.
Man kann nur hoffen, daß anläßlich der voraussichtlich im Herbst anstehenden Parlamentsentscheidung über die Hinrichtung Öcalans doch noch eine Debatte in Gang kommt, in der auch Argumente außerhalb des ganz schmalen offiziellen Diskurses vorgetragen werden. Im Moment sieht es allerdings mehr danach aus, als würde die Türkei Abdullah Öcalan endgültig zum Märtyrer machen, indem sie ihn hinrichtet.
Drei Parteiführer, Devlet Bahceli von der Partei der nationalistischen Bewegung (MHP), Mesut Yilmaz, von der Mutterlandspartei (ANAP) und natürlich Tansu Ciller von der Partei des rechten Weges (DYP), haben sich bereits auf einen Vollzug der Todesstrafe festgelegt. Yilmaz und Ciller haben von dem großen nationalistischen Strom bei den letzten Wahlen nichts abbekommen, obwohl sich Ciller einige Mühe gegeben hatte. Beide wollen nun aufholen, und insbesondere Ciller hat die Hinrichtung bereits als ihr Thema entdeckt. Das ist es ohnehin für Bahceli. Die drei Parteien haben alleine schon die nötige Parlamentsmehrheit, die Hinrichtung vollstrecken zu lassen. Das Verhalten Ecevits und das der Islamisten ist noch unklar, es kann aber damit gerechnet werden, daß zumindest einige Abgeordnete aus ihrem Lager ebenfalls für die Hinrichtung eintreten werden.
Stellungnahmen gegen eine mögliche Hinrichtung sind derzeit nur außerhalb des Parlamentes zu hören. Z.B. von der konservativen Demokratische Türkei Partei (DTP), einer Abspaltung von Cillers DYP, von der aus Ausläufern der Dev-Yol-Bewegung entstandenen Partei für Freiheit und Solidarität (ÖDP), die im türkischen Spektrum ein wenig den Platz der undogmatischen Linken vertritt, von der Partei der Arbeit EMEP und natürlich von der prokurdischen Partei der Demokratie des Volkes (HADEP).
Sicher gibt es unter den Islamisten, die viele kurdische WählerInnen haben, Vorbehalte gegen die Hinrichtung, doch sind die Islamisten zur Zeit völlig eingeschüchtert. Gegen ihre Tugendpartei (FP) läuft ein Verbotsantrag, diesmal mit dem Zusatz, daß auch alle ihre Abgeordneten das Parlament verlassen müssen, und das schmerzt mehr als ein reines Parteienverbot, nach dem man sich mit einem blauen Auge wieder neu formieren kann. Außerdem haben viele prominente Islamisten derzeit selbst mit Prozessen zu kämpfen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß selbst gegen den derzeit mit Politikverbot belegten Islamistenführer Necmettin Erbakan demnächst in einem Verfahren die Todesstrafe verhängt wird.
Das einzige Forum für eine offene Diskussion über Für und Wider der Hinrichtung Öcalans bleibt im Moment die Presse, die diese Funktion aus strukturellen Gründen nur sehr bedingt übernehmen kann.
Abgesehen von den islamisch orientierten Medien ist die türkische Presse verquickt mit dem Bankensektor. Mehmet Emin Karamehmet gehören zwei der drei größten türkischen Privatbanken und zugleich 50% des Fernsehsender ATV und eine Gruppe von Zeitungen. Ayhan Sahenk gehören vier Banken und der Nachrichtensender NTV. Den Zeitungsmarkt beherrschen Aydin Dogan (ca. 45% der Tageszeitungsauflage, u.a. Milliyet, Hürriyet, Radikal) und Dinc Bilgin (ca. 33% der Auflage, u.a. Sabah). Außerdem gehört Dogan der populärste Fernsehkanal Kanal D und die Disbank. Bilgin gehört die Etibank.
Was die Medien schreiben, wird nicht vollständig, aber doch bis zu einem gewissen Grad im Umfeld der Politiker und Medienbarone ausgeheckt. Aus diesen Kreisen dürfte dann auch der entscheidende Anstoß kommen, der letztlich über die Hinrichtung Öcalans und damit über eine wichtige Weichenstellung der türkischen Politik entscheiden wird.
Jan Keetman, Istanbul