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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 429 / 26.8.1999

NATO goes East - wohin geht Rußland?

Seit Beginn des Kosovo-Krieges wird immer wieder die Selbstmandatierung der NATO und der damit verbundene Bedeutungsverlust der UNO kritisiert. Über die Mitwirkung Rußlands bei der Entmachtung der Vereinten Nation zugunsten der NATO wird allerdings kaum gesprochen. Der folgende Artikel beleuchtet die russische Politik seit der Auflösung des Warschauer Militärbündnisses und zeigt, mit welchen Mitteln die NATO die Nachfolgestaaten des früheren Ostblocks in ihre Strukturen einzubinden versteht.

Als sich vor 10 Jahren der Zusammenbruch aller Bündnisstrukturen des "sozialistischen Lagers" und damit auch das Ende der "Blockkonfrontation" abzeichnete, kam kurzzeitig die Illusion auf, daß damit vielleicht auch die NATO "obsolet werden" könnte oder daß zumindest ihr bisheriger Rüstungsumfang angesichts des Verlusts des traditionellen "Feindbildes" nicht mehr legitimierbar sei.

Tatsächlich folgte eine erhebliche Reduzierung der Personalzahlen, der Militärausgaben und teilweise sogar der Waffenarsenale. Dahinter steckte aber in erster Linie ein beispielloser Modernisierungsschub, weg von den geldfressenden Riesenarmeen, mit denen praktisch kaum etwas anzufangen gewesen war, hin zu abgespeckten, hochmobilen Einheiten und Computer-gestützten Aufklärungs- und Kommunikationssystemen, die tendenziell sogar eine Kriegführung fast ganz ohne eigene Verluste ermöglichen. An die Stelle der letztlich sehr defensiven, unbeweglichen Doktrin von der "Gefahr aus dem Osten" trat der Anspruch, weltweit mit einer Vielfalt von militärischen Optionen initiativ und offensiv einzugreifen.

Voraussetzung dieses grundlegenden Wandels war die Auflösung des Warschauer Militärbündnisses (Juli 1991), ein halbes Jahr später das Ende der Sowjetunion (Dezember 1991) und schließlich der Verfall der russischen Streitkräfte. Zum einen machte der Zusammenbruch des traditionellen militärischen Hauptgegners die sofortige Orientierung der NATO auf ein Spektrum neuer Aufgabenstellungen politisch und propagandistisch unbedingt erforderlich, denn sonst hätte vielleicht wirklich eine Legitimationslücke entstehen können. Zum anderen stellte der Fortfall der "Blockkonfrontation" aber auch eine entscheidende Voraussetzung für die NATO dar, um in der strategischen Planung von vornherein keinen Gegner mehr ernsthaft in Rechnung stellen zu müssen. Mit der Gewißheit des "freien Rückens" kann die NATO völlig ungehemmt offensiv agieren, wo und wann immer sie es für zweckmäßig hält. Der Luftkrieg gegen Jugoslawien demonstriert, wie bei dieser Form der Kriegführung das eigene Risiko praktisch sogar bis auf Null minimiert werden kann. Ein Jugendlicher, der sich morgens auf den Schulweg macht, steht größeren Gefahren gegenüber als der Pilot eines Kampfflugzeugs, der zum "Feindflug" startet.

Keine "Friedensdividende"

Null-Risiko bedeutet massenpsychologisch, daß Kriege sehr viel leichter als in der Vergangenheit ausgelöst und geführt werden können. Sie berühren das Leben der Menschen in den NATO-Staaten in praktischer Hinsicht überhaupt nicht, verursachen nur noch geringe und diffuse Eskalationsängste. Die "Kollateralschäden" (Fehltreffer in Wohnhäuser, Züge usw.) lösen zwar noch ein Erschrecken aus, werden aber als unvermeidliche Begleiterscheinungen akzeptiert - so wie auch Auffahrunfälle auf der Autobahn oder schwere Zugunglücke nicht die selbstverständliche Akzeptanz von Auto oder Bahn in Frage stellen. Nachteilig könnte sich dabei für die NATO-Strategen auswirken, daß sich die Menschen ihrer Länder an die neue Art der Ballerspiel-Kriegführung ohne "Zinksärge" und "Bodybags" für eigene Soldaten gewöhnen, wodurch aber zugleich die Hemmschwelle gegenüber Kriegen auch ohne Null-Risiko angehoben wird. In der Diskussion um die Bodenkriegs-Option kam das schon sehr deutlich zum Ausdruck.

Noch vor der am 1. Juli 1991 offiziell verkündeten Auflösung des Warschauer Bündnisses hatte die Sowjetunion im Juni den Rückzug ihrer Streitkräfte aus Ungarn und der Tschechoslowakei abgeschlossen. Ende Oktober 1992 verließ die letzte russische Einheit Polen. Das bedeutete - abgesehen von den besonderen Verhältnissen in der DDR, wo der Abzug erst am 1. September 1994 beendet wurde, - daß keine sowjetischen oder russischen Truppen mehr außerhalb der ehemaligen UdSSR stationiert waren.

Zuvor war im August 1991 der Versuch gescheitert, durch einen Staatsstreich in Moskau die Auflösung der Sowjetunion im letzten Moment doch noch aufzuhalten. Das Scheitern des Putsches riß auch Gorbatschow mit sich und beschleunigte den allgemeinen Zusammenbruch der Unionsstrukturen. Am 8. Dezember 1991 erklärte Jelzin als Staatschef Rußlands, gemeinsam mit seinen Kollegen aus Belarus (Weißrußland) und der Ukraine, daß die UdSSR aufgehört habe zu bestehen. Zugleich unterzeichneten sie die Gründungserklärung der GUS, mit der Perspektive, die Sowjetunion durch einen vielfältig vernetzten und verklammerten Staatenbund zu ersetzen. Der GUS schlossen sich 11 der 15 früheren Unionsrepubliken an. Es fehlten Georgien, das der GUS aber später beitrat, und die drei baltischen Republiken - Litauen, Lettland und Estland.

Die GUS verfehlte bei weitem die Aufgabenstellung, die Sowjetunion mit neuen Formen und Instrumenten im wesentlichen fortzuführen. Dem militärischen Teil der GUS, dem im Mai 1992 abgeschlossenen Kollektiven Sicherheitsvertrag, schlossen sich zunächst neben Rußland nur die vier zentralasiatischen Republiken (Kasachstan, Kyrgystan, Usbekistan, Tadschikistan) und Armenien an. Später kamen Belarus, Georgien und zeitweise auch Aserbaidschan dazu, doch hat der Militärpakt nur geringe praktische Bedeutung und kann mit der allumfassenden Integration der NATO überhaupt nicht verglichen werden.

Aufgrund bilateraler Verträge und teilweise unter Ausnutzung ethnischer und territorialer Konflikte hat Rußland immer noch Militäranlagen und Soldaten in Armenien, Georgien, der Ukraine (Nutzung Sewastopols auf der Krim als Heimathafen der Schwarzmeerflotte durch einen 20jährigen Pachtvertrag), in Moldova und Teilen Zentralasiens. Insgesamt ist aber festzustellen, daß seit 1990 die russische Verteidigungslinie aus der Mitte Europas nicht nur an die Westgrenze der ehemaligen UdSSR, sondern fast schon bis an die russische Grenze zurückgeschoben wurde. Rußland hat den Zugang zur Ostsee weitgehend verloren und ist für die Verbindung mit seiner Exklave Kaliningrad auf den Transit durch Litauen angewiesen. Der russischen Schwarzmeerflotte würden ohne die (immer wieder umstrittene) Benutzung der Häfen und Anlagen in der Ukraine, insbesondere auf der Krim, kaum noch Stützpunkte auf russischem Gebiet verbleiben.

NATO-Kandidaten stehen Schlange

Fatal ist die Zurückdrängung Rußlands auf seine eigenen Grenzen auch für das Frühwarnsystem und die gesamte Luftabwehr, also für einen gerade im Licht der Jugoslawien-Erfahrung hochgradig sensiblen Bereich. Zugleich ist festzustellen, daß in dem Gebiet, aus dem sich die Sowjetunion bzw. Rußland militärisch zurückziehen mußte, nicht etwa eine Pufferzone entstanden ist, sondern daß sich die NATO immer weiter nach Osten vorschiebt.

Am 20. Dezember 1991 gründete die NATO als erste Stufe der Ost-Ausdehnung den "North Atlantic Cooperation Council", NACC. Er sollte, so lautete die offizielle Erklärung, als institutioneller Rahmen für die sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen der NATO und den ehemals sozialistischen Staaten dienen. Dem neuen internationalen Gremium traten sofort, neben den NATO-Staaten, alle Mitglieder des früheren Warschauer Bündnisses, Rußland und neun weitere GUS-Staaten sowie die drei neugegründeten baltischen Republiken bei.

Kühne Hoffnungen mancher russischer Politiker oder Politik-Kommentatoren gingen dahin, daß der NACC zum Ausgangspunkt einer Ersetzung oder richtiger gesagt einer Verschmelzung beider großen Militärblöcke werden könnte. Daran war selbstverständlich seitens der NATO niemals gedacht. Praktische Funktionen hatte der NACC von Anfang an nicht und entwickelte sie auch nicht. In erster Linie stellte er wohl eine vorübergehende, niedrigschwellige, unverbindliche Antwort auf den Wunsch vieler osteuropäischer Politiker nach einem schnellen NATO-Beitritt dar. Diesem Begehren wollte die NATO, aus mehreren Gründen, nicht sofort nachgeben: Zum einen aus taktisch bedingter Rücksichtnahme auf Rußland, zum anderen wegen der Instabilität der osteuropäischen Länder und ihrer wirtschaftlichen und sozialen Probleme. Auf gar keinen Fall wollte die NATO schon in diesem frühen und ungeklärten Stadium eine militärische Schutz- und Beistandsgarantie für einzelne osteuropäische Länder übernehmen, was zwangsläufig Folge einer NATO-Mitgliedschaft gewesen wäre.

Am 25. August 1993 erklärte Jelzin bei einem Staatsbesuch in Warschau, daß jedes Land selbst entscheiden könne, mit wem es sich künftig verbinden wolle. Gemeinsam mit dem damaligen Präsidenten Walesa unterschrieb er außerdem eine gemeinsame Erklärung, daß Polens Absicht, der NATO beizutreten, sich nicht gegen die Interessen anderer Staaten, einschließlich der Interessen Rußlands, richte. Nicht völlig überraschend überlegte sich Jelzin die Sache aber innerhalb von drei Wochen wieder anders. Am 15. September 1993 schickte er Clinton und anderen westlichen Politikern einen Brief, in dem er sich gegen die Aufnahme osteuropäischer Staaten in die NATO aussprach. Das würde, so Jelzin, zu negativen Reaktionen in der russischen Gesellschaft führen, da es als versuchte Isolierung Rußlands verstanden werden würde. Dieser Protest hinterließ jedoch keinen Eindruck: Bis Ende 1993 hatten alle ehemaligen Vorfeld-Staaten der UdSSR sowie die drei baltischen Republiken ihren Wunsch nach NATO-Mitgliedschaft ausgesprochen oder eindeutig signalisiert.

Integrationsinstrumente der NATO

Als Antwort beschlossen die NATO-Verteidigungsminister auf ihrer Tagung in Travemünde im Oktober 1993 das Projekt der "Partnership for Peace" (PfP) bzw. stimmten vermutlich dem von den USA entwickelten Vorschlag zu. Der Brüsseler NATO-Gipfel im Januar 1994 machte sich die "Partnerschaft für den Frieden" offiziell zu eigen. Im belgischen Mons, dem Sitz des europäischen NATO-Hauptquartiers, wurde eine "Partnership Coordination Cell" eingerichtet, um die PfP-Aktivitäten zu zentralisieren.

Der Beitritt zur PfP steht allen Staaten des ehemaligen Warschauer Bündnisses und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion offen, und sie machen ausnahmslos von dem Angebot zur NATO-geführten Zusammenarbeit Gebrauch. Auch Rußland ist, nach wenigen Monaten Ziererei, seit Juni 1994 mit von der Partie. Außerdem gehören die neutralen Staaten Österreich, Finnland, Schweden und Schweiz der PfP an.

Die Zusammenarbeit ist jeweils individuell. Das heißt, für jedes PfP-Land wird, unter Berücksichtigung seiner eigenen Wünsche und Kapazitäten sowie selbstverständlich der strategischen Interessen der NATO, Jahr für Jahr ein eigenes Partnerschafts-Programm festgelegt. Es beinhaltet die Teilnahme an internationalen Manövern und Übungen, vielfältige Weiterbildungsangebote (bis hin zu englischen Sprachkursen für Offiziere), technische Zusammenarbeit bei der Umstellung der einzelnen Streitkräfte, insbesondere ihrer Kommunikationssysteme, auf NATO-kompatible Standards, usw.).

PfP stellt also für die NATO ein erstklassiges Instrument dar, um sehr differenziert mit den Nachfolgestaaten des früheren "Ostblocks" umgehen zu können. Insgesamt werden sie - sofern sie mitspielen, aber das tun mit der wesentlichen Ausnahme Rußlands schon fast alle - immer mehr an die NATO-Strukturen angepaßt und in diese integriert. Daneben dient die PfP dazu, Vorzugskandidaten für die Aufnahme in den erlauchten NATO-Kreis gezielt zu fördern und schon unterhalb der formalen Beitrittsschwelle zu integrieren. Außerdem besteht erklärtermaßen ein hochrangiges praktisches Ziel der PfP darin, möglichst viele Staaten möglichst rasch darauf vorzubereiten, daß sich Teile ihrer Streitkräfte an NATO-geführten Militärinterventionen beteiligen können.

Diese Zusammenarbeit wurde erstmals seit Ende 1995 im Rahmen der multinationalen Truppen der IFOR, später SFOR, in Bosnien-Herzegovina erprobt. Neben den NATO-Mitgliedern, die etwa 90 Prozent der Soldaten stellten, sind an SFOR nicht nur Rußland, sondern fast alle Staaten des früheren Warschauer Bündnisses mit kleinen oder wenigstens mit winzigen Kontingenten, bis hinunter zu einem Dutzend Sanitätern oder ein paar Offizieren, beteiligt. Das stellt in allen Verlautbarungen, mit denen diese Länder ihre NATO-Tauglichkeit demonstrieren wollen, ein zentrales Argument dar. Dasselbe wird sich nun mit der gleichfalls von der NATO nicht nur geführten, sondern auch zahlenmäßig absolut dominierten "Friedenstruppe" KFOR im Kosovo wiederholen.

NATO-Manöver: Simulation humanitärer Aufgaben

Seit Beginn der PfP haben zahlreiche NATO-geführte Manöver in Osteuropa, auch in mehreren Nachfolgestaaten der früheren UdSSR, stattgefunden. Diese Übungen, bei denen in der Anfangszeit mit Vorliebe humanitäre Aufgabenstellungen simuliert wurden (Evakuierung der Zivilbevölkerung, Rettung auf hoher See usw.) stehen allen PfP-Mitgliedern zur Teilnahme offen. Auch hier gilt das Prinzip, daß nicht so sehr die Größe des Kontingents, aber unbedingt das Dabeisein wichtig ist, wenn man sich die Option auf den NATO-Beitritt in absehbarer Zeit offenhalten will. Selbst Rußland hat sich an fast allen diesen Manövern beteiligt - offenbar mit dem Ziel, nicht isoliert zu werden und das Feld nicht völlig der NATO zu überlassen. Aber die russische Teilnahme ändert nichts daran, daß NATO-geführte Manöver im Schwarzen Meer (Rumänien, Ukraine) oder in den baltischen Republiken für Rußland sowohl psychologisch als auch militärisch ein ernstes Problem sind.

Beim NATO-Gipfel in Paris im April dieses Jahres wurde die erste Gruppe neuer Mitglieder offiziell aufgenommen: Polen, Tschechien und Ungarn. Die Absicht dazu war schon beim Madrider NATO-Treffen im Juli 1997 öffentlich verkündet worden. Zugleich war im Abschlußkommunique von Madrid signalisiert worden, welche Länder für die zweite Aufnahme-Phase in der engeren Wahl stünden: Rumänien, Slowenien und die drei baltischen Republiken.

Vom Pariser NATO-Gipfel dieses Jahres hatten viele einen Zeitplan für die Aufnahme der zweiten Gruppe und die verbindliche Nennung der dafür vorgesehenen Länder erwartet. Doch die gemeinsame Erklärung besagt lediglich, man wolle den Prozeß der NATO-Erweiterung beim nächsten Gipfeltreffen überprüfen, das spätestens im Jahre 2002 stattfinden werde. Man dürfe dies aber nicht als Garantie verstehen, daß dann eine Beitrittseinladung an bestimmte Kandidaten ergehen werde.

Unterhalb der NATO-Mitgliedschaft

Tatsächlich ist jedoch schon heute die NATO-Mitgliedschaft zwar eine Frage des politischen Status, aber für die militärische Praxis nur von untergeordneter Bedeutung. Erstens führt die Zusammenarbeit im Rahmen der PfP alle Beitrittswilligen schon sehr nahe an die NATO heran und verknüpft sie mit deren Strukturen und technischen Systemen. Zweitens sind schon seit Mai 1994 mehrere osteuropäische Staaten als sogenannte Assoziierte Partner der WEU - die als "europäischer Pfeiler" der NATO definiert wird - mit der NATO verbunden. Es handelt sich dabei (neben Polen, Tschechien und Ungarn, deren Status inzwischen noch weiter aufgewertet wurde) um Bulgarien, Litauen, Lettland, Estland, Rumänien und die Slowakei. Drittens gibt es eine Vielzahl militärischer und militärpolitischer bilateraler und multilateraler Kooperationen unterhalb der NATO-Mitgliedschaft. Polen zum Beispiel sieht sein Verhältnis sowohl zu Litauen als auch zur Ukraine als "strategische Partnerschaft" und hat mit Litauen bereits ein gemeinsames Bataillon gebildet, das an NATO-Einsätzen teilnehmen soll. Litauen wiederum ist durch einen Militärpakt mit Lettland und Estland verbunden. Alle drei baltischen Republiken arbeiten eng mit den skandinavischen NATO-Mitgliedern Dänemark und Norwegen zusammen, beispielsweise bei der Luftüberwachung, die praktisch jetzt schon in das NATO-Netzwerk integriert ist. Viertens hat der Luftkrieg gegen Jugoslawien dazu geführt, daß ganz Osteuropa, bis an die frühere sowjetische Grenze, in die Kriegführung und Logistik der NATO einbezogen und integriert wurde.

UNO - wer war das noch?

Der Kosovo-Krieg stellte in formaler Hinsicht die erste "Selbstmandatierung" der NATO dar, also eine militärische Intervention ohne vorausgegangene Beschlußfassung durch den UNO-Sicherheitsrat. Die UNO ist freilich schon seit einigen Jahren von den USA und ihren Verbündeten praktisch ausgeschaltet worden. Vorausgegangen war ein beispielloser "Boom": In nur sieben Jahren, von 1988 bis 1994, wurden auf 19 Schauplätzen neue UNO-Einsatzfälle begonnen. Unmittelbar danach wurde die Zahl der UNO-Missionen drastisch heruntergefahren. 1994 wurden nur noch drei sehr kleine, unaufwendige und unproblematische UNO-Einsatzfälle begonnen, und seit 1995 ist kein einziger größerer UNO-Einsatz, der die Entsendung von "Friedenstruppen" beeinhaltet, vom Sicherheitsrat beschlossen worden. Die NATO hat die militärischen Funktionen der UNO übernommen und benutzt den UNO-Sicherheitsrat nur noch nachträglich oder flankierend als Legitimationsinstrument.

Diese Entwicklung hängt mit dem vorausgegangen UNO-"Boom" und mit einigen Einsätzen der Vereinten Nationen eng zusammen, die erfolglos oder hochdramatisch verlaufen sind. An erster Stelle ist das Eingreifen der UNO in Somalia 1992-1995 zu nennen. Treibende Kraft waren die USA gewesen, denen durch Beschluß des Sicherheitsrates vom 3. Dezember 1992 explizit das Kommando über die Operation überlassen wurde. Im Juni 1993 sorgten die USA für eine gezielte Eskalation, indem sie (erfolglos) Jagd auf einen der rivalisierenden Clan-Chefs, Aidit, machen ließen, und indem sie Luftangriffe mit vielen zivilen Opfern auf angebliche "Rebellenstützpunkte" fliegen ließen. Am 9. September 1993 eröffnete ein amerikanischer Hubschrauber das Feuer auf eine demonstrierende Menschenmenge, 200 Frauen und Kinder wurden dabei getötet.

In den folgenden zwei Wochen faßten beide Häuser des US-Parlaments Beschlüsse für einen baldigen Rückzug der amerikanischen Truppen aus Somalia. Daraufhin kündigte Clinton Ende September 1993 restriktivere Kriterien für die Beteiligung der USA an UNO-Missionen an. Er nannte sechs Bedingungen, u.a.: Kenntnis über die Kosten der Operation; vorherige Festlegung eines eindeutigen Terminplans und einer klaren politischen Strategie; eine klare Definition des Kommandos und der Kontrolle der Truppen. Letzteres war der wichtigste Punkt, denn er besagte schlicht und einfach, daß die USA keine Truppen für UNO-Einsätze mehr zur Verfügung stellen würden, sofern sie dabei nicht selbst das Kommando übertragen bekämen.

Nimmt man die Tatsachen, daß in erster Linie die USA zu der UNO-Intervention in Somalia getrieben hatten und sie auch für die Eskalation verantwortlich waren, die schließlich zu dem überstürzten, fast schon fluchtartigen Abbruch des Einsatzes führte, so liegt der Gedanke nahe, daß von der amerikanischen Regierung eine bewußte Provokation herbeigeführt wurde. Ihr Zweck: Legitimierung der Entscheidung, sich künftig generell nicht mehr an Missionen der Vereinten Nationen zu beteiligen, bzw. für die USA das Oberkommando über jeden Einsatz zu fordern. Im gleichen Sinn wirkte auch das "Versagen" der UNO in Bosnien-Herzegovina 1993-1995, wo die Blauhelme sich spektakulär von den Serben vorführen ließen: von dem Massaker von Srebrenica fast unter den Augen niederländischer UNO-Truppen bis zur Festsetzung ganzer Einheiten als Geiseln.

Im Krieg gegen den Irak im Januar und Februar 1991 hatten die USA, stellvertretend für die NATO, zum ersten Mal seit dem Korea-Krieg (1950-1953) den UNO-Sicherheitsrat dazu benutzt, sich ein Mandat zu besorgen, das in der praktischen Wirkung einem Blankoscheck gleichkam. Das heißt, der UNO-Sicherheitsrat, und an erster Stelle Rußland, besorgte seine eigene Abdankung, indem er ein Ultimatum gegen den Irak beschloß, dessen Vollstreckung er den USA (und der von den USA geführten Allianz) überließ. Auch wenn die russische Regierung, damals noch vertreten durch Gorbatschow, sich dann teilweise kritisch vom militärischen Vorgehen der USA abgrenzte, bleibt die Tatsache, daß der Krieg gegen den Irak ohne die Kooperation und Zustimmung Rußlands im Sicherheitsrat in dieser Form, nämlich unter dem politischen Deckmantel eines UNO-Auftrags, nicht möglich gewesen wäre.

Dies als einen bloßen Irrtum der russischen Diplomatie zu interpretieren, wäre ganz falsch, denn sonst hätten daraus Lehren für die Zukunft gezogen werden müssen. Aber tatsächlich führte Rußland seine Politik konsequent weiter, indem es zusammen mit den USA, Großbritannien und Frankreich die Festlegung der sogenannten Flugverbotszonen mittrug, die den Irak bis heute zum permanenten Angriffsziel der NATO-Luftwaffen machen.

Rußlands Beitrag zur Entmachtung der UNO

Auch in den verschiedenen Phasen des jugoslawischen Bürgerkriegs setzte die russische Regierung ihre Mitwirkung bei der Entmachtung der Vereinten Nationen zugunsten der NATO fort. Das begann mit der russischen Zustimmung zur Überwachung des Embargos gegen Jugoslawien in der Adria durch Kriegsschiffen der NATO und der WEU (seit Juli 1992). Auch die praktische Ausführung der Entscheidung des UNO-Sicherheitsrats vom 31. März 1993, das ausschließlich gegen die Serben gerichtete Flugverbot über Bosnien-Herzegovina mit militärischen Mitteln durchzusetzen, blieb von vornherein der NATO überlassen. Sogar den tagelangen Luftangriffen der NATO gegen serbische "Militärziele" in Bosnien-Herzegovina zwischen dem 30. August und dem 20. September 1995 lagen UNO-Beschlüsse zugrunde, die ohne russische Mitwirkung nicht zustande gekommen wären. Anschließend stimmte Rußland im Sicherheitsrat zu, in Bosnien-Herzegovina unter dem Deckmantel der UNO eine "Friedenstruppe" zu stationieren, die nicht nur zu 90 Prozent von der NATO gestellt, sondern auch eindeutig von dieser geführt wurde und wird. In ganz ähnlicher Weise wurde jetzt die NATO-Besatzungsarmee im Kosovo durch den UNO-Sicherheitsrat nachträglich mandatiert.

Das ist eine durchaus konsequente Entwicklungslinie, als deren Fazit festzustellen ist, daß die UNO tatsächlich bereits tot ist und an ihrer Stelle nur noch die NATO agiert. Daß Rußland seine Mitwirkung an diesem Prozeß für Schadensbegrenzung hält - und mit diesem Urteil vielleicht sogar richtig liegt - demonstriert lediglich, wie minimal die russischen Mitgestaltungsmöglichkeiten in der Weltpolitik tatsächlich geworden sind.

Abgesehen von seinem immer noch gigantischen Atomwaffen-Arsenal ist Rußland militärisch zugrundegerichtet. Ein Ausdruck davon ist auch das Schrumpfen seines Rüstungsexports, der einmal ungefähr gleichauf mit dem der USA gelegen hatte. Heute beträgt er nicht viel mehr als ein Zehntel des amerikanischen und etwa ein Drittel des französischen (lt. SIPRI-Jahresbericht für 1998). Rußland hat keine militärischen Handlungsoptionen mehr, und die gelegentlichen martialischen Ausbrüche mancher russischer Politiker und Militärs während des NATO-Kriegs gegen Jugoslawien dementieren diese Lage nicht etwa, sondern unterstreichen sie.

Rußland hat in Wirklichkeit überhaupt keine Kapazitäten, um sich auf einen nachholenden Rüstungswettlauf mit der NATO einzulassen. Und es hängt ökonomisch am Tropf des von den USA geführten internationalen Kapitals, das ihm jetzt, wie irgendeinem Land der Dritten Welt, seine Bedingungen diktiert, die auch tief in die russische Sozialpolitik einschneiden. Es bleibt zu allerletzt nur noch die Drohung russischer Militärs, die "taktischen"Atomraketen nicht bloß als abstraktes Potential, sondern als reale Kriegswaffen ins Spiel zu bringen. Das ist als Abschreckung gegen deutsche Alleingänge - wenn man ein solches Szenario denn für möglich hält - wahrscheinlich hinreichend. Für die anstehende nächste Konfliktrunde, bei der es um die direkte Ausdehnung der NATO bis an die russischen Grenzen geht, läßt sich mit der atomaren Drohung aber nicht viel anfangen.

Kt.