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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 429 / 26.8.1999

Zittern in Zittau

Antirassistisches Grenzcamp verstört die BürgerInnen - das soll auch so sein

"Eine Art Kulturschock" titelte die Görlitzer Zeitung im letzten Jahr, als das Antirassistische Grenzcamp der Kampagne "Kein Mensch ist illegal!" nach Rothenburg an der Neiße in der Nähe der sächsischen Stadt Görlitz kam. Und ein Kulturschock war es auch diesmal wieder. In diesem Jahr allerdings fand das Camp 35 Kilometer weiter südlich bei Zittau statt. Doch auch dort wirkte es wie von einem anderen Stern heruntergebeamt. Insgesamt rund 1300 TeilnehmerInnen verzeichneten die VeranstalterInnen; gleichzeitig auf dem Platz mit bis zu 600 Menschen doppelt soviel wie 1998.

Wie im letzten Jahr kämpfte man an drei Fronten: Der staatliche Rassismus - also die Flüchtlings-, Asylpolitik und die BGS-Menschenjagd in der Grenzregion , die rassistische Stimmung unter den BürgerInnen und die organisierten Neonazis vor Ort. "Grenzen sind überkodierte Orte, und so haben auch praktische Interventionen im Grenzgebiet notwendigerweise einen starken symbolischen Charakter. Doch eröffnet sich dort zugleich ein weites Feld an Interventionsmöglichkeiten von Aktionen der Kommunikationsguerilla über klassische Aufklärung bis hin zur effektiven Störung. Und wenn die Grenzsicherung der Behördenpropaganda zufolge vor allem in der gezielt geschürten Denunziationsbereitschaft breiter Teile der Bevölkerung besteht, heißt Sabotage am Grenzregime eben auch, diese Denunziationsbereitschaft zu verstören." Soweit die programmatische Vorgabe aus dem Mobilisierungsflyer. Und bei aller nötigen Kritik: Diesen Vorgaben wurde das Grenzcamp 99 voll und ganz gerecht.

Platz

Als erste antirassistische Aktion muß der Kampf um den Platz angesehen werden. Die 550-Seelen-Gemeinde Lückendorf im Zittauer Gebirge wehrte sich mit Händen und Füßen gegen das Camp, das in ihrem Ort stattfinden sollte. Leider erfolgreich. Obwohl eine Wiese bereits seit Monaten gepachtet, Verträge mit Wasserwerken und anderen Versorgern abgeschlossen waren, verweigerte der zuständige Landrat in letzter Minute die Ausnahmegenehmigung, die für das Zelten im Landschaftsschutzgebiet notwendig ist. Alle Interventionen von Bundespolitikerinnen wie der Ausländerbeauftragten Marieluise Beck (Grüne) und der PDS-Bundestagsabgeordneten Angela Marquardt waren vergebens. Doch nicht nur das Landratsamt kämpfte gegen das Antirassistische Camp, auch die Bevölkerung Lückendorfs stellte sich geschlossen dagegen. Der jeder linksradikalen Gesinnung unverdächtige Verpachter der Wiese wurde im Dorf plötzlich nicht mehr gegrüßt, beim Volksfest wollte niemand auf seinem Wagen mitfahren. Und auch die Neonazis der Region machten mobil. Der Kreisverband der NPD Löbau-Zittau verteilte ein Flugblatt: "Linke Chaoten kommen nach Lückendorf".

Alle Bemühungen um ein Ersatzgelände verliefen erfolglos. Die örtliche PDS und einige Landtagsabgeordnete versuchten zu vermitteln - ohne Ergebnis. Schließlich half nur der Druck des Faktischen. Über hundert AntirassistInnen reisten bereits am Freitag an und belagerten die von der Polizei bewachte Lückendorfer Wiese. Als sie zu verstehen gaben, die Nacht auf dem angrenzenden Parkplatz zu verbringen, gab es plötzlich doch ein notdürftiges Ersatzgelände auf einem ehemaligen NVA-Übungsplatz in Zittau, ab Sonntag dann eine Wiese direkt an der B99 Richtung Görlitz. Erst diese Wiese war denn auch groß genug für die vielen inzwischen angereisten AktivistInnen.

CamperInnen

Versuchten letztes Jahr in Rothenburg noch ein paar FDJler aus Münschen ihr Glück mit Blauhemden und "Manifest"-Lesekreisen, ließen sich dieses Jahr keinerlei Angehörige kommunistischer Splittergrüppchen mehr blicken. Das antiautoritäre, undogmatische Spektrum war unter sich. Doch was heißt das schon?! Auch hier ist eine enorme Spannweite vorhanden: Von ostdeutschen Jungantifas, über westdeutsche Altautonome, Leute aus Flüchtlingsinitiativen, aus den ehemaligen Wohlfahrtsausschüssen, Antideutsche, MusikerInnen, bis hin zu Punks und Wagenplatzhippies. Letztere hatten sogar zwei Esel mitgebracht. Auch ein Altersdurchschnitt ließ sich schwer ermitteln. Viele sehr junge Menschen, im vermutlich ersten Jahr ihrer Politisierung und zahlreiche Altkader, die seit 20 Jahren in der ersten Reihe stehen.

Nazis

Hörte und sah man in Rothenburg praktisch gar nichts von denen, fühlten sie sich dieses Jahr offenbar direkt provoziert. Kein Wunder, in Zittau sind die Nazis bestens organisiert, bekommen von der Stadt gar ein Zentrum finanziert. Nicht nur, daß sie im Vorfeld Stimmung gegen das Camp verbreiteten. Am Montag schossen Nazis aus einem fahrenden Auto mit einer Luftdruckwaffe auf parkende Wagen der CampteilnehmerInnen. Gegen die Zittauer PDS-Direktkandidatin für den Landtag, Juliane Wünsche, die sich für das Camp stark gemacht hatte, wurden Morddrohungen vorgebracht, auf einem Flugblatt ihre vollständige Adresse angegeben.

Öffentlichkeit

Als im letzten Jahr das Antirassistische Grenzcamp nach Rothenburg kam, war die Stimmung in der Region bereits Wochen zuvor vergiftet. Das lag zum Teil daran, daß vorher in Görlitz ein FrauenLesben-Camp stattgefunden und Görlitz mit zahlreichen antirassistischen Graffitties versehen hatte. Das reichte, um die GörlitzerInnen gegen die Frauen aufzubringen. War in den Wochen vor dem gemischtgeschlechtlichen Grenzcamp in den Lokalmedien nur von "Chaoten" bzw. "Autonomen aus Berlin und Hamburg" die Rede, die in Rothenburg erwartet würden, sprachen die Zeitungen später sogar von "Menschenrechtlern", obwohl die Aktionen zum Teil recht konfrontativen Charakter hatten. In Zittau hatte die Sächsische Zeitung vor Beginn des Camps erstaunlich positiv berichtet, und auch das Neue Deutschland hatte das Camp begrüßt. Im Laufe der Woche schwankte die Berichterstattung erheblich je nach Art der Aktionen am Tag zuvor. Das Anliegen an sich erfuhr jedoch deutlich weniger Ablehnung als 1998.

Das bedeutet natürlich nicht, daß die Zittauer Bevölkerung das Camp freudig begrüßte. Unverständnis und Unbehagen dominierten ebenso wie die klare Distanzierung von den Aktionen und dem antirassistischen Anliegen. Die Kommentare von BürgerInnen beim Verteilen der Campzeitung oder in Interviews waren erschreckend. Die Mehrheit lobt die repressive Flüchtlingspolitik und fühlt sich vom BGS eher beschützt als bedroht. Es verwundert nicht, daß der größte Teil der aufgegriffenen illegal eingereisten Flüchtlinge Opfer von Bürgerdenunziationen werden.

Aktionen

Eine Kundgebung auf dem Zittauer Marktplatz mit schrägem Live-Konzert verschiedener Hamburger Rockgrößen aus Bands wie Goldene Zitronen, Sterne, Blumfeld, Robespierres u.a., die jedoch allesamt unter falschen Namen aber in echten Bademänteln spielten. Eine Demo zur polnischen Grenze, während zur selben Zeit auf der anderen Seite, polnische AntirassistInnen ebenfalls eine Kundgebung machten. Blockade der Hauptverkehrsstraße und Rangelei mit der Polizei, um gegen die Festnahme von vier Antifas zu demonstrieren. Räuber-Überfall und Kaperung einer Dampflok-Eisenbahn unter dem Motto "Kuckuck, die Kriminalität hält einzug". Mehrstündige Belagerung einer BGS-Kaserne, bei der die Grenzschützer tatsächlich am Verlassen ihrer Zentrale gehindert werden konnten. Öffentliche Diskussion mit einem Auschwitz-Überlebenden. Demo durch Lückendorf. Picknick in Vorgärten von Eigenheimbesitzern. Trotz Verbot durchgesetzte Demo zum Flüchtlingsheim. Gründung eines Komitees für die Dezentrale Unterbringung der AsylbewerberInnen in Zittau. Trauermarsch mit Kreuzen zur Erinnerung an die über 60 an der Ostgrenze umgekommenen Flüchtlinge. Antifa-Konvoi zum Nazi-Hotel "Neiße-Blick" in Ostriz und entlang Naziadressen in Görlitz. Feuerspektakel. Nachtspaziergänge an der Grenze, um den BGS bei der Arbeit zu stören. Am letzten Tag wurde schließlich die Klosterruine im Kurort Oybin per verstecktem Theater zur Festung Europa erklärt. Ebenfalls zu erwähnen eine sehr schöne Aktion, die in einem Saal der Diakonie stattfand: Antirassistische AktivistInnen hatten in Zittau unscheinbare Plakate aufgehängt und zur Vorführung eines Films mit dem Titel "Die Sonnenfinsternis und ihre Folgen für Deutschland" eingeladen. Der Film, der zunächst ganz seriös mit physikalischen Erklärungen zu dem Naturereignis begann, entwickelte nach und nach die These, daß die Sonne in Deutschland gar nicht mehr aufgehen, Deutschland völlig vereisen werde, und die Bevölkerung daher nach Osten fliehen müsse, wo die Sonne scheine. Obwohl derart getäuscht reagierten die ZuschauerInnen weniger aggressiv als erwartet, und es ergaben sich interessante Diskussionen nach der Vorführung.

Diskussionen

Die Demo durch Lückendorf machte einen der latenten Diskussionen des Camps deutlich: Während einer der Teilnehmer durchs Megafon rief: "Lückendorf Rassistennest - Wir schicken Dir die Beulenpest!", hielt ein andere dagegen: "Bürger laßt das glotzen sein, kommt herunter, reiht Euch ein!" Das Verhältnis zur Bevölkerung muß Thema sein, wenn man aus allen Teilen Deutschlands in eine rechtsdominierte Region fährt, um dort - ja was eigentlich? Die Menschen dort abholen wo sie sind - das wollte mit Sicherheit niemand. Sich auf rassistische Argumentationsweisen einzulassen, kam nicht in Frage. Soweit Konsens. Aber was dann? Aufklärung? Linke Gegenkultur? Alternativen aufzeigen? Einfach provozieren?

Als Sprachregelung einigte man sich auf die Formulierung: "Die Wenigen ansprechen, die anders denken, die sich solidarisch gegenüber Flüchtlingen verhalten." Nicht die Rassisten zu Nichtrassisten machen, sondern die Nichtrassisten ermutigen, Zivilcourage zu zeigen, vielleicht sogar Fluchthilfe zu leisten. Doch auch wenn dies die Botschaft des Camps war, Konsens unter den TeilnehmerInnen war das nicht.

Natürlich konnte das Camp nur Fragen aufwerfen. Es bleibt auch nach Zittau offen, was eine revolutionäre Linke tun soll, die nicht autoritär ist, sich also auch nicht gegen die Masse der Menschen gewaltsam durchsetzen will, daher also die Massen für die revolutionäre Perspektive braucht, aber nicht mehr glaubt, sie überzeugen zu können und dazu größten Teils auch gar keine Lust hat, beziehungsweise die Bevölkerung inzwischen sogar eher als Gegenseite ansieht.

Es gab aber noch andere Debatten, die während der Woche in Zittau eine Rolle spielten: Etwa der Streit um den Plakat-Spruch "Keine Grenze ist für immer". Verschiedene TeilnehmerInnen kritisierten diesen an der deutschen Ostgrenze mehr als zweideutigen Spruch scharf. Auch von Vertriebenenverbänden war jene Parole in der Vergangenheit benutzt worden. In einer halbwegs niveauvollen Plenumsdebatte teilte die Mehrheit diese Kritik. Eine Aktion wurde anschließend umgeplant. War zunächst zur Verwirrung und Störung des BGS vorgesehen, eine Art nächtliche "Schnitzeljagd" an der Grenze zu veranstalten, bei der es darum gehen sollte, nach 22 Uhr über die nach dieser Uhrzeit geschlossene Grüne Grenze zu gelangen - also auch von Deutschland nach Tschechien -, wurde dies nach der erwähnten Diskussion revidiert. Es wurde klargestellt, daß es vor 22 Uhr legal über die Grenze nach Tschechien gehen, und das unkontrollierte Eindringen nur in Richtung Deutschland stattfinden sollte.

Dennoch wurde immer wieder während der neun Tage klar, daß das Camp nicht für alle ein "Antirassistisches Grenzcamp", sondern für viele eher ein "Anti-Grenzcamp" war. Da wurde von der Utopie einer Welt ohne Grenzen und Staaten phantasiert, von Grenzen geredet, die einem selbst gesetzt würden, die es zu überschreiten gelte - alles schön und gut, aber eben Opferdiskurse. Die Ausrichtung des Grenzcamps letztes Jahr war eindeutiger: Die eigenen Privilegien wurden erkannt. War es jahrelang antirassistischer, linksradikaler Konsens "Offene Grenzen" zu fordern, so war die Orientierung nicht weniger CampteilnehmerInnen dieses Jahr auf "Keine Grenzen" ein Bruch damit. Wer aufgrund einer utopisch-anarchistischen - letztlich ja richtigen Vision einer grenzenfreien Welt hier und heute unter den gegebenen politischen Bedingen, die Anerkennung der Oder/Neiße-Grenze durch die BRD nach der Wende nicht gutheißen mag, begibt sich auf gefährliche Abwege.

Eine weitere Diskussion, die wichtig ist, und eher in kleinen Kreisen geführt wurde: Welchen Sinn macht es, die EU-Außengrenze als "Wohlstandsgrenze" zu charakterisieren? Eine etwas surrealistische Aktion brachte diese Frage aufs Tablett: Etwa 50 TeilnehmerInnen des Camps besuchten eine Einfamilienhaussiedlung und ließen sich in den Vorgärten der Häuser nieder, packten Decken und Brote aus, picknickten, spielten Federball, Frisbee, hörten Musik aus dem Kassettenrekorder. An die erzürnten Hausbesitzer wurden etwas wirre Flugblätter verteilt, in denen von "virtuellen RaumschreiterInnen" die Rede war, dessen Mission es sei, eben hier Räume zu durchschreiten. Grenzen wurden als Einzirkelung des Eigentums, als Schutzwall der Habenden gegenüber den Nichthabenden dargestellt. Insofern ähnele die Wohlstandsgrenze Gartenzaun der EU-Außengrenze.

Natürlich ist die Angst vor dem Verlust des Eigentums ein wesentlicher Bestandteil rassistischer Argumentation und natürlich ist die Ausländer-Raus-Politik auch eine zur Absicherung des eigenen Wohlstands. Trotzdem ist Rassismus mehr. In Diskussionen mit der Zittauer Bevölkerung war die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes oder vor Diebstählen in der Laubenkolonnie nur ein Argument unter anderen. Gerade die Angst vor "Überfremdung", vor "anderen Kulturen", vor "dem Fremden an sich" wurde immer wieder vorgebracht. Letztlich erscheint die soziale Angst auch eine Ausrede der Rassisten für ihren Rassismus zu sein. Die Argumentation kann schnell in eine Debatte münden, wie der um Gollwitz, als ostdeutsche Kommunisten die rassistischen Ausbrüche der Gollwitzer Dorfbevölkerung relativierten, indem jene als Opfer der sozialen Krise dargestellt wurden. Genau deshalb ist es wichtig, die rassistische Bevölkerung nicht als Krisenopfer und potentielle Bündnispartner, sondern vor allem als Täter zu bezeichnen.

All diese Diskussionen wurden nicht wirklich ausgetragen, zum größten Teil nur angerissen. Immerhin für viele TeilnehmerInnen ein erster Anstoß, sich mir jenen Fragen auseinanderzusetzen. Das gute an so einem Camp ist, daß eine Debatte, die entlang bestimmter Aktionen geführt werden kann, wesentlich konkreter und weniger abgehoben verläuft. Wie auch schon im letzten Jahr haben AltaktivistInnen aus Westdeutschland viel von jungen Antifas aus Ostdeutschland lernen können - und anders herum. Mit seiner Orientierung auf die drei Fronten des Rassismus (Staat, BürgerInnen, Neonazis) und seiner spannungsreichen Mischung aus Störung, Provokation und Aufklärung ist das Grenzcamp die wesentlichste und politisch interessanteste Aktion zur Zeit in diesem Land. Außer, daß intern Debatten angezettelt wurden, hat das Camp in der Region Zittau wochenlang die Schlagzeilen und Gespräche beherrscht, es hat den BGS gestört, den Nazis kräftig eingeheizt, ist den BürgerInnen auf die Pelle gerückt, hat dauerhafte Initiativen ins Leben gerufen, junge Menschen bei ihrer Politisierung unterstützt - alles in allem ein Erfolg.

Ivo Bozic

Weitere Infos unter: www.nadir.org/ nadir/initiativ/camp