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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 429 / 26.8.1999

"Vom fortschrittlichen Interesse her"

Das Goethe-Jahr 1949 in der SBZ

Der 200. Geburtstag Goethes im August 1949 wurde in der Hochzeit des Kalten Krieges begangen. Die BRD hatte sich im Mai des Jahres mit der Verkündigung des Grundgesetzes konstituiert und damit die Spaltung des Landes vollzogen; als Reaktion darauf wurde am 7. Oktober 1949, zwei Monate nach den Goethe-Feiern, die Verfassung der DDR verabschiedet. In der Sowjetischen Besatzungszone wurden die Feierlichkeiten von langer Hand vorbereitet. Für viele ostdeutsche Kulturpolitiker, allen voran den späteren Kulturminister Johannes R. Becher, bedeutete das Gedenken an Goethe auch ein Bekenntnis zur Einheit Deutschlands und zu jenem humanistischen Erbe, das Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler unterschiedlichster Couleur im Sinne einer kulturellen Volksfrontpolitik einen sollte. Entsprechend begeistert wurde Thomas Mann in der SBZ empfangen. Sein Besuch in Weimar, der in der BRD heftig kritisiert wurde, bildete den Höhepunkt des Goethe-Gedenkens im Ostteil Deutschlands.

Hier wurden die Goethe-Feiern auf breiter Basis geplant. Eine Festspielwoche in Halle, mehrere Ausstellungen - unter anderem über Goethe und die Naturwissenschaften - und eine sechsbändige Jubiläumsausgabe zum 200. Geburtstag des Dichters, die im Aufbau-Verlag erschien (der sogenannte neue Volks-Goethe), sollten den Klassiker den unterschiedlichsten Schichten der Bevölkerung nahebringen. Renommierte Autoren wie Ernst Bloch, Wolfgang Harich, Hans Mayer und Paul Rilla schrieben für die Neue Welt Beiträge zum Goethe-Jahr. Und weil in der Geburtsstadt des Dichterfürsten, in Frankfurt am Main, an Thomas Mann der Goethe-Preis verliehen werden sollte, schuf man in Ost-Berlin in eiliger Konkurrenz einen Goethe-Nationalpreis 1949, dotiert mit 20.000 Mark, den als erster Thomas Mann erhielt.

"Dieser Preis", so der für die Vorbereitungen des Goethejahres beauftragte Heinz-Winfried Sabais nach seiner Flucht in den Westen, "wurde dann nur dieses einzige Mal verliehen. Sein rein propagandistisches Motiv enthüllte sich im Vergleich mit dem sogenannten Goethe-Nationalpreis I. Klasse, dotiert mit 100.000 Mark, den Johannes R. Becher einen Monat nach der Ehrung Thomas Manns erhielt." (1)

"Ein Goethe-Bild für den Werktätigen"

In Ost wie West versuchte man, Goethe zu beerben, ihn für die jeweilige Weltanschauung dienstbar zu machen. So erschien in der Täglichen Rundschau, dem Blatt der Sowjetischen Militäradministration, im Juli und August 1949 eine Artikelserie mit dem Titel "Die Forderung des Tages. Ein Goethe-Bild für den deutschen Werktätigen". Diese Serie sollte "vom fortschrittlichen Interesse her die einzigartige und unvergängliche Bedeutung Goethes erschließen" (Tägliche Rundschau, 16.7.1949).

Nicht immer wurde Goethe so plakativ den Arbeitern empfohlen. Allerdings war man sich in der SBZ eher als in den westlichen Besatzungszonen bewußt, daß die Goethe-Rezeption im Jubiläumsjahr nicht als Alibi benutzt werden dürfe, um aus einer unbequemen, von der Schuld an den Nazi-Verbrechen geprägten Gegenwart in eine schönere Vergangenheit auszuweichen. "Nur der hat das Recht, sich auf das Erbe der Klassik zu berufen", schrieb Wolfgang Harich in der Täglichen Rundschau (31.5.1949), "der über das Unrecht, das im Namen Deutschlands verübt wurde, Scham empfindet und aus der historischen Fehlentwicklung unseres Volkes alle Konsequenzen einer fundamentalen Reinigung und Erneuerung der gesellschaftlichen Zustände zu ziehen bereit ist".

Auch der ungarische Philosoph Gyorgy Lukás betonte in seinem Vortrag über Goethe, den er am am 31. August 1949 in Berlin vor dem Kulturbund hielt (2), den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Veränderungen und der Entwicklung der Goethe-Deutung in Deutschland. Die "Olympier"-Konzeption der nationalliberalen Ära interpretierte Lukács als Versuch der deutschen Bourgeoisie, nach der Niederlage der Revolution von 1848 ihren Kompromiß mit den feudalen Gewalten durch Goethe zu rechtfertigen. Während der imperialistischen Epoche dann sei Goethes Vermächtnis durch Gundolf, Spengler usw. immer mehr für die irrationalistischen, vernunftfeindlichen Tendenzen des Imperialismus ausgeschlachtet worden. Erst von der Großen Oktoberrevolution und dem verwirklichten Sozialismus in der Sowjetunion aus sei es möglich, ein adäquates Goethe-Bild zu schaffen und es gegen vernunftwidrige und inhumane Verfälschungen durchzusetzen - was keineswegs besagen solle, daß Goethe Sozialist gewesen sei oder auch nur den Sozialismus vorausgeahnt habe. Goethe müsse in seiner Größe gesehen werden, gleichzeitig seien aber auch seine Schwächen, tragischen Niederlagen und Kompromisse wissenschaftlich aufzudecken und zu erklären, um so alles Vorwärtsweisende seines Werkes für Gegenwart und Zukunft fruchtbar zu machen.

Thomas Mann in Weimar

Auch Thomas Manns Ansprache zu Goethes 200. Geburtstag, die er sowohl in der Frankfurter Paulskirche als auch in Weimar hielt, war weder eine Verklärung Goethes noch Flucht in eine schöne, bequeme Vergangenheit. Er wolle nicht "die populäre und schon abgeschmackte Unterscheidung mitmachen zwischen einem ,bösen` und einem ,guten` Deutschland und das erhabene Geburtstagskind als den Repräsentanten des ,guten` propagandistisch herausstellen", sagte Thomas Mann. "Großes Deutschtum hat von Gutheit so viel, wie Größe überhaupt davon haben mag, aber das ,böse` Deutschland ist auch in ihm", freilich in sublimer, humanisierter, gebändigter Abwandlung. Goethes Leben, "das man oft ein Kunstwerk genannt hat und besser noch ein Kunststück nennen sollte" und die Vorstellungen von Harmonie, glücklicher Ausgewogenheit und Klassizität, die wir mit Goethes Namen verbinden, "war nichts leichthin Gegebenes, sondern eine gewaltige Leistung, das Werk von Charakterkräften, durch welche dämonisch-gefährliche und möglicherweise zerstörerische Anlagen überwunden, genützt, verklärt, versittlicht wurden, zum Guten und Lebensdienlichen gewendet und gezwungen. Und doch bleibt immer viel Dämonisch-Dunkles, Übermenschlich-Unmenschliches, das den bloßen Humanitarier kalt und schreckhaft anweht". (3)

Als Thomas Mann zu den Goethe-Feiern reiste, lagen 16 Jahre Exil hinter ihm. In seiner Ansprache thematisierte er die Erschütterung, die er beim Wiederbetreten des heimatlichen Bodens empfunden hatte, sein Gefühl der Entwurzelung nach der erzwungenen Emigration und die Wichtigkeit der deutschen Sprache, "dieser wahren und unverlierbaren Heimat, die ich mit ins Exil genommen, und aus der kein Mensch mich vertreiben konnte". Gleichzeitig verteidigte er sich gegen Kritiker, die ihm vorwarfen, er hätte "unwissend und erfahrungslos, in bequemster Lebenslage" der Tragödie seines Volkes von weitem zugesehen. "Nicht doch, ich bin dabei gewesen", erwiderte Mann und verwies auf das "Schmerzensbuch von ,Doktor Faustus`". Gegen Kritik an seiner Fahrt in die SBZ verwehrte er sich mit den Worten: "Ich kenne keine Zonen. Mein Besuch gilt Deutschland selbst, Deutschland als Ganzem, und keinem Besatzungsgebiet. Wer sollte die Einheit Deutschlands gewährleisten und darstellen, wenn nicht ein unabhängiger Schriftsteller, dessen wahre Heimat, wie ich sagte, die freie, von Besatzungen unberührte deutsche Sprache ist?" (4)

Thomas Mann freute sich darüber, daß beide Goethe-Städte, Frankfurt wie Weimar, ihren Goethe-Preis der gleichen Persönlichkeit zugesprochen hatten und wertete dies als ein Zeichen für eine gewisse Einigkeit zumindest auf überpolitischer Ebene. Zudem war er glücklich, mit Weimar die Stadt sehen zu können, die er nicht besuchen durfte, während er an seinem Goethe-Roman schrieb. In Weimar wurde er zudem weitaus freundlicher empfangen als in Frankfurt am Main. "Hier brauchte er das Exil und die Emigranten nicht zu rechtfertigen", schrieb der Leipziger Literaturwissenschaftler Hans Mayer über den Besuch. "Im Dunstkreis von Buchenwald brauchte nichts beschönigt zu werden". (5)

Für Thomas Mann war die Fahrt nach Weimar - mit einem Umweg durch eine soeben nach ihm benannte Straße - der Höhepunkt seiner Deutschlandreise. Umgekehrt bildete sein Besuch in Weimar den Gipfelpunkt der Goethe-Feiern in der SBZ. Die dortige Presse feierte den Dichter schon im voraus enthusiastisch mit langen Beiträgen. In Weimar selbst wurde er von fahnenschwenkenden Jugendlichen begrüßt, und die Thüringische Landeszeitung (4.8.1949) schrieb: "Wir glauben, daß vom Grenzübertritt an der Dichter das Gefühl haben mußte, hier willkommen, im besten Sinne des Wortes, Gast zu sein, daß alles fehlte, was solche ,Staatsbesuche` sonst so peinlich machen kann: Regie, Absicht, Aufwand und Zwang. Sein altes Heimatlied grüßt seinen Dichter: ,Wer mit uns die Heimat retten will, ist unser guter Kamerad`."

Auch die überregionalen Zeitungen der SBZ begrüßten den Dichter mit langen Artikeln auf der ersten Seite. "Thomas Manns Bekenntnis zur Einheit Deutschlands" titelte etwa die Tägliche Rundschau (2.8.49) und zitierte entsprechende Äußerungen des Besuchers.

"Als ob es in den Krieg ginge"

Im Westen hingegen sah sich Thomas Mann nach seiner Weimar-Reise heftigster Kritik ausgesetzt. Vor der Abfahrt nach Deutschland schon hatte ihn ein "Gefühl, als ob es in den Krieg ginge" befallen. (6) Damals konnte er noch nicht wissen, wie wenig ihn dieses Gefühl trügen sollte. Thomas Mann wurde vor allem auch deshalb angegriffen, weil er sich geweigert hatte, einer Aufforderung der "Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit" nachzukommen und während seines Aufenthaltes in der SBZ das Internierungslager Buchenwald zu besuchen, in dem die Sowjets nach der Befreiung nahezu 12.000 "Regimegegner" inhaftiert hatten.

Egon Kogon, der unter den Nazis Häftling in Buchenwald gewesen war, formulierte in einem undatierten offenen Brief an Mann seine Enttäuschung über diese Weigerung: "Sollten Sie in Weimar sprechen", hieß es dort, "so stellen Sie sich der Freundschaft oder dem Haß von 12.000 politischen Gefangenen im bloß acht Kilometer entfernten Konzentrationslager Buchenwald, ,armen, leidenden Menschen`, um über Ihre Person hinaus, auf die sie sie anwandten, Worte aus Ihrer Frankfurter ,Ansprache im Goethe-Jahr` zu gebrauchen. Armen, leidenden Menschen, die sich freilich nicht ,mit den Geburtswehen der neuen, in Umwälzungen und qualvollen Anspannungsnöten liegenden Zeit herumschlagen`, sondern die wegen solcher Probleme herumgeschlagen werden". (7)

Ähnlich wie Kogon äußerte sich in einem offenen Brief vom 17.9.1949 auch der ehemalige Luftwaffenoffizier und spätere Mit-Initiator des "Nationalkomitees Freies Deutschland", Heinrich Graf von Einsiedel, der bis 1948 Redakteur der Täglichen Rundschau war, nun aber an Thomas Mann appellierte, sich von Kommunismus und Sowjetsystem zu distanzieren. (8)

Dazu war Thomas Mann aber nicht bereit. "In der kommunistischen Lehre glaubt Thomas Mann gewisse Beziehungen zur Humanität zu sehen, die sie über den reinen Nihilismus der nationalsozialistischen Doktrin erhebe", schrieb der Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung schon vor dem Besuch Thomas Manns in Weimar. "Er meinte zwar, daß das, was gegenwärtig im Osten geschieht, weniger die wirkliche kommunistische Idee als den russischen Totalitarismus widerspiegle; aber auch in diese Richtung zielende Fragen vermochten ihn nicht zu bewegen, gegen den roten Totalitarismus ebenso Stellung zu nehmen, wie er es seinerseits gegen den braunen getan hat." (9)

Thomas Mann war sich bewußt, daß die Weimar-Reise ihm Probleme bringen könnte - auch in den USA, wo sie Investigationen "wahrscheinlicher" machen würde. (10) Trotzdem bestand er auf einem "Wiedersehen mit dem dem alten Vaterlande als Ganzem. Ich hätte es als unschön und treulos empfunden, wenn ich die Bewohner der sogenannten Ostzone links liegen gelassen hätte", sagte er, nachdem Johannes R. Becher ihm den Goethe-Nationalpreis überreicht hatte. Mann betonte die kulturellen Gemeinsamkeiten Ost- und Westdeutschlands und sprach sich für die "Weckung eines neuen menschlichen Solidaritätsgefühls" aus: "Über allen Unterschieden der Klassen und Anschauungen muß die Erkenntnis stehen, daß gewisse schwer erkämpfte Errungenschaften der Menschheit, daß Freiheit, Recht und Würde des Individuums nicht untergehen dürfen, sondern daß sie, wenn auch in gebundener Form, bedingt durch verstärkte soziale Verpflichtung, erhalten bleiben müssen." (11) In Westdeutschland wurden diese Worte als Kritik am Gesellschaftssystem der SBZ gelesen, in Weimar hingegen als Bekenntnis zur deutschen Einheit.

Angela Martin

Anmerkungen:

1) Zit. nach Thomas Mann, Tagebücher 1949-1950, hg. von Inge Jens, Frankfurt am Main 1991, S.438.
2) György Lukács, Unser Goethe. Festrede, gehalten am 31. August 1949 in Berlin im "Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands", in: Ders., Goethe und seine Zeit, Berlin 1950, S.330-365.
3) Thomas Mann, Ansprache im Goethe-Jahr, in: Ders., Goethe's Laufbahn als Schriftsteller. Zwölf Essays und Reden zu Goethe, Frankfurt am Main 1982, S.312-328, hier S.323f.
4) A.a.O., S.316, 319.
5) Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf, Bd. II, Frankfurt am Main 1984, S.77.
6) Thomas Mann. Tagebücher 1949-1950, Eintrag vom 23.7.1949, S.82.
7) Zit. nach Thomas Mann, Tagebücher 1949-1950, S.430.
8) Vgl. a.a.O., S, 432f.
9) A.a.O., S.434.
10) Thomas Mann. Tagebücher 1949-1950, Eintrag vom 16.6.1949, S.70.
11) Tägliche Rundschau, 2.8.1949.