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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 430 / 23.9.1999

Schleuser und Schlepper

Fluchthilfe als Dienstleistung

Seit Ende der 80er Jahre werden die Themen Flucht und Migration in zunehmendem Maße mit dem Schlagwort der Inneren Sicherheit verknüpft. Eine besondere Rolle spielt dabei die "Bekämpfung des Schlepperunwesens". Die Begriffe "Schlepper" und "Schleuser" sind in der Migrationspolitik politische Kampfbegriffe. Ihre Konnotation verweist auf kriminelle Akteure, die Menschen illegal über Grenzen "schleusen" oder sie gar "schleppen", also zwingen, diese Grenzen zu überwinden. Eine solche Interpretation der heutigen Situation von MigrantInnen und Flüchtlingen hat mit der Realität nicht viel zu tun. Es scheint uns daher dienlich zu sein, diese politischen Kampfbegriffe durch den Begriff der kommerziellen Fluchthilfe zu ersetzen.

Selbst mit den vom Bundesgrenzschutz (BGS) veröffentlichten Statistiken über festgehaltene "illegale" GrenzgängerInnen läßt sich zeigen, daß es immer noch einem Großteil der Flüchtlinge und MigrantInnen gelingt, die EU-Außengrenzen zu überwinden, ohne auf Fluchthilfe zurückzugreifen. Nimmt man als Ausgangspunkt den Zwang oder die Notwendigkeit für einen Menschen, sein Land zu verlassen, und ist ihm diese Möglichkeit verwehrt, so muß er sich der Hilfe von Personen und Gruppen versichern, die mit der Umgehung von Verboten und Hindernissen Erfahrung haben und dieses Know-how in Form einer Dienstleistung anbieten. Sofern die Fluchthilfe nicht politisch, religiös oder humanitär motiviert ist, handelt es sich bei den AnbieterInnen dieser Dienstleistung um Geschäftsleute, die einen Gewinn erzielen wollen.

In der Regel wird zwischen den Vertragsparteien eine mündliche Vereinbarung getroffen, die aufgrund des fehlenden rechtlichen Rahmens nicht einklagbar ist. Der staatliche Verfolgungsdruck führt dazu, daß der Geschäftsablauf durch hohe Risiken für alle Beteiligten und heimliche Fortbewegung gekennzeichnet ist. Dies führt in der Tendenz zu einem relativ großen Abhängigkeitsverhältnis zwischen den heimlich Reisenden und den AnbieterInnen der Dienstleistung. Allerdings dürfte auch hier der "Leumund" der Angebotsseite bei potentiellen EmmigrantInnen eine gegenläufige Rolle spielen: Wie bei anderen marktförmig vermittelten Dienstleistungen sind auch die AnbieterInnen von Fluchthilfe auf einen guten Ruf angewiesen, der von erfolglosen RückkehrerInnen schnell zerstört werden kann.

Es soll bei dieser Erwägung keineswegs verschwiegen werden, daß es Formen von Fluchthilfe gibt, die für MigrantInnen und Flüchtlinge in Abhängigkeitsverhältnissen oder gar mit dem Tode enden. Allerdings kann eine berechtigte Kritik an ausbeuterischer oder fahrlässig geplanter Fluchthilfe nicht davon losgelöst betrachtet werden, daß erst das System der administrativen und materiellen Grenzsicherung den Raum dafür schafft, in dem sich die verschiedenen Formen von Fluchthilfe entwickeln. Sie sind für viele Flüchtlinge und MigrantInnen die einzigen Möglichkeiten, Grenzen zu überwinden, und somit ein notwendiger Bestandteil des Grenzregimes.

Grenzsicherung und Fluchthilfe

Es liegt in der Natur der Sache, daß nur sehr schwer Aussagen darüber gemacht werden können, wie viele Flüchtlinge und MigrantInnen zur heimlichen Einreise nach Deutschland auf Fluchthilfe zurückgreifen. In den Veröffentlichungen des Innenministeriums und des BGS wird allerdings der Eindruck vermittelt, daß der überwiegende Teil der heimlichen Grenzübertritte mit Hilfe von "Schlepperorganisationen" bewerkstelligt werde. Selbst wenn die vom BGS regelmäßig veröffentlichten Statistiken zu Rate gezogen werden, läßt sich diese Darstellung in Frage stellen:

So gibt der BGS beispielsweise für das Jahr 1998 an, 24.050 "illegale" GrenzgängerInnen aufgegriffen zu haben, dabei wären 3.162 "Schleuser" festgestellt worden, die insgesamt 12.533 "Opfer" über die Grenzen geleitet hätten. (1) Nach Schätzungen des Grenzschutzes liegen die tatsächlichen Zahlen "illegaler" Grenzübertritte vier- bis fünfmal höher als die der Festnahmen. Etwas Entsprechendes läge dann wohl für die Zahl der FluchthelferInnen und der von ihnen Beförderten nahe. Es bleibt dann jedoch immer noch eine deutliche Überzahl von etwa drei Vierteln der Grenzübertritte, die von MigrantInnen und Flüchtlingen in Eigenregie versucht werden.

Wenn man die statistischen Angaben des BGS daraufhin untersucht, welche Gruppen von Flüchtlingen und MigrantInnen mit Hilfe von Fluchthilfeunternehmen einreisen, zeigen sich länderspezifische Häufungen. Auch diese werden in den interessierten Veröffentlichungen der "Sicherheitsexperten" selten ausgewiesen und schon gar nicht interpretiert.

Nehmen wir als Beispiel das Jahr 1995. Für diesen Zeitraum gibt der BGS an, alleine an der deutsch-polnischen Grenze 13.276 Personen wegen "illegaler Einreise" festgenommen zu haben. (2) Davon seien 1.096 Personen (8%) von FluchthelferInnen unterstützt und 238 "Schleuser" festgenommen worden. Ein Blick auf die Liste der Herkunftsländer der glücklosen GrenzgängerInnen ergibt folgendes Bild: Zur Einreise ins Schengengebiet verhelfen ließen sich - laut BGS-Angaben - von den 1.858 Menschen aus überwiegend weiter entfernten Ländern 353 Personen (19%). (3) Von 531 festgenommen InderInnen seien es 101 Personen (19%) gewesen, von 1.062 ArmenierInnen 175 Personen (16,5%) und von den 399 AfghanInnen 53 Personen (13%). Aus den eben erwähnten Herkunftsländern ließ sich somit jede fünfte bis achte festgenommene Person über die Grenze verhelfen. Menschen aus den osteuropäischen Ländern griffen auf die Dienstleitung Fluchthilfe weit seltener zurück: Von den 6.505 festgenommenen RumänenInnen waren es lediglich 296 (4,5%), von 531 UkrainerInnen 25 (4,7%), von 531 BulgarInnen 33 (6,2%), von 531 MoldawierInnen 7 (1,3%) und von 398 RussInnen 16 Personen (4%).

Somit bleibt festzuhalten: selbst die veröffentlichten Zahlen des BGS spiegeln die Tatsache wieder, daß die Frage durchaus differenziert zu beantworten ist, ob auf dem Weg nach Westeuropa die Hilfe kommerzieller Fluchthilfeunternehmen ganz oder nur teilweise in Anspruch genommen werden muß, oder ob es möglich ist, die Reise in Eigenregie durchzuführen. Dies dürfte in erster Linie von den Migrationsbedingungen für Menschen in den verschiedenen Ländern abhängen. Nach unseren Beobachtungen finden sich selbstorganisierte Reisen vor allem dann, wenn die Anreise durch die osteuropäischen Staaten noch relativ einfach zu bewerkstelligen ist. Als Beispiel hierfür kann eine 124 Personen große Gruppe von Roma aus Rumänien genannt werden, die im August 1997 vom polnischen Grenzschutz bei Piensk, nördlich von Zgorzelec, verhaftet wurde. (Gazeta Wyborcza, 29.8.97) Die Gruppe, in der sich 64 Kinder im Alter von einem Monat bis zu zwölf Jahren befanden, stammte aus zwei rumänischen Kleinstädten. Sie hatte sich einen Bus mit Fahrer gemietet, der sie bis zu einem Ferienort an der deutschen Grenze gebracht hatte. Dort hatte sie in Zelten polnischer Pfadfinder übernachtet. Obwohl sie sich legal in Polen aufhielt, wurde die Gruppe vom polnischen Grenzschutz verhaftet, in einem Konvoi an die ukrainische Grenze eskortiert und abgeschoben. Für Flüchtlinge aus asiatischen oder afrikanischen Staaten sind derart selbstorganisierte Reisen nach Westeuropa praktisch nicht mehr möglich. Zwar kann unter Umständen ein Visum für Rußland oder die Ukraine beschafft werden, die Weiterreise durch die angrenzenden osteuropäischen Staaten wird jedoch mittlerweile massiv verfolgt und ist mit unübersehbaren Schwierigkeiten verbunden.

Eine letzte Bemerkung im Zusammenhang mit den vom BGS veröffentlichten Daten betrifft die Zahl der festgenommenen FluchthelferInnen. Von Jahr zu Jahr wird hier ein Ansteigen gemeldet. Diese Zunahme dürfte einerseits damit zusammenhängen, daß schon die Anreise durch die osteuropäischen Länder und der Grenzübertritt immer schwieriger werden. Andererseits dürfte sie auf den gleichen Effekt zurückzuführen sein, der für die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) festgestellt werden kann, denn "Steigerungen oder Rückgänge der Registrierung einzelner Delikte in der PKS können immer auch auf eine Veränderung des Aufhellungsgrades, auf verändertes Kontroll- oder Anzeigeverhalten zurückzuführen sein." (4) Im Zusammenhang der steigenden Festnahmezahlen von FluchthelferInnen dürfte hier eine stärkere Fokussierung der gesamten Grenzfahndung auf diesen Aspekt ebenso verantwortlich sein, wie eine verstärkte Anzeigebereitschaft der in die Grenzsicherung eingebundenen Bevölkerung. Außerdem ist der Inhalt dessen, was als "Schlepperei" bezeichnet wird, ständig erweitert worden.

Vom Fluchthelfer zum Menschenschmuggler

Interessant sind auch die vom BGS angegebenen Herkunftsländer der festgestellten "Schleuser". Von den 1996 festgenommenen 387 "Schleusern" seien 226 aus Polen, 77 aus Deutschland und 18 aus der Tschechischen Republik. Es spricht also einiges dafür, daß die "kleine" spontane Fluchthilfe wesentlich häufiger stattfindet als die von langer Hand vorbereitete internationale Migrationsinszenierung, wie das Bundesinnenministerium immer wieder darstellt. Dabei ist natürlich zu berücksichtigen, daß in der Regel nur diejenigen "Fußschleuser" und Transporteure erwischt werden, die den letzten und risikoreichsten, oft einzig illegalen Abschnitt des Fluchtweges bestreiten.

Wie sehr auch die rechtliche Betrachtung von Fluchthilfe vom jeweiligen politischen Kontext abhängt verdeutlicht ein Rückblick in die 80er Jahre. Damals, zur Zeit der propagandistischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West, feierten die westlichen Medien nicht nur die Taten der FluchthelferInnen, Gerichte gewährten im Zweifelsfall auch Rechtsschutz für die gewerbsmäßige und nicht selten bandenmäßig organisierten "Schlepper"- oder damals vielmehr: Fluchthilfeorganisationen. So urteilte 1980 der Bundesgerichtshof (BGH) als Revisionsinstanz zugunsten eines Fluchthelfers. Dieser forderte trotz des mißlungenen Versuchs, einen DDR-Bürger über die Grenze zu bringen, den vereinbarten Vorschuß in Höhe von 10.000 Mark von seinem westdeutschen Auftraggeber und war nach dessen Weigerung bis vor den BGH gezogen.

Der BGH kam in seinem Urteil zu dem Schluß, "daß ein solcher Vertrag nicht allgemein gegen die guten Sitten verstößt". (5) Mehr noch, bei der Erörterung des kommerziellen Charakters dieser Fluchthilfe kam der BGH zu der Einschätzung, "es sei nicht in jedem Fall anstößig, eine Hilfeleistung, selbst für einen Menschen in einer Notlage, von einer Vergütung abhängig zu machen". Das gelte auch, wenn - wie im geschilderten Fall - Hilfe bei der "Ausübung eines Grundrechts an ein Entgelt" geknüpft sei. Das Schleusen von DDR-BürgerInnen über die deutsch-deutsche Grenze beruhe "durchaus auf billigenswerten, ja edlen Motiven" und sei mithin nicht verwerflich.

Auch über einen angemessenen Preis machten sich die Richter Gedanken: "Fluchthilfevergütungen von 15.000 Mark oder 13.000 Mark je ,geschleuster Person" schienen ihnen "im Hinblick auf hohe Unkosten des Fluchthelfers nicht als überhöht". Es wendet sich Kunde an Anbieter, "weil (...) bei ihm die Kenntnisse, Erfahrungen und Verbindungen" erwartet werden, die für eine Flucht, einen heimlichen Grenzübertritt benötigt werden. Auch "der Zwang, der Fluchthilfeorganisation blindes Vertrauen zu schenken, und die faktische Unabänderlichkeit (...) der von ihr gestellten Bedingungen" spielten schon zu jener Zeit eine Rolle und verdeutlichen jenes Abhängigkeitsverhältnis, welches den heutigen "Schleppern und Schleusern" per se als ausbeuterisch angelastet wird. Schließlich geht der BGH auch auf die Gefahren ein, die mit einem unerlaubten Grenzübertritt verbunden sind: "Zu der Frage, ob ein Fluchthilfevertrag sittenwidrig ist, weil ein Fluchthilfeunternehmen Gefahren für beteiligte und womöglich auch unbeteiligte Personen hervorrufen kann, hat der (...) Senat (...) ausgeführt, daß nicht jeder Vertrag sittenwidrig ist, der für die Beteiligten mit persönlichen Gefahren verbunden ist."

Es lohnt sich, diese Erörterungen in dieser Breite zu zitieren, weil sie der heute im Hinblick auf Fluchthilfe propagierten Sicht diametral entgegenstehen. Seit es den Feind im Osten nicht mehr gibt und seit die Bewegungsfreiheit aller Deutschen mit der Wiedervereinigung erreicht worden ist, ist von Freizügigkeit keine Rede mehr. Im Gegenteil, den Strategen der Inneren Sicherheit ist heute kein Vergleich mehr zu gewagt, kein Bild mehr zu schief, um den Entschluß von Menschen, ihre Heimat - aus welchen Gründen auch immer - zu verlassen, als von kriminellen, skrupellosen "Menschenschmugglern" erzwungenen Akt zu diffamieren.

Logik der Aufrüstung

Es ist aufschlußreich genauer hinzusehen, wie in den heutigen Debatten der "Schlepper"-Diskurs je nach Interesse Anwendung findet. Solange es darum geht, Fluchthilfe zu kriminalisieren und als Teil der "Organisierten Kriminalität" darzustellen, erscheinen Flüchtlinge und MigrantInnen als bedauernswerte Opfer, denen schon in den Herkunftsländern aufgelauert wurde und die unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zum rechtswidrigen Einwandern nach Europa verlockt oder gar gezwungen werden. Auch die Tatsache, daß es auf den heimlichen Reiserouten von Flüchtlingen und MigrantInnen immer wieder zu Todesfällen und Unfällen kommt, die teilweise schlecht organisierter oder fahrlässiger Fluchthilfe geschuldet sind, wird in diesem Zusammenhang dazu genutzt, generell die Skrupellosigkeit und Brutalität des "Schlepperunwesens" (Kanther) zu illustrieren. Selbst der Innenminister Bayerns, Günther Beckstein, betont in solchen Fällen: "(...) es gehe ihm hier auch um das Wohl und die Gesundheit derjenigen Menschen, die sich in den Händen skrupelloser Schleuser befänden." (SZ, 17.1.1995)

Ganz anders sieht es aber dann aus, wenn es Flüchtlingen und MigrantInnen gelungen ist, die EU-Außengrenze - mit oder ohne Hilfe - zu überschreiten und sie in die Fänge der deutschen Flüchtlingeverwaltung und Abschiebemaschinerie geraten. In diesem Augenblick erscheinen die heimlich Eingereisten in den Verlautbarungen der Sicherheitsstrategen nicht mehr als Opfer sondern als TäterInnen, die illegal Grenzen überquert haben und Asyl "mißbrauchen". Dazu gehört auch das immer wiederkehrende Argument, die hohen Preise erlaubten es ohnehin nur reichen BürgerInnen fremder Staaten ("Wer hat in der Dritten Welt schon so viel Geld?"), sich FluchthelferInnen zu leisten. Hier ist die Schnittstelle, an der der Diskurs über die heimlich Einreisenden mit dem einer internationalen Kriminalität verknüpft wird, dem dann wieder der Ruf nach einer Verbesserung der Grenzsicherung folgt. Damit schafft sich das Denksystem der Inneren Sicherheit selbst die Voraussetzung für eine weitere Aufrüstung an der Grenze, die weitere Verschärfung der Gesetze und sorgt damit auf Seiten der solchermaßen verfolgten Menschen für eine weitere Zunahme illegaler Handlungen, die dann wieder als Argument für das Anziehen der Restriktionsschrauben des Grenzregimes und der Inneren Sicherheit dienen.

Forschungsgesellschaft
Flucht und Migration (FFM)

Anmerkungen:

1) Bundesgrenzschutz Jahresbericht 1998.

2) Grenzschutzamt (GSA) Frankfurt/Oder: SB 15 Grüne Grenze, Tabellen zu Aufgriffen von illegalen Grenzgängern, Schleusern und geschleusten Personen an der deutsch-polnischen Grenze, 31.12.96.

3) z.B. Vietnam, Syrien, Nepal, Bangladesch, Kongo, Jordanien, Äthiopien, Ruanda, Kasachstan, Aserbeidschan, China, Pakistan, Türkei/Kurdistan usw.

4) Werner Lehne: Kriminalstatistik und Kriminalpolitik, in: ami, 12/97.

5) Im Folgenden wird immer wieder diese Entscheidung des Bundesgerichtshofes von 21.2.1980, NJW 1980, Heft 29, S.1574ff zitiert.