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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 430 / 23.9.1999

Porträt eines Renegaten

Adriano Sofri, Lotta Continua und der Gordische Knoten

"Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche", heißt es im Sprichwort, das sich immer wieder bewahrheitet: Stalinisten werden zu Antikommunisten, militante Spontis zu Staatsmännern, Pazifisten zu Kriegstreibern. Die Bekenntnisbücher solcher Helden der Zeitgeschichte dienen meist nur der Selbstrechtfertigung. Ein Exemplar aus der seltenen Gattung der "ehrlichen Renegaten" ist Adriano Sofri, Italiens prominentester politischer Gefangener (zur Zeit auf freiem Fuß), gegen den ab dem 20. Oktober ein neuer Prozeß geführt wird (siehe gesonderten Artikel). Die Anklage lautet unverändert: Anstiftung zum Mord an dem Polizeikommissar Luigi Calabresi im Mai 1972.

Adriano Sofri verfolgt nicht nur eine kompromißlose Prozeßstrategie in eigener Sache; er hat auch noch während des zermürbenden Kampfes gegen einen lügenhaften Kronzeugen, gegen voreingenommene (oder entsprechend beauftragte) Richter und Staatsanwälte die Kraft gefunden, ein lesenswertes Buch über die Niederlage der Linken zu schreiben. Daß Sofri seine Vergangenheit nicht, wie so viele, einfach abstreifen oder vergessen kann, resultiert natürlich zunächst aus dem endlosen Strafprozeß. So bleibt er bis heute in allen Medien stets "der ehemalige Vorsitzende von Lotta Continua". Das ist mittlerweile 23 Jahre her, auch Lotta Continua (LC) gibt es seitdem nicht mehr. Sie hatte nur sieben Jahre bestanden und zerfiel ohne einen formellen Auflösungsbeschluß nach ihrem II. Nationalen Kongreß in Rimini im November 1976; allein die Zeitung gleichen Namens überdauerte noch ein paar Jahre.

Das Ende von "Lotta" war, ohne Übertreibung, ein schwerer Schlag für die neue Linke in Europa. In Westdeutschland schwärmten Jungproleten und Studenten für die italienische Schwesterorganisation des Kommunistischen Bundes (KB), die wesentlichen Anteil an den militanten Aktionen des "Heißen Herbstes" 1969 gehabt hatte. Getragen wurde der Kampf vor allem von den Arbeitsmigranten aus dem Süden des Landes, die bei FIAT in Turin und in anderen Großbetrieben des Nordens, ohne und gegen die staatstragenden Kommunisten des PCI, nach der Parole verfuhren: "Vogliamo tutto e subito!" ("Wir wollen alles - und zwar sofort!"). Davon war die westdeutsche Arbeiterbewegung meilenweit entfernt - weshalb die linken Kollegen gern den Blick nach Italien schweifen ließen und mit glänzenden Augen die kitschig-schöne LC-Hymne summten: "Una lotta dura, senza paura, per la rivoluzione..."

Hellere Köpfe (wie die GenossInnen der Arbeiterkampf-Redaktion) ahnten, daß der II. LC-Kongreß auch der letzte sein würde. Die Gastdelegierten des Kommunistischen Bundes hatten schlechte Nachrichten aus Rimini mitgebracht: Der Kongreß hatte keinerlei Beschlüsse für die politische Praxis gefaßt; LC war zu einem Sammelsurium unvereinbarer Strömungen geworden; die Feministinnen forderten, die "Arbeiter-Zentralität" durch die "Frauen-Zentralität" zu ersetzen - worauf ein Teil der Arbeiter konterte: "Entweder die Frauen oder wir!" Eine massive Intervention der Jugendlichen, "Bauch-Beiträge", Tränen und Zusammenbrüche rundeten das Bild ab. Eine ernsthafte Auseinandersetzung aber fand nicht statt. Scharf ging die AK-Redaktion mit den italienischen GenossInnen ins Gericht, insbesondere mit der unehrlichen Kongreß-Nachbereitung in der LC-Presse: "Das Kongreß-Fiasko wird - teilweise im Stil eines ,Lore-Romans` - als ganz neue ,menschliche Erfahrung` und neue Qualität des politischen Kampfes bejubelt und tollkühn wird die Parole erhoben: ,Eröffnen wir überall die Widersprüche. Tragen wir überall hin den Reichtum (?!!) unseres zweiten Nationalkongresses` (Schlagzeile von ,Lotta Continua` am 6.11.)." (AK 94, November 1976)

Todesursache umstritten: Der letzte LC-Kongreß

Dem angeblichen Reichtum folgte schnell der Bankrott. Adriano Sofri, der in dem AK-Artikel mehrfach kritisierte LC-Vorsitzende, verließ die Organisation nach dem "Erdbeben" von Rimini und zog sich ins Privatleben zurück; Lotta Continua zerfiel. Die Selbstauflösung sei Ausdruck "extremer Verantwortungslosigkeit" gewesen, kritisierte der schon 1975 ausgetretene Claudio Rinaldi, später Chefredakteur des Wochenmagazin L'Espresso, der "seiner" Organisation im September 1996 eine selbst verfaßte L'Espresso-Titelstory widmete: "Die Jahre von Lotta Continua." Verantwortungslos sei die Auflösung vor allem gegenüber den Jugendlichen gewesen, die von LC an die Idee des "bewaffneten Kampfes" herangeführt worden seien.

Eine Annäherung von LC an die Brigate Rosse (BR) hatte es schon 1972 gegeben; dabei kam es sogar zu Fusionsverhandlungen, in deren Verlauf Sofris Mitangeklagter Pietrostefani, der Leiter des LC-Ordnungsdienstes, den BR de facto vorgeschlagen hatte, der "bewaffnete Arm" von Lotta Continua zu werden. So schildert es Renato Curcio, der Wortführer der ersten BR-Generation. Aus der Fusion wurde nichts, weil die Rotbrigadisten es entrüstet ablehnten, für irgendjemanden den "Laufburschen" zu machen.

Die politisch heimatlos gewordenen LC-Jugendlichen gehörten dann zu den Trägern der Jugendrevolte des Jahres 1977, deren Militanz sich vorrangig gegen die "Verräter" des PCI richtete und sich zuweilen völlig verselbständigte. Etliche ehemalige LC-GenossInnen schlossen sich den Roten Brigaden oder anderen bewaffneten Gruppierungen an. Die meisten von ihnen landeten im Knast, viele wurden zu "reuigen" Kronzeugen, die ihre GenossInnen denunzierten.

20 Jahre Nachdenken über die Niederlage

Für diese Entwicklung trägt die LC-Führung natürlich eine Mitverantwortung - allen voran Adriano Sofri, der große Vorsitzende. Sofri selbst will seine dominierende Position eher als mildernden Umstand gewertet wissen. Der radikale Bruch sei notwendig gewesen, erklärte er 1997 in einem Interview der österreichischen Zeitschrift profil (3.3.97): "Ich war Führer von Lotta Continua in einem Ausmaß, das man sich heute kaum mehr vorstellen kann. Ich konnte meine Position nicht in dem Sinn verändern, daß ich ein Halb-Leader geworden wäre oder ein einfaches Mitglied. Ich konnte nur verschwinden. Ich verschwand. Ich wollte allein sein, um meine persönliche Identität wieder zu erobern. Ich wollte neu beginnen."

Das klingt ein bißchen pathetisch, ist aber glaubwürdig. Denn Sofri hat sich nach der Niederlage der "revolutionären Linken", die auch seine persönliche Niederlage war, nicht auf die Seite der Sieger geflüchtet, wo er dank seiner Intelligenz und persönlichen "Ausstrahlung" hätte Karriere machen können. Sein langjähriger Freund, der Historiker Carlo Ginzburg, verwendet "widerstrebend das abgenutzte Wort", um Sofris Persönlichkeit zu charakterisieren: "Er hatte Charisma, und er wußte es. Führer zu sein lag ihm sehr. Der aktiven Politik den Rücken zu kehren fiel ihm überaus schwer." Ginzburg fügt hinzu: "Sein Leben scheint mir heute in zwei Teile geteilt. Der zweite Teil war ein langes Nachdenken über den ersten Teil" - Nachdenken über die Niederlage.

Was Sofri von anderen "Renegaten" positiv unterscheidet, ist die Ehrlichkeit, mit der er seine revolutionäre Vergangenheit reflektiert. Das gilt insbesondere für sein Buch "Der Knoten und der Nagel" ("Il nodo e il chiodo", Palermo 1995, in deutscher Übersetzung 1998 bei Eichborn erschienen). Sofri entdeckte den Vorteil des langsamen, "weiblichen" Knüpfens von Knoten gegenüber dem schnellen, "männlichen" Einschlagen von Nägeln. So erklärt sich der Titel seines vielschichtigen Buches, das auch für Linke, die Sofris "realpolitische" Schlußfolgerungen nicht teilen, von großem Wert ist.

Sofri und der "Schock des Feminismus"

Der "Einbruch der Frauenbewegung" habe die Linke erschüttert, schreibt Sofri, "und zwar am radikalsten ihren empfindlichsten, exponiertesten Teil" - namentlich Lotta Continua. Auf dem letzten LC-Kongreß "ergriffen Frauen das Wort und sagten ziemlich peinliche Dinge"; sie sprachen über den männlichen und den weiblichen Orgasmus, die "ergebnisorientierte" Sexualität der Genossen - "das Exzentrische daran war nicht so sehr das Gesagte als vielmehr der Ort, an dem es vorgetragen wurde." Sofri gibt den rebellierenden LC-Genossinnen nachträglich recht, und zwar mit prinzipiell "feministischen" Argumenten: "Es besteht - man spürte es - in der Mentalität und im Verhalten der Männer den Frauen gegenüber eine Solidarität, die tiefergehend und stärker ist als die Trennung zwischen den Klassen."

Man "spürt" es oder auch nicht - der Feminist Sofri verzichtet auf eine Beweisführung, trägt aber viel empirisches Material über seinen neuen Dualismus zusammen, der sich in dem Begriffspaar vom Nagel und vom Knoten symbolisiert: "Der Nagel muß tief eingeschlagen werden, mit Kraft; wo er eindringt, bricht er etwas auf. Er wird sich nicht herausziehen lassen, es sei denn um den Preis einer weiteren Zerstörung. Ein Nagel treibt den anderen heraus. Demgegenüber besteht die Stärke des Knotens in seiner Fügsamkeit und Passivität. Zerrt man daran, so zieht er sich fester zusammen und verwickelt sich noch mehr. Löst man ihn, so ist von der Bindung keine Spur mehr zu sehen." Im Rückgriff auf die Urgesellschaften der "Jäger und Sammler" stellt Sofri "männliches" und "weibliches" Prinzip arg plakativ gegenüber: "Die Frauen ,sammeln sich zu einer Gruppe und singen oder sind laut, um die Gefahr zu bannen`. Die Männer jagen häufig im Alleingang, und ihre Sicherheit hängt von ihrer Geräuschlosigkeit ab. Das Sammeln ist geschwätzig und entspannt, das Jagen ist ein schweigsames Tun, angespannt bis zur Qual." Wer würde sich nicht zur idyllisch "weiblichen" Gemütlichkeit hingezogen fühlen? Nur leider ist die ruhmlos: "Das Sammeln hat keine Geschichte, das Jagen ist die Geschichte."

Natürlich will Sofri mit seinem Lob des "Weiblichen", des Knotens und der Langsamkeit auch eine entsprechende Politik begründen: eine nicht-revolutionäre, reformerische, nicht-konfrontative, sich langsam vorwärts tastende Politik. Doch Vorsicht - so platt, wie es in den hier zitierten Passagen erscheinen mag, begründet Sofri, der Renegat und Realo, seine Position nicht. Selbst Lenin, den "am stärksten auf die Stunde X fixierten Menschen", bemüht er als Zeugen. In dessen 1921 verfaßten "Notizen eines Publizisten" (Untertitel: "Über das Besteigen hoher Berge") heißt es ganz unrevolutionär: "... man muß sich mit der Langsamkeit einer Schildkröte fortbewegen, und noch dazu rückwärts, abwärts, weg vom Ziel..." Allerdings bleibt der langsame Rückzug für Lenin eine aufgezwungene, zeitlich begrenzte Phase, die den schnellen Anstieg zum Gipfel vorbereitet.

Nicht so bei Sofri. Sein Buch endet mit dem Lob der "Normalität". Gemeint sind "normale", nicht kriegerische Lebensbedingungen. Wie bedeutend die werden, wenn man auf sie verzichten muß, hat er im belagerten und beschossenen Sarajevo erlebt und in zahlreichen Zeitungsartikeln beschrieben. ",Normal`, ein Wort, das anderswo belächelt wird, ist das heroische Motto, das sich die Bewohner von Sarajevo auf ihre Fahne des Anstands geschrieben haben." (L'Unità, 27.4.94; deutsch in Sofris neuem Buch "Nahaufnahmen")

"Naive Moral" und NATO-Krieg

Seine Reportagen aus Sarajevo beschreiben nicht nur die Wirklichkeit des Krieges, sie werben auch für die Position des "demobilisierten Aktivisten", d.h. des gereiften Ex-Revolutionärs. Sofri spricht in dritter Person von sich und seinen Ex-Genossen: Der "demobilisierte Aktivist", der "die Normalität wieder gelten läßt", bekennt sich zum Eklektizismus und verwirft "abgeschlossene Ideologien". Er denkt, "daß es Werte gibt, die ebenso unantastbar und absolut wie ,normal` sind und mit einer naiven Moral zu tun haben: Werte, die in einem Teil der zehn Gebote enthalten sind, in einer Reihe von Staatsverfassungen, in zwei oder drei Proklamationen der internationalen Institutionen."

Es darf nicht verschwiegen werden, daß Sofris "naive Moral" den Ruf nach "humanitären" Militärinterventionen ausdrücklich einschließt. So hat er die "Untätigkeit des Westens" gegenüber Bosnien beklagt und den NATO-Krieg gegen Jugoslawien gerechtfertigt - mit ähnlichen Argumenten wie Joschka Fischer, von dem er sich aber auch vorsichtig absetzt. Die Dinge seien doch etwas komplizierter als Fischer sie darstelle - weil die von beiden gerufenen "Feuerwehrleute" zuweilen auch "Brandstifter" sind. So endet Sofris Kommentar mit der provozierenden Überschrift "Von Auschwitz nach Pristina" (La Repubblica, 26.4.1999).

Politisch "inkorrekt" ist Sofri auch, wenn er z.B. von "Überbevölkerung" und "Geburtenexplosion" spricht. Trotzdem sollten auch Linksradikale Sofris Buch vom Knoten und vom Nagel lesen - auch wenn sich ihnen dabei zuweilen die Haare sträuben werden. Sofri ist der originellste ehemals linksradikale Renegat, und vermutlich der mit der breitesten "Bildung". Dem Leser begegnen Achill und Penelope, Alexander, der den Knoten mit dem Schwert durchtrennt, Captain Ahab aus "Moby Dick", der Linkshänder Leonardo da Vinci, die Revolutionäre Bakunin, Marx, Lenin, Mao und Alexander Herzen, Benjamin Franklin ("Die Entdeckung der Langsamkeit"), der Bergsteiger Reinhold Messner und sein Yeti.

Sofri präsentiert sein Wissen auf angenehme, unaufdringliche Weise, eher als eine Häufung von Lesetips, von denen zumindest einer hier weiter gegeben werden soll: "Die Brücke über die Drina" von Ivo Andric. Gegen den weltberühmten Autor, schreibt Sofri, gebe es in Bosnien eine "unterschwellige Abneigung ... wegen seiner angeblichen Serbenfreundlichkeit". Sofri lobt Andric' "Gespür für die Zerbrechlichkeit des menschlichen Zusammenlebens. Daraus entsteht eine Neigung, noch bevor und während die Katastrophe hereinbricht, die Beweggründe aller Seiten anzuerkennen" - was (auch falsche, s.o.) Parteinahme nicht ausschließt.

Js.

Bücher von Adriano Sofri in deutscher Übersetzung
Der Knoten und der Nagel. Ein Buch zur linken Hand. Mit einem biographischen Essay von Carlo Ginzburg; Frankfurt am Main (Eichborn) 1998, 323 Seiten, 49,50 DM
Nahaufnahmen; Berlin (Transit) 1999, 128 Seiten, 28 DM