Türkei: Nicht nur die Erde bebt
Erdbeben erschüttert auch das politische Denken
"Was jeder vom ersten Tag der Katastrophe an sah und mit ständig wachsender Empörung zur Sprache brachte, war das Fehlen des Staates auf der Bühne des Unheils. Was man in der Türkei nach dem Erdbeben sah, waren Menschen mit guten Absichten, inmitten einer unorganisierten Gesellschaft." Dies schrieb die Professorin für Ökonomie und Verwaltungswissenschaften, Ayse Bugra, knapp zwei Wochen nach dem Erdbeben in der Istanbuler Zeitung Radikal. Eine Kritik, wie sie so ähnlich selbst in den bislang regierungstreuesten Blättern zu lesen war. Sogar selbst reine Sportmagazine verwandelten sich über Nacht in kritische Nachrichtenmagazine - zumindest eine Zeitlang.
Die Erfahrung, die 20 Millionen Menschen gemacht hatten, als sie nach dem grauenvollen Schwanken und Tanzen der Häuser sich alle im Dunkeln auf der Straße wiederfanden und einfach nichts geschah, was man als Reaktion des Staates auf die Katastrophe hätte deuten können, war zu eindrücklich, als daß man sie irgendwie hätte übergehen können. Da standen Polizisten nur ratlos herum, anstatt die Straßen für Rettungsfahrzeuge frei zu machen. Niemand kam, um Überlebende zu bergen. In einigen Städten, darunter die am schwersten betroffenen Gölcük und Adapazari, trafen die Kräfte der türkischen Zivilverteidigung erst nach 30 Stunden ein.
Da Strom, Telefon und auch Handys ausgefallen waren, saßen die Gouverneure ohne Telefonverbindung an ihren Schreibtischen. Satellitentelefone für den Notfall waren, wie sich das für einen Zentralstaat gehört, beim Amt des Ministerpräsidenten in Ankara gelagert. Dort kam man auf die Idee, sie auf Lastwagen zu laden und so zu den örtlichen Stäben zu bringen. Allerdings hatte das zentrale Krisenzentrum nicht damit gerechnet, daß die Autobahn zwischen Ankara und Istanbul selbst beschädigt war. Die dringend gebrauchten Telefone standen also im Stau. Schließlich wurden Hubschrauber zu den Lastwagen geschickt und die Telefone in die Hubschrauber umgeladen.
Von dem Stau hatte man im Krisenzentrum in Ankara erst am Abend nach dem Erdbeben nicht etwa von der Armee oder einer anderen staatlichen Institution, sondern durch einen Amateurfunker erfahren. D.h. einen ganzen Tag wußte das Krisenzentrum in Ankara nicht einmal, daß die wichtigste Verkehrsverbindung des Landes nur eingeschränkt benutzt werden konnte.
Weniger folgenreich, aber kennzeichnend für das völlig planlose Handeln staatlicher Stellen, war der Umgang mit den Opferzahlen. Lange Zeit stiegen die bekanntgegebenen Verletztenzahlen beständig an, bis sie bei 42.000 angelangt war. Danach sanken sie 10 Tage lang kontinuierlich bis auf 24.000. Hintergrund war die Tatsache, daß das Krisenzentrum eine neue Ermittlungsmethode angewandt hatte. Die entsprechenden Zahlen wurden jetzt festgestellt, indem bei den Krankenhäusern täglich angefragt wurde, wie viele Erdbebenopfer in dem Krankenhaus behandelt würden. Damit fielen die behandelten, aber bereits wieder entlassenen Erdbebenopfer natürlich aus der Statistik heraus. Nachdem die Presse dahintergekommen war, blieb die Zahl der Verletzten plötzlich konstant bei 24.000 stehen.
Seltsames geschah auch bei den Angaben, wie viele Menschen durch das Erdbeben umgekommen seien. Nachdem das Krisenzentrum offenbar tagelang keine Ahnung davon hatte, in welcher Größenordnung die Zahl der Toten liegen könnte, stieg die Zahl der geborgenen Toten dann rasch an. Doch plötzlich sank sie wieder um 5.000. Zunächst konnte keine Erklärung dafür gegeben werden. Dann hieß es, ein Angestellter der Stadtverwaltung von Izmit habe die Zahlen gefälscht, um mehr Hilfsgelder zu bekommen. Also einfach Schlamperei oder doch der Versuch, die Katastrophe nicht ganz so groß erscheinen zu lassen, um die Gemüter nicht zu sehr zu erregen?
Überfälliger Wandel
Einzelheiten und Differenzierungen zählten bald nicht mehr unter dem allgemeinen Eindruck, daß der Staat total versagt habe. Dabei gab es auch viele nicht gerechtfertigte Vorwürfe an Staat, Regierung und Militär, die ja selbst mit ihrem Apparat zum Teil Opfer der Katastrophe geworden waren. Der Tourismusminister Erkan Mumcu meinte im Parlament: "Alle ideologischen Argumente sind durch das Erdbeben eingeebnet." Und noch deutlicher fügte er hinzu: "Was unter den Trümmern liegt, ist das politische und administrative System der Türkei."
Einer, der das gar nicht einsehen wollte, war der Gesundheitsminister Osman Durmus. Fleißig warf er mit nationalistischen und rassistischen Parolen um sich und behauptete, der Staat hätte alles im Griff. Daß ihm das letztere nicht abgenommen wurde, war offenkundig, aber auch mit seinen rechtsradikalen Ansichten erntete er nur Kritik. Selbst die sonst streng auf Nationalismus bedachte und als dem Militär nahestehend bekannte Zeitung Hürriyet, derzeit die auflagenstärkste Zeitung der Türkei, fauchte ihn auf der Titelseite mit der Überschrift: "Schweig" an. Durmus hatte sich u.a. gegen die Verwendung von Blutkonserven aus Griechenland ausgesprochen und gesagt, man brauche keine fremden Ärzte, deren Lebensgewohnheiten man nicht kenne. Ein Rettungsteam aus Armenien wurde auf Betreiben der Partei der nationalistischen Bewegung (MHP), der Durmus angehört, erst gar nicht ins Land gelassen.
Premierminister Bülent Ecevit stellte sich, die Koalitionsarithmetik fest im Blick und auch wohl in dem Bewußtsein, daß ein Rücktritt leicht einen Domino-Effekt nach sich ziehen könnte, vor den umstrittenen Minister. Aber nicht nur Ecevit reagierte so, auch die Opposition war mit einem Mal ganz nachsichtig mit der von den Medien hart angegriffenen Regierung. Schließlich waren alle größeren Parteien der Türkei in den letzten Jahren mindestens an einer Regierung beteiligt. Zu leicht hätte da die Frage aufkommen können, was sie denn im Katastrophenschutz getan hätten.
Die Helden der Öffentlichkeit sind in der Türkei zur Zeit nicht die Parteien und die Politiker. Es ist der Handwerker Ibrahim, der mit Vorschlaghammer und Bolzenschneider und ein paar Freunden in der Nacht des Bebens in seinen Kleinbus steigt und losfährt, um Menschenleben zu retten. Das ist auch der aus einem Bergsteigerclub hervorgegangene Rettungsverein AKUT. Das sind die Leute, die spontan Decken und Lebensmittel bringen oder sich den ausländischen Rettungsteams als Dolmetscher zur Verfügung stellen.
Wird der Staat manchmal übertrieben schlecht dargestellt wird, so wird die Wirkung dieser, bis auf AKUT, fast völlig unorganisierten Hilfe auch etwas übertrieben. Doch diese Hilfsbereitschaft und allgemeine Solidarität ist das neue, das Rettung verspricht. In dieser spontanen Hilfe kann sich jeder selbst erkennen.
Die Zeitung Milliyet empfiehlt, sich in Zukunft nicht mehr so sehr auf den Staat zu verlassen: "Aus der Katastrophe zu lernen heißt, daß die Menschen für sich selbst die Verantwortung übernehmen. Heißt, zu erkennen wie falsch es ist, alles von Vater Staat zu erwarten. Heißt, sich unabhängig und auf freiwilliger Basis in den Organisationen der Zivilgesellschaft zu organisieren ..."
Auffallend an der Debatte nach dem Erdbeben sind vor allem zwei Dinge. Zum einen rechnet sie sehr grundsätzlich mit dem bestehenden System ab. Es hätte ja genauso gut bei der Wut auf die Unternehmer, die mit Billigbauten, sogenannten Sandburgen, zum Teil Hunderte in den Tod rissen, stehen bleiben können oder bei einer Abrechnung mit der Regierung. Der zweite Punkt ist, daß die so beliebten Identitätsfragen, Türke/Ausländer, Kemalist/Islamist oder Türke/Kurde, die normalerweise den Rahmen für die politischen Auseinandersetzungen bilden, bisher so gut wie keine Rolle spielen.
Ein wenig erinnert das an die ersten Monate nach dem Susurluk-Skandal. Durch einen Unfall bei dem Ort Susurluk am 3. November 1996 kamen damals lange vermutete Verbindungen zwischen rechtsradikalen Killern, Polizei, Politikern und Mafiabossen an das Licht der Öffentlichkeit. Die Türkei stand eine Weile Kopf, dann gelang es, die Aufregung um Susurluk durch den Streit zwischen Islamisten und Kemalisten zu verdrängen. Das Ergebnis: Bis zum Hals im Schlamm von Susurluk steckende Politiker, wie der einstige Innenminister Mehmet Agar, der einem gesuchten Mörder und einem Drogenschmuggler einen Ausweis "Spezialwaffen für Sicherheitsexperten" ausgestellt hatte, wurden mit traumhaften Wahlergebnissen wieder ins Parlament gewählt.
Es scheint, als hätte das Erdbeben eine anstehende Debatte, die anläßlich Susurluk schon einmal aufgeblitzt war, wieder freigelegt. In den vergangenen siebzig Jahren hat sich die Welt um einiges verändert, und die türkische Bevölkerung, die zu Atatürks Zeiten noch zu mehr als 80% auf dem Lande lebte, hat nicht weniger große Veränderungen durchgemacht. Der Staat und seine Werte werden dem wohl irgendwann einmal folgen müssen.
Jan Keetman