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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 431 / 21.10.1999

Warmlaufen für den Wechsel

Drei Wahlen in Rußland: Noch ist alles im Fluß

Drei Wahlkampagnen überlagern sich in den nächsten Monaten in Rußland. Zwei wichtige Termine fallen sogar direkt zusammen: Am 19. Dezember, dem Tag der Dumawahl, wird auch der Bürgermeister von Moskau neu gewählt. Beide Wahlen sind aber nur der Auftakt zum großen Wechsel, der für den Sommer 2000 ansteht, wenn der Präsident der russischen Föderation neu gewählt wird.

Die Verwirrung ist groß: 139 Parteien, Gruppen und Bewegungen, von denen sich die Mehrzahl auch jetzt noch in beständiger Umgruppierung befindet, sind für die Dumawahl bisher registriert; mehr als zehn Präsidentschaftskandidaten sind bereits in Position gegangen, weitere sind zu erwarten. Dies alles geschieht in einer Situation, in der die Regierungschefs in immer schnellerer Folge wechseln. Skeptiker sagen Manipulationen der Wahl durch die Regierung Wladimir Putins, schlimmstenfalls die Ausrufung des Ausnahmezustands durch den herrschenden Jelzin-Clan voraus. Im schweizerischen Davos beraten wieder einmal Rußlands Geldmagnaten mit Vertretern westlichen Kapitals, wie man in die Wahlkämpfe eingreifen kann.

Dies alles läßt den Eindruck aufkommen, als wiederhole sich die Situation von 1995/96. Die damaligen Wahlen führten dazu, daß eine kommunistisch majorisierte Duma und eine prowestliche, sich demokratisch nennende Regierung einander gegenseitig lähmten. Doch die Voraussetzungen für die anstehenden Wahlen unterscheiden sich von denen der Jahre 1995/96 erheblich: Seinerzeit erschien Boris Jelzin, aller Unzufriedenheit zum Trotz, vielen als Garant für Stabilität und eine Kontinuität im Wandel; heute ist er das Symbol für die Krise, deren Ende man sich wünscht. Die Umverteilung ist abgeschlossen. Mit dem Finanzkrach vom August 1998 hat der Präsident auch die soziale Basis verloren, auf die sich seine Politik stützte - die Gewinner der Privatisierung und die neue Mittelschicht um sie herum.

Nicht mehr das gemeinschaftliche Interesse von Räubern an der Aufrechterhaltung eines Status quo wie vor fünf Jahren, sondern der Wunsch nach einem effektiven staatlichen Rahmen für die Nutzung des Erworbenen bestimmt jetzt die Auseinandersetzungen. Jetzt kämpfen die finanz-industriellen Gruppen, die Oligarchen, untereinander um Einfluß auf staatliche Regulationsinstrumente und bevorzugen dabei in Konkurrenz zueinander unterschiedliche Kandidaten.

Einzelne Oligarchen setzen - wie Beresowski, der den Jelzin-Clan und auch Alexander Lebed unterstützt - auf mehrere personelle Varianten gleichzeitig. Die in ihrer Existenz bedrohte Mittelschicht aber sucht eine neue politische Heimat, die ihr ein Überleben ermöglicht.

Hinzugekommen ist auch eine neue Bedeutung der Regionen als selbständige Subjekte. Die Krise vom August 1998 beschleunigte die Abkoppelung der regionalen Wirtschaftsräume vom zahlungsunfähigen Zentrum. Eine Sonderrolle spielt die Stadt Moskau, die unter ihrem Bürgermeister Juri Luschkow ein eigenes Modell der wirtschaftlichen Verwaltungspatronage entwickeln konnte, das er im Wahlkampf jetzt in die Regionen zu exportieren versucht.

"Demokrat" - ein Schimpfwort

1995/96 gelang es Boris Jelzin, sich als Hüter der Demokratie gegen die Unruhestifter aus dem kommunistischen und aus dem nationalistischen Lager aufzubauen. Heute ist diese einfache Polarisierung nicht mehr möglich. "Demokrat" wurde zum neurussischen Schimpfwort, Kommunisten wie Nationalisten etablierten sich als unspektakulärer Bestandteil der neuen Normalität. Zwischen den bisherigen Polen hat sich eine politische Mitte herausgebildet, deren Führer eine national-demokratische Stabilisierung als dritten Weg zwischen Marktwirtschaft und Kommunismus, zwischen Demokraten und Kommunisten, zwischen Ost- und Westorientierung propagieren.

Politisch ist der Platz des kommenden Wahlsiegers damit bereits beschrieben. Das gilt für die Moskauer Wahlen ebenso wie für die zur Duma und später die Präsidentschaftswahlen. Nun geht es nur noch darum, wer diesen Platz besetzen kann.

Es ist mit Sicherheit nicht die Kommunistische Partei Rußlands (KPRF). Sie ist zwar nach wie vor die größte Partei, ja, neben den Liberaldemokraten Wladimir Schirinowskis sogar die einzige Partei mit einer festen Parteistruktur. Ihre in Umfragen ermittelter Stimmenanteil jedoch stagniert bei 23% - dem Wert, den sie bei der Dumawahl 1995 erreichte. Parteisekretär Gennadij Szuganow, gegen den Jelzin 1996 zur Stichwahl antreten mußte, heißt trotz einer auf Null gesunkenen Popularität des amtierenden Präsidenten im Lande nur noch "der ewige Zweite". Die KPRF hat heute eine stabile Funktion für die Integration der unzufriedenen ländlichen Bevölkerung, der mittleren, betagteren Bürokraten und der Sowjetnostalgiker verschiedenster Couleur. Für die neuen Mittelschichten, die an einer Entwicklung des russischen Kapitalismus interessiert sind, ist ihr wesentlich auf Verteidigung sozialer Privilegien gerichtetes Programm nicht attraktiv, zumal es von einer opportunistischen Unterstützung der Regierungspolitik immer wieder Lügen gestraft wird. Der von ihr propagierte Wahlblock "Sieg" (Pobjeda) leidet an mangelnder Begeisterung früherer Bündnispartner. Ausgerechnet die Agrarpartei hat ein Wahlbündnis abgelehnt; Gruppen des linken, neostalinistischen Flügels wollen einen eigenen Wahlkampf führen. Die angestrebte Konzentration "aller patriotischen Kräfte" wird so kaum zustandekommen.

Keine Chance für Radikalreformer

Noch weniger Chancen als die KPRF haben die liberalen Demokraten der früheren Radikalreformer um Jegor Gaidar, Anatoly Tschubajs, Boris Nemzow, Sergei Kirijenko und andere, die sich zu dem Wahlblock "Die rechte Sache" zusammengeschlossen haben. Schon 1995 verfehlten sie die 5%-Hürde. Heute versuchen sie mit Kritik am "bürokratischen Kapitalismus" Punkte zu machen, aber als Verantwortliche für die bisherige Privatisierung finden sie in der Bevölkerung kein Gehör. Die Absage von Ex-Ministerpräsident Sergei Stepaschin an die Adresse dieses Kreises zeigt darüber hinaus, daß "Die rechte Sache" auch für die zur Zeit herrschende Clique nicht mehr von Interesse ist.

Interessant wäre allenfalls ein Bündnis zwischen den ehemaligen Radikalreformern und der Gruppierung "Jabloko", dessen bekanntester Vertreter Gregori Jawlinski Leitfigur all derer ist, die den Anspruch auf demokratische Reformen jenseits von Privatisierungsraub noch nicht aufgegeben haben. Jawlinski aber lehnt jedes Zusammengehen mit den diskreditierten Figuren der Privatisierungsbürokratie ab. Mehr noch, er schloß sich demonstrativ mit Serge Stepaschin zusammen, nachdem dieser der "Rechten Sache" eine Absage erteilt hatte. Nach diesem Zug steht Gregori Jawlinski und seine Bewegung "Jabloko" weit oben auf der Popularitätsliste. Ein Durchbruch zur Macht ist aber nicht zu erwarten. Die Bewegung kann froh sein, wenn sie ihr 6,9%-Ergebnis von 1995 halten kann.

Ebensowenig wird es gelingen, Wladimir Schirinowski und seine Liberaldemokratische Partei (LDPR) zum nationalistischen Buhmann aufzubauen, wie das 1995 geschah. Schirinowski erhielt 1995 11,2% der Stimmen zur Duma. Auch heute liegt er mit dem fünften Platz für seine Partei und dem sechsten für sich selbst durchaus im mittleren Bereich der Popularitätsskala. Das nationalistische Programm der LDPR, mehr noch aber das chamäleonartige politische Auftreten ihres Führers, der sich nach verbalen Attacken auf die Regierung immer wieder auf die Seite Jelzins schlug, stellen jedoch weder für die Mehrheit der heutigen Traditionalisten, noch für die politisch entwurzelte Mittelklasse eine Alternative dar.

Neuerdings macht auch Alexander Barschakows mit faschistischer Symbolik agitierenden "Russische Nationale Einheit" (RNE) von sich reden, vor allem, nachdem Moskaus Bürgermeister Luschkow ein Auftrittsverbot über die Organisation verhängte. Chance auf einen Platz in der Duma hätte die RNE jedoch bestenfalls unter den Fittichen Schirinowskis. Das aber ließe weder Barkaschows noch Schirinowskis Führerehre zu. Eher wird die RNE Teile der LDPR abwerben.

Luschkow muß sich von Jelzin deutlich absetzen

Anwärter auf den Platz, der sich zwischen Kommunisten und Demokraten heute öffnet, sind die neuen Pragmatiker vom Kaliber Juri Luschkows in Moskau oder Alexander Lebeds in Krasnojarsk - allerdings nur, sofern sie es schaffen, genügend Distanz zwischen sich und die aktuellen Praktiker der Macht im Kreml zu bringen. Juri Luschkow liegt zur Zeit ganz vorne im Rennen. In dem Wahlblock "Vaterland/Das ganze Rußland" gelang es ihm, seine eigene Bewegung "Vaterland" mit dem Bündnis von Gouverneuren einiger wichtiger Regionen zusammenzuführen. Damit und mit der Erklärung des allseits umworbenen Jewgeni Primakow, sich diesem Bündnis anschließen zu wollen, haben sich die politischen Gewichte erheblich zu Gunsten Luschkows verschoben. Die Kommunistische Partei, bis dahin Listenführerin auf der wöchentlichen Popularitätsskala der Meinungsforscher, wurde von dem neuen Bündnis auf Platz zwei verwiesen, Alexander Lebeds "Republikanische Volkspartei" und Lebed selbst hielten zwar ihre Listenplätze, verloren aber an Sympathiepunkten.

Alles sieht so aus, als werde Luschkows Bündnis die bisherige Partei der Macht, seit 1995 gestellt von Tschernomyrdins Bewegung "Unser Haus Rußland", ablösen. Aber erst muß es dem Bündnis gelingen, sich glaubhaft von Boris Jelzin und seiner "Familie" zu distanzieren, wenn es von den Wählern nicht als bloße Neuauflage der bisherigen Macht verstanden werden will. Zu diesem Zweck wird der Moskauer Bürgermeister noch reichlich politischen Schlamm gegen den Präsidenten werfen müssen.

Der wird sich, unterstützt vom ehemaligen Geheimdienstler Wladimir Putin, mit Enthüllungen über Luschkows Moskauer Patronage revanchieren. So kann es durchaus geschehen, daß die herrschende Macht und ihre zur Zeit stärksten Herausforderer sich gegenseitig derart schwächen, daß lachende Dritte ins Spiel kommen. Vor diesem Hintergrund dürften die Versuche Beresowskis zu verstehen sein, der sich kürzlich bemühte, ein Bündnis namens "Muschiki" (in der Bedeutung: Aufrechte Männer) zustandezubringen, das verschiedene "starke Männer", u.a. auch Tschernomyrdin, sowie Gouverneure mit Lebed und seiner "Republikanischen Volkspartei" vereinen sollte. Das Bündnis kam nicht zustande; der Vorgang zeigt aber: Es ist noch alles im Fluß. Gegenüber dem Moskauer Clan, der von Boris Jelzins Gnaden groß wurde, hat Alexander Lebed einen Vorteil: Er hat sich aus den Machenschaften der herrschenden Kreml-Clique nachweisbar und für alle erkennbar herausgehalten.

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de