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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 431 / 21.10.1999

Ein Staat macht Schluß

Revolution, Konterrevolution und innere Auszehrung - das Ende der DDR

Erich Honecker ließ sich bis zu seinem Tode im Mai 1994 nicht umstimmen: Der "Sieg der Konterrevolution" im Herbst 1989 sei auf "feindliche Einmischung" von außen zurückzuführen. Die staatstreuen Medien des wiedervereinigten Deutschland dagegen singen zehn Jahre danach ein Loblied auf die "friedliche Revolution" und ihre mutigen Helden. In beiden Darstellungen wird Entscheidendes vergessen: Die innere Zerrüttung des realsozialistischen Lagers war 1989 so weit fortgeschritten, daß auch das Ende der DDR nur noch eine Frage der Zeit war.

Von dem ehemaligen US-Verteidigungsminister Caspar Weinberger stammt der vielzitierte Satz, das sozialistische Lager werde entweder mit einem "Winseln" oder mit einem "Knall" zusammenbrechen. Was den Zusammenbruch der DDR begleitete, war zuweilen weniger als ein Winseln: Stasi-Minister Mielkes meist falsch wiedergegebener Satz "Aber ich liebe euch doch, ich liebe doch alle Menschen" war das hilflose Gestammel eines eben noch Mächtigen, der die Welt nicht mehr verstand. Gesprochen wurden diese Worte am 13. November, wenige Tage nach der Maueröffnung.

Ähnlich jämmerlich wirkt der nachträgliche Versuch von Egon Krenz, sich als scharfsichtigen Realisten und Deeskalierer darzustellen. Schon im Juni 1989 "verzweifelt" er über die Lage im Lande und ist "entsetzt" über die die Sturheit der Führungskader: "Was muß eigentlich noch geschehen, damit einige erwachen?" So steht es in seinem jüngst erschienenen Buch "Herbst 89". Das sich bei der Lektüre ergebende Bild ist niederschmetternd: Das Politbüro der SED, deren Führungsrolle in Artikel 1 der DDR-Verfassung garantiert war, wurde von der Entwicklung im Sommer und Herbst 1989 regelrecht überrollt. Das änderte sich auch nach Honeckers Absetzung nicht. Sie kam viel zu spät, und die angeblich mit sofortiger Wirkung eingeleitete "Wende" bestand zunächst vor allem in hilfloser "Dialog"-Rhetorik.

Krenz' Antrittsrede, die am 18. Oktober live im DDR-Fernsehen übertragen wurde, mußte auch dem letzten deutlich machen, daß er und seine Genossen am Ende waren. Der neue Generalsekretär säuselte vom "Miteinander", von "gemeinsam Anpacken", "Aufeinanderzugehen", vom "Reichtum an Neuem" und entdeckte gar den "selbstbewußten und kritischen Bürger, den mündigen Bürger". Die Partei habe "in den vergangenen Monaten die gesellschaftliche Entwicklung nicht real genug eingeschätzt". Für die "richtigen Schlußfolgerungen" sei es aber nicht zu spät: "Nie war das Klima dem dienlicher und dafür fordernder als heute."

Der Realsozialismus in Auflösung

Noch zwei Monate vorher wäre das Angebot zum Dialog von den Oppositionellen dankbar angenommen worden. Jetzt war es dafür zu spät, mußten der "Wende" im Politbüro zwangsläufig und im Eiltempo immer weitere Zugeständnisse folgen: die Amnestie für Flüchtlinge und Demonstranten am 27. Oktober, der mehr oder weniger freiwillige Rückzug besonders belasteter Politbürokraten ab dem 3. November, die überstürzte Öffnung der Grenzen ausgerechnet am 9. November, dem Jahrestag der Reichspogromnacht von 1938. Eine Illusion war es zu glauben, mit Hilfe solcher Zugeständnisse könne die SED zumindest einen Teil der Macht behalten. Noch ferner der Realität als der Opportunist Krenz bewegten sich allerdings etliche westdeutsche Linke, die sich auf ihren analytischen Scharfblick allerhand zugute halten. Hermann L. Gremliza etwa formulierte in konkret 10/89 die Hoffnung, es möge der SED gelingen, "bis zur absehbaren Pleite der polnischen und ungarischen Abenteuer durchzuhalten". Der Versuch, diesen (bösen) Traum zu verwirklichen, wäre auf verschärfte Repression hinausgelaufen. Er hätte den Gang der Ereignisse allenfalls verzögern können - und die Idee des Sozialismus noch nachhaltiger diskreditiert.

Wer die Lage ernsthaft zu analysieren bereit war, konnte schon vor der finalen Krise der DDR erkennen, daß der gesamte Realsozialismus vor dem Ende stand. In ak 308 (26. Juni 1989) schrieb Kt.: "Die Hypothese, daß das realsozialistische ,Imperium` sich in Auflösung, wenn nicht im Zusammenbruch befindet, scheint heute jedenfalls plausibler als die umgekehrte Annahme gutmeinender Linker, es handele sich um eine vielversprechende Erneuerung des Sozialismus. Es scheint, daß diese erste experimentelle Form des Sozialismus nicht mehr zu retten ist, so daß es am zweckmäßigsten wäre, wenn sie sich ohne große Konflikte und Massaker transformieren und damit die relativ günstigsten Bedingungen für einen neuen Anfang offen lassen würde. Die schlimmste Variante wäre, daß das chinesische Beispiel Schule macht." (Der Artikel trug die Überschrift "Realsozialismus zwischen Erneuerung und Untergang"; mit den "gutmeinenden Linken" waren Leute gemeint wie der spätere Wortführer der Antideutschen, Jürgen Elsässer, der sein damaliges Idol Jelzin per ak mit dem Ruf "Go, Boris, go!" zur sozialistischen Erneuerung ermuntern wollte.)

Die Einschätzung, der Realsozialismus stehe kurz vor seinem Ende, basierte auf einer nüchternen Bestandsaufnahme. Die wirtschaftliche Krise der Sowjetunion hatte sich unter Gorbatschow weiter verschärft. Die sowjetische Doktrin von der "begrenzten Souveränität" der realsozialistischen Länder galt nicht mehr, "brüderliche Hilfe" in Form militärischen Eingreifens gegen Oppositionsbewegungen (wie 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in der CSSR) war nicht mehr zu erwarten - die bedrängten "Bruderparteien" mußten allein zusehen, wie sie klarkamen, und notfalls einen Teil der Macht abgeben. Daß sich Polen und Ungarn als erste dem kapitalistischen Westen ergaben, mag man als Verrat am Sozialismus geißeln (die SED tat das); eine realistische Alternative gab es für beide Länder vermutlich nicht. Für die DDR und die CSSR aber wird die Lage im Sommer 1989 "allmählich unhaltbar, zumal sie durch das Wegbrechen Polens und Ungarns in eine Insel-Situation geraten." (ak 308)

Die Führung der SED war zu einer solchen Bilanz offensichtlich nicht fähig, weil sie die Wirklichkeit nicht wahrhaben wollte. Ihr ging es um die eigene Macht und sonst gar nichts. Selbst die verheerende wirtschaftliche Situation des eigenen Landes wurde im Politbüro nicht diskutiert. Erst im Dezember wurde die Dimension der Verschuldung bekannt gemacht: Die DDR hatte zu diesem Zeitpunkt ein Haushaltsdefizit von 17 Milliarden Mark und Inlandsschulden von 135 Milliarden Mark. Nicht nur gigantische Ausgaben für Militär und Staatsschutz trugen zu dieser desolaten Lage bei. Eine wesentliche Rolle spielten die Subventionierung von Mieten und Lebensmitteln sowie ein funktionierendes Gesundheitswesen - klassische sozialstaatliche Errungenschaften.

Alles im Griff auf dem sinkenden Schiff

Es ist eine Ironie der Geschichte, daß die Jubelfeiern zum 40. Jahrestag der Staatsgründung den Untergang der DDR beschleunigten. Da das Land wegen dieser Feiern unter verschärfter internationaler Beobachtung stand, war ein hartes Vorgehen gegen die Opposition nicht opportun, auch wenn gleichzeitig angeordnet wurde, "feindliche Aktionen" müßten "im Keim erstickt" werden. Aus Image-Gründen sah sich das Regime gar dazu gezwungen, die Besetzer der BRD-Botschaften in Prag und Warschau in den Westen ausreisen zu lassen. Dieses als "einmalige humanitäre Maßnahme" deklarierte Nachgeben bewirkte sofort eine neue Fluchtwelle, und wieder durften die Besetzer der bundesdeutschen Botschaft in Prag in die BRD ausreisen.

Ein einziges Mal ging die Staatsmacht mit landesweit koordinierter Brutalität gegen die Opposition vor. Das war am Jahrestag der DDR-Gründung selbst, als Demonstranten zusammengeknüppelt, massenhaft festgenommen ("zugeführt") und viele in Polizeigewahrsam mißhandelt, beleidigt und eingeschüchtert wurden. Von Erich Mielke, der nach Gorbatschows Abreise persönlich die Einsätze in Berlin leitete, sind die Aussprüche übermittelt: "Jetzt ist Schluß mit der Humanität" (bzw. "mit dem Humanismus") und "Haut sie zusammen, die Schweine". Aber unterm Strich stimmt es: Der Staat ergab sich fast ohne Gegenwehr. Das deutet auf fortgeschrittene innere Zerrüttung hin. Der berühmte Leipziger Gewaltfreiheitsappell vom 9. Oktober erreichte auch die Staatsmacht, die zwar über massenhaft Waffen verfügte, diese aber nicht einzusetzen bereit war. Viele Angehörige der eigens mobilisierten Kampfgruppen desertierten, indem sie wegblieben oder gar ihren Austritt erklärten.

Das zeugt zumindest von Realismus. Die DDR war nur lebensfähig, solange sie von der Sowjetunion militärisch gestützt wurde. Ein ostdeutscher Sonderweg fünf nach zwölf war nicht möglich. Honecker konnte Anfang 1989 zwar selbstherrlich die deutsche Ausgabe der reformorientierten Moskauer Zeitschrift Sputnik verbieten. Als es ums Ganze ging, erwies er sich als Feldherr fast ohne Truppen.

Wenn die DDR also im wesentlichen an den inneren Widersprüchen des realsozialistischen Lagers zugrunde ging, dann darf darüber die aggressive Politik des Imperialismus nicht vergessen werden. Die Strategie des "Totrüstens" erwies sich als ebenso erfolgreich wie ihre sozialliberale Ergänzung, die Politik des "Wandels durch Annäherung". Dazu gehörten großzügige finanzielle Zuwendungen an die "reformwilligen" Kräfte im Osten, im Jahre 1989 namentlich Ungarn und die Sowjetunion.

Die Kohl-Regierung hielt, bei allem nationalen Pathos anläßlich des Mauerfalls, zunächst an dieser Politik fest. Während sie die Einheitsrhetorik für kurze Zeit zurückstellte, lockte sie mit dem "Begrüßungsgeld" Millionen von DDR-BürgerInnen ins westdeutsche Konsumparadies - ein genialer Schachzug. Gleichzeitig stellte sie klar, daß finanzielle Hilfe für die DDR an Voraussetzungen gebunden sei, darunter die Einführung der Marktwirtschaft. Diesem überlegten Krisenmanagement hatte die SED-Führung nichts entgegenzusetzen - sie reagierte nur, und stets zu spät. Aus der von Krenz am 18. Oktober angekündigten "politischen Offensive" konnte nichts werden.

Rübermacher, Revoluzzer und Kapitulanten

Die "Massen" waren, im Rückblick betrachtet, auch nicht schlauer. In ihrer Gier nach der D-Mark vertrauten sie auf Kohl, von dem sie natürlich betrogen wurden. Daß das Versprechen "blühender Landschaften" eine bewußte Lüge war, hätten sie allerdings wissen können, wenn sie im Grundkurs Marxismus-Leninismus aufgepaßt hätten. Genau genommen wußten sie es noch Mitte Dezember 89: Damals sprachen sich bei einer Umfrage von Meinungsforschern aus der BRD und der DDR 73 Prozent der befragten DDR-BürgerInnen für eine souveräne DDR aus und 71 Prozent für die Idee des Sozialismus. Nur 27 Prozent wollten einen gesamtdeutschen Staat, 61 Prozent gaben einem "gründlich reformierten sozialistischen System" den Vorzug vor dem BRD-Kapitalismus, für den 39 Prozent votierten.

Innerhalb von drei Monaten allerdings ging dieses bessere Wissen auf wundersame Weise verloren: Bei der Volkskammerwahl am 18. März 1990 teilten sich die Parteien, die für den Beitritt der DDR zur BRD warben, drei Viertel der Stimmen; die konservative Allianz für Deutschland (CDU plus Anhängsel) war mit 48,1 Prozent klare Siegerin vor der SPD, die nur auf 21,8 Prozent kam (PDS: 16,3 Prozent, Freie Demokraten 5,3 Prozent, Bündnis90 2,9 Prozent, Grüne/Unabhängiger Frauenverband 2 Prozent).

Die ursprünglichen Anliegen der Opposition, auch der bürgerlichen (von denen etliche zu CDU, SPD und Grünen gegangen sind), waren dennoch berechtigt. Es ging eben nicht allein und nicht einmal vorrangig um schnöden Mammon. Im übrigen wären auch die materiellen Interessen zu differenzieren: Eine halbwegs geräumige und komfortable Wohnung oder ein Telefonanschluß sind für die EinwohnerInnen eines mitteleuropäischen Industriestaates sicher keine übertriebenen Ansprüche. Aber auch der Massenwahn der Trabi-Fahrer, die nun endlich zumindest auf einen Golf umsteigen wollten, kann die berechtigten Forderungen der "Bürgerbewegung" nicht diskreditieren. Die Opposition kritisierte mit vollem Recht:

- den Mangel an Demokratie

- die Verlogenheit der Medien

- das Monopol der SED

- das Ausreiseverbot

- den Verfall der Städte

- die Vergiftung und Zerstörung der Umwelt.

Problematisch war allenfalls die pazifistische Losung "Schwerter zu Pflugscharen", insofern sie vom militärisch unterlegenen Osten einseitige Abrüstung forderte. Später richtete sich der Protest gegen den Stasi-Überwachungsstaat und die Privilegien der Nomenklatura. Auch das waren, mal abgesehen von persönlichen Rachegelüsten, berechtigte Anliegen.

In der heute verkündeten Staatsdoktrin wird allerdings eine wesentliche Bedingung für den Erfolg der Opposition im Herbst 89 unterschlagen. Die "friedliche Revolution der Bürger" konnte die Staatsmacht nur deshalb so schnell und weitgehend reibungslos stürzen, weil gleichzeitig Hunderttausende der DDR den Rücken kehrten. Durch die Massenflucht litten die Produktion, der Handel und nicht zuletzt die medizinische Versorgung. Nach Berechnungen des Ökonomieprofessors Peter Thal verlor die DDR pro zehntausend Ausreisende jährlich 330 Mio Mark, entsprechend 0,12 Prozent des Nationaleinkommens. Die insgesamt 340.000 Rübermacher des Jahres 1989, mehrheitlich junge Leute, hätten die DDR also mehr als 4 Prozent des Nationaleinkommens gekostet. Gleichzeitig skandierte die Opposition, deren "Rädelsführer" die SED gern für immer los geworden wäre, trotzig ihr "Wir bleiben hier" - eine Lage, in der es auch für den durchhaltewilligsten Apparatschik letztlich nur einen Ausweg gab: die Kapitulation.

Js.