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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 431 / 21.10.1999

Die rot-grüne "Neue Mitte" im Crashtest

Linke Grüne ziehen Bilanz nach einem Jahr Rot-Grün

Wir dokumentieren in Auszügen ein Papier von Annelie Buntenbach und Klaus Dräger, das beide unter dem Titel "Nicht alles anders, aber vieles besser?" vorgelegt haben. In einem ersten Teil analysieren sie die zwölfmonatigen Regierungstätigkeit von Rot-Grün, die sie als "Neoliberalismus mit anderen Mitteln" kennzeichnen. Im Anschluß daran diskutieren sie Konsequenzen für die Linke in der BRD und plädieren für die Zusammenarbeit über Partei- und Gruppengrenzen hinweg.
Über das hier dokumentierte hinaus skizzieren die beiden ein alternatives Projekt zur "Neuen Mitte" unter den Schlagwörtern Teilhabegesellschaft und Zukunftsfähigkeit. Das komplette Papier kann über das Berliner Büro von Annelie Buntenbach bezogen werden.

Die SPD gewann die Bundestagswahl 1998 erdrutschartig, weil sie die Gerechtigkeitslücke nach 16 Jahren neoliberaler Politik erfolgreich thematisieren konnte. (...)

Der Regierungswechsel war allerdings eher Resultat einer Protestwahl gegen 16 Jahre Kohl und kein bewußter Aufbruch zu einer ausgewiesenen inhaltlichen Alternative. Wie bei den Bundestagswahlen zuvor sprachen sich nur rund 25 bis 30% der WählerInnen für ein programmatisch konturiertes rot-grünes Projekt aus. Vielen WählerInnen der beiden neuen Regierungsparteien ging es darum, vom gewohnten Bonner Sozialstaat noch eben so viel zu retten, wie irgend möglich war. Die Erfahrungen mit 16 Jahren Kohl hatten gezeigt, daß das Zurückschneiden des Sozialstaats, die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse und die Politik der Lohnzurückhaltung nicht zum versprochenen Abbau der Massenerwerbslosigkeit geführt hatten. Gleichzeitig wuchs die soziale Kluft bei den Einkommens- und Vermögensverhältnissen. Viele der WählerInnen der neuen Regierungsmehrheit erwarteten, daß sie künftig von einer weiteren Demontage des Sozialstaats verschont blieben und die entstandene Gerechtigkeitslücke wenigstens etwas abgemildert würde. SPD und Grüne waren mit einer WählerInnenbasis konfrontiert, die in ihrer Mehrheit kaum aktive programmatische Anforderungen an einen Politikwechsel stellte. Sie suchte eher passiv Ruhe und Schutz vor weiteren sozialen Zumutungen.

Diese Erwartungskonstellation wurde insbesondere Oskar Lafontaines Plänen für eine neue europäische Nachfragepolitik, eine moderate Umverteilung bei Einkommen und Vermögen und eine neue internationale Finanzarchitektur zum Verhängnis. Ein Großteil des Wahlvolks war schlicht befremdet und verstand die neuen Ansätze nicht. Die Wirtschafts- und Interessenverbände der Gutsituierten liefen Sturm, die Medien assistierten ihnen dabei. In der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion und selbst bis in weite Teile der Gewerkschaften hinein blieb der alerte Finanzminister isoliert. Der grüne Koalitionspartner zeigte Unverständnis bis Desinteresse, die grüne Regierungslinke kam parallel mit dem Projekt des Atomausstiegs ins Schlingern. (...) So war Lafontaines Abgang nach dem ersten Halbjahr einer moderaten rot-grünen Reformpolitik nur folgerichtig. Die Auseinandersetzung innerhalb der Regierung nach dem "Aufstand des Kapitals" (FAZ) gegen eine in der Tat vermurkste Ökosteuer, die erste Einkommensteuerreform und die Neuregelung der 630-DM-Jobs hatten gezeigt, daß die Mehrheit der Kabinettsmitglieder sowie der Partei- und Fraktionsführungen beider Koalitionspartner nicht bereit war, auch nur begrenzte und moderate Konflikte mit den Unternehmerverbänden und den Interessen der Vermögenden durchzustehen. Der Regierungswechsel in Hessen infolge der CDU-Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft bestätigte die Regierung in ihrer Ansicht, daß sie nun zurückhaltender agieren müsse.

Nun wurde aus dem sozialdemokratischen Kanzleramt eine "Politik der zweiten Chance" propagiert. Rechts gewendete Grüne schlossen sich als "Motor der Reformen" beherzt Hombachs Strategie des "Dritten Weges" an. Die grüne Bundestagsfraktion profilierte sich in Fragen der Sozial- und Verteilungspolitik nunmehr mit Vorschlägen, die Wende zur "Angebotspolitik von links" schneller und entschlossener einzuschlagen als die SPD. Gemeinsamer Nenner dieses Kurswechsels ist es, möglichst nichts zu unternehmen, was einen erneuten heftigen Widerstand von Kapital- und VermögensbesitzerInnen sowie Besserverdienenden hervorrufen könnte.

Die Politik der zweiten Chance mündete in die deutsche Beteiligung am NATO-Krieg gegen Jugoslawien, das Schröder-Blair-Papier, in Pläne zur Subventionierung eines Niedriglohnsektors und einer die Unternehmen deutlich entlastenden Unternehmenssteuerreform. Das mit dem Titel "Zukunftsprogramm 2000" euphemistisch umschriebene Sparpaket ist das bisher härteste Austeritätsprogramm in der bundesdeutschen Geschichte. (...)

Selbstvernichtung der Linken?

Die Ideologen des "Dritten Weges" in den roten und grünen Parteien nehmen den allgemeinen Diskurs um Modernisierung und bessere Wettbewerbsfähigkeit als Ausgangspunkt, um eine neue Synthese zwischen dem Wohlfahrtsstaat europäischer Prägung und dem US-amerikanischen Neoliberalismus herzustellen. Ihre Vorstellung von Modernisierung ist eher altbacken: Sie wollen die Wettbewerbsfähigkeit der Industriesektoren der 60er Jahre wie Automobil, Stahl, Chemie und Maschinenbau auf High-Tech-Niveau stärken, Risikotechnologien wie der Gentechnik und der Nano-Technologie zum Durchbruch verhelfen und die "Wissensgesellschaft" ohne Risikoschutz durch wachstumsstarke Informationstechnologien und Medien auf den Weg bringen. (...)

Nun kann man den Anhängern des Dritten Weges allerdings nicht vorwerfen, sie hätten keine Konzepte für neue soziale Arrangements. Nur gleichen diese fast bis aufs Haar den alten aus der christliberalen Ära von Kohl. Im Mittelpunkt ihres Werbens stehen die sogenannten "gesellschaftlichen Leistungsträger": hochqualifizierte ArbeitnehmerInnen, vorausschauende und engagierte Manager und Unternehmer, innovative und fleißige Mittelständler, Handwerker und Freiberufler, mutige Existenzgründer, hervorragend ausgebildete InformatikerInnen, ÄrztInnen und IngenieurInnen, erfindungsreiche Techniker und Wissenschaftler. Das ist fast die gleiche Zielgruppe, mit deren Hilfe in Biedenkopfs und Stoibers Bayerisch-Sächsischer Zukunftskommission eine "neue Renaissance der Selbständigkeit" ins Leben gerufen werden sollte.

Bei den Grünen müssen die gleichen Leistungsträgerschichten zwar noch ein wenig ökologisch sensibilisiert sein - den Platz der hochqualifizierten ArbeitnehmerInnen nehmen bei ihnen außerdem vielleicht eher die weiblichen ExistenzgründerInnen und hippe Jugendliche ein - doch hat man sie genauso wie die Neue Mitte als zentralen Adressat der eigenen Politik auserkoren. Papiere zum segensreichen Wirken der Klein- und Mittelunternehmen für Jobs und Innovation sind - wider jede wirtschaftswissentschaftliche Empirie - bei Grünen und Sozis Legion. (...)

Allen anderen signalisiert die Neue Mitte denn auch, daß sie sich anzupassen haben. Die Verteilungsverhältnisse, die 16 Jahre neoliberale Umverteilungspolitik von unten nach oben geschaffen haben, werden im Kern als Grundlage der eigenen Politikentwürfe akzeptiert. Um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu stärken und den Staat zu entschulden, seien sogar weitere Umverteilungen nötig. So holt Eichels Sparpaket das Geld überwiegend bei denen, die keine wirksame Lobby haben: RentnerInnen, Erwerbslose, WohngeldempfängerInnen. Wer betont, der Staat müsse sparen, könnte ja auch betuchtere Gruppen ins Visier nehmen, wenn es um Ausgabekürzungen geht. Die Unternehmen sollen hingegen um etwa 4 Mrd. Euro steuerlich entlastet werden. Für jene Menschen, die auf Transfereinkommen des Staates und der Sozial- und Rentenversicherung angewiesen sind, wird die Kohlsche Umverteilungspolitik in verschärfter Form fortgeführt. (...)

Im Unterschied zur Konfrontationspolitik Henckelscher Prägung sollen diese Ziele bei der Neuen Mitte jedoch im Konsens mit den Gewerkschaften durchgesetzt werden - auf Grundlage ihrer erheblich geschwächten Ausgangsposition nach 16 Jahren christliberaler "Reformen". Die rot-grüne Koalition will sie im Gegensatz zu Kohl mit im Boot haben, um ihren eigentümlichen "Neoliberalismus mit anderen Mitteln" (Michael Felder) beim Umbau des Sozialstaats und der Arbeitsgesellschaft ohne Widerstände voranzutreiben. Das zentrale Instrument ist ein Neokorporatismus neuer Art: das "Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit", aber auch im Bereich der Umwelt- und Energiepolitik verschiedene "Konsensrunden" mit den Unternehmern zur Energie- und Umweltpolitik. Der Unterschied zum Korporatismus der 60er und 70er Jahre ist deutlich: damals ging es um ein gegenseitiges Geben und Nehmen zwischen Arbeitnehmervertretungen, Arbeitgebern und Staat. Heute sind die Arbeitgeber kaum zu Zugeständnissen bereit - ihr oberstes Ziel ist die sogenannte "Wettbewerbsfähigkeit", eine Politik der Lohnmäßigung, Kostensenkung und der Steigerung des "Shareholder Value". Der Staat kann unter selbstgesetzten Sparzwängen nichts mehr für die ArbeitnehmerInnen einbringen - selbst die nötigen (hohen) Subventionen für die Verbreiterung des Niedriglohnsektors bereiten den beteiligten Akteuren viel Kopfzerbrechen. Im Szenario der Neuen Mitte wird von den Gewerkschaften eine Politik bis hin zur Selbstaufgabe verlangt. Ihre Rolle soll künftig darin bestehen, den von ihnen vertretenen Interessengruppen die nötigen Anpassungen an die schöne neue Welt optimal zu verkaufen und für Ruhe zu sorgen. Die Gewerkschaften sind in diesem Modell nicht mehr die kollektive Interessenvertretung der ArbeitnehmerInnen, sie verzichten auf ein allgemeinpolitisches Mandat und sollen nur noch "den einzelnen gegen Willkür schützen". "Die traditionellen Konflikte am Arbeitsplatz (müssen) überwunden werden", die Gewerkschaften sollen "in Kooperation mit den Arbeitgebern den Wandel gestalten". (Schröder-Blair-Papier) Die Gewerkschaften sollen folglich als Transmissionsriemen staatlicher und unternehmerischer Politik zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit fungieren. Nicht wenige in den Gewerkschaftsspitzen sehen darin dann auch die letzte Chance, überhaupt noch einen gewissen gesellschaftlichen Einfluß der traditionellen Arbeiterbewegung zu erhalten. (...)

Insgesamt signalisiert die rot-grüne Neue Mitte der breiten Mehrheit: "Ihr müßt mit weniger auskommen. Vorrang hat die Wettbewerbsposition unserer Industrie, das Wohlergehen der Unternehmen und die Motivation der Leistungsträger. Ihr müßt euch anpassen. Wenn ihr euch sehr anstrengt, könnt ihr zumindest etwas oberhalb des Existenzminimums überleben - unsere aktivierende Arbeitsmarktpolitik hilft euch dabei. Wer das nicht schafft, muß auch nicht verhungern, kriegt aber künftig weniger als heute. Ihr müßt all eure Kraft und eure Ideen für den Erfolg unserer Unternehmen auf den Weltmärkten geben. Aber bei allen strategisch wichtigen Entscheidungen fragen wir nicht euch, sondern die innovativen Macher. Im übrigen - was unseren Unternehmen Probleme bereiten könnte (Verteilungspolitik, ordnungsrechtliche Maßnahmen für die Umwelt oder für Frauen etc.) - unterlassen wir lieber. Denn gegen die Interessen der Wirtschaft (d.h. der Kapitaleigentümer und der ihnen verbundenen sozialen Schichten) kann dieses Land nicht regiert werden."

Die sozialdemokratischen StammwählerInnen verstanden die Botschaft und merkten, daß sie in diesem Kalkül nur noch als Restgröße und Fußabtreter vorkamen. (...) Daß nicht alles anders, aber vieles besser werden sollte, hatten sie sich so nicht vorgestellt. Das heterogene Potential der Grünen spaltete sich nach dem tiefgehenden Konflikt um den Kosovokrieg nochmals entlang der kombinierten Ökologie- und Gerechtigkeitsfrage. Sie waren sauer auf das Ausbleiben umweltpolitischer Erfolge und die Wendung der grünen Bundestagsfraktion zum Wirtschaftsliberalismus. Bündnis 90/Die Grünen setzen ihre wahlpolitische Talfahrt fort, die schon vor der Bundestagswahl begonnen hatte. Bei der Europawahl 1999 und bei der Kommunalwahl in NRW verloren sie bis zur Hälfte ihrer früheren WählerInnen.

Die StammwählerInnenschaft der SPD floh in die Wahlenthaltung, die Partei landete von Wahl zu Wahl tiefer im Keller (...) Die CDU triumphierte, obwohl sie kaum mehr WählerInnen mobilisieren konnte als in vorangegangenen Wahlen. Die Entwicklung ist eindeutig: durch das rapide Wachstum der NichtwählerInnen bestimmen Minderheiten die Mehrheitsverhältnisse in den Parlamenten. Verstärkt wurde dieser Trend, indem rot-grüne PolitikerInnen ständig Parolen wiederholten, die früher nur aus Margaret Thatchers Mund zu hören waren: "TINA - There is no alternative (Es gibt keine Alternative!)". Die Politik der "zweiten Chance" hat in eine tiefe Krise der bundesdeutschen Demokratie geführt. Die rot-grüne Neue Mitte ist gegenwärtig dabei, das Potential für einen in Ansätzen möglichen Politikwechsel in Deutschland und Europa zu spalten und abzustoßen. Der "Dritte Weg" führt geradewegs in die Selbstvernichtung der Linken.

Selbst wenn die Regierung sich mit dieser Strategie zu einem späteren Zeitpunkt stabilisieren sollte - grundlegende Unterschiede zur Umverteilungspolitik der christliberalen Ära sind nicht mehr zur erkennen (andere Nuancen gibt es immer). Die politischen Gewichte in Deutschland werden deutlich nach rechts verschoben. Zwar gibt es noch "Rechts" und "Links" auf der Ebene politischer Symbolik, doch beim praktischen Output der Politik wird alles sehr beliebig und austauschbar. Eine unterscheidbare "Linke" mit Massenappeal existiert nicht mehr - mit Ausnahme der PDS im Osten. Doch sie profitiert fürs erste davon, geschickt das Label der "sozialen Gerechtigkeit" zu übernehmen, ohne ein alternatives strategisches Projekt anbieten zu können.

Grüne: liberale Scharnierpartei?

Noch zu Beginn der 90er Jahre sah sich die grüne Strömung der Realpolitiker als pragmatische Reformisten an, die an der Seite Oskar Lafontaines und der linken Sozialdemokratie für moderate ökologische und soziale Reformen stritt. Sie verstand sich als "postmaterialistische Linke", die in einer Strategie kleinster Schritte zusammen mit der SPD Deutschland erneuern wollte. Spätestens seit Mitte der 90er Jahre hat sie ihr Selbstverständnis radikal verändert. Immer mehr wurden Deutungsmuster und politische Konzepte aus dem geistigen Arsenal des Neoliberalismus aufgesaugt und in grünen Politspeak übersetzt.

So war bald die Rede von der notwendigen "Renaissance der Selbständigkeit" (Hubert Kleinert), von einer "nachhaltigen Finanzpolitik" (Oswald Metzger), von einer grünen "Angebotspolitik von links" (Margarete Wolf), von der "Entdeckung des Marktes" (Tom Koenigs), von der Senkung des Spitzensteuersatzes und einer die Gewinne entlastenden Unternehmenssteuerreform (Christine Scheel), von "Generationengerechtigkeit" bei der Rente (die durch eine Rentenniveausenkung wie bei der CDU durch einen demografischen Faktor erreicht werden sollte) oder vom Vorrang für kleine und mittlere Unternehmen. Diese Umorientierung wurde in der Folgezeit in der Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik radikalisiert und am Primat der "Markttauglichkeit" ausgerichtet (eigene Vorschläge zum Niedriglohnsektor, verschärftes Rentenkonzept Thea Dückerts, Umweltpolitik im Dialog mit der Wirtschaft, die neuesten Vorschläge Margarete Wolfs zu einer neuen "liberalen" grünen Wirtschaftspolitik etc.). Der grüne NRW-Bauminister Michael Vesper bringt den neuen Geist auf den Punkt und verlangt ein "klares Bekenntnis der Grünen zur Wirtschaft". Nur bei der Ökosteuer orientierte man sich zeitweise an alten sozialdemokratischen Konzepten (Einnahmen verwenden, um Lohnnebenkosten zu senken). (...)

Die Mehrheit der grünen Bundestagsfraktion hatte die Partei in der öffentlichen Wahrnehmung damit bald als Gruppierung zwischen SPD und CDU positioniert, die prinzipiell mit beiden Koalitionen abschließen kann und die SPD in der Wirtschafts- und Sozialpolitik aggressiv in Richtung des Hombachschen Modernisierungskurses (mit umweltpolitischen Einsprengseln) treibt.

Die grüne Linke hatte auf diesen Strategiewechsel der Realos vorerst keine gemeinsame politische Antwort. Grüne Linke mögen an der einen oder anderen Frage noch bis zu 40% der grünen Parteitagsdelegierten für ihre Anliegen mobilisieren, aber sie haben kaum mehr eine Mehrheitschance und liegen politisch tiefer am Boden denn je. Spätestens mit dem Kosovo-Parteitag der Grünen hat sich gezeigt, daß eine latente Mitte-Rechts-Mehrheit sich in der Partei verfestigt hat. Die grüne Linke ist ähnlich wie Jusos und SPD-Linke in die Rolle einer strukturellen Minderheit geraten. (...)

Politische Umgruppierung der Linken

Die strategische Perspektive, über eine Regierungsbeteiligung sozial-ökologische Reformpolitik wenn auch in kleinsten Schritten voranzutreiben, ist durch die Wende zur "Politik der Zweiten Chance" vollständig verbaut worden. Ein gemeinsames rot-grünes sozial-ökologisches Reformprojekt, auf das vor der Bundestagswahl so viele gehofft hatten, gibt es nicht mehr. Auf der Ebene der Parteipolitik betrifft dies nicht nur SPD und Grüne, sondern auch die PDS.

Die PDS hat im Westen aufgrund ihrer politischen Herkunft und der fortgesetzten DDR-Nostalgie eines bedeutenden Teils ihrer östlichen WählerInnenbasis nach wie vor erhebliche Schwierigkeiten, als glaubwürdige linke Alternative angenommen zu werden. Doch dies ist nicht ihr einziges Handicap. Die Ergebnisse ihrer Regierungsbeteiligung in Mecklenburg-Vorpommern und ihrer Tolerierungspolitik in Sachsen-Anhalt lassen keine bedeutsamen Unterschiede zur Regierungspolitik von Rot-Grün im Bund und in den Ländern erkennen. (...) Auch für sie ist nicht in Sicht, mit den avisierten Koalitionspartnern einen tragfähigen Minimalkonsens über sozial-ökologische Reformpolitik zu finden. Sie ist damit eher Bestandteil des Problems der Erneuerung der Linken statt Teil seiner Lösung.

Unter dem Vorzeichen des Dritten Wegs und der "Modernisierung" ist die Strategie der Regierungsbeteiligung zur Durchsetzung sozial-ökologischer Reformpolitik in eine Sackgasse geraten. Der bei vielen grün-fundamentalistischen oder revolutionär-sozialistischen Linken verbreitete Umkehrschluß, Regierungsbeteiligungen aus prinzipiellen Gründen abzulehnen, führt allerdings auch nicht weiter. Allein durch konsequente Oppositionspolitik lassen sich zwar Modifizierungen der Regierungspolitik durchsetzen oder bestimmte Entwicklungslinien verzögern und verhindern. Dies hat der Widerstand der Anti-AKW-Bewegung in den 80er Jahren exemplarisch gezeigt. Sie ermöglicht allerdings nicht die Neugestaltung von Politik entlang einer alternativen Entwicklungslogik. Entscheidend für einen solchen Politikpfad ist das Zusammenspiel einer entschlossenen, reformorientierten Regierung auf Grundlage eines politischen Minimalkonsenses und von sozial-ökologischen Reformbewegungen in der Gesellschaft, die an der Umsetzung der Reformpolitik vor Ort teilnehmen und eine zögerliche Regierung durch eigene Aktionen unter Druck setzen können. Beide Bedingungen - ein sozial-ökologischer Minimalkonsens der Regierenden und aktive, selbstbewußte Bewegungen - sind derzeit bekanntlich nicht gegeben. Der Erneuerungsprozeß der Linken muß deshalb darauf abzielen, durch politische Umgruppierungen darauf hinzuwirken, diese Bedingungen herzustellen. Ein Ausblenden der Regierungsfrage wird ihr dabei nicht viel nützen. (...)

Vorrangige Aufgabe der Linken ist es deshalb zunächst, in der Gesellschaft Potentiale für sozial-ökologische Reformpolitik neu zu bündeln und die Verständigung auf ein gemeinsames strategisches Projekt zu fördern. Weil die politischen Fronten in der Auseinandersetzung um die Politik der Neuen Mitte quer zu den Parteigrenzen von SPD, Grünen und PDS verlaufen, ist die Gründung neuer (Kleinst)-Parteien für die nötige gemeinsame Verständigung genauso kontraproduktiv wie der Versuch, den linken Erneuerungsprozeß gleich mit der Frage der Parteiform zu überfrachten. Da ein großer Teil der noch aktiven emanzipatorischen Kräfte - Umweltverbände, Frauengruppen, Netze linker GewerkschafterInnen, MigrantInnenverbände, Jugendgruppen etc. - ohnehin parteilich kaum oder nicht gebunden sind, wird ein solches Vorgehen den notwendigen Diskurs über gemeinsame Inhalte, Strategien und Aktionsmöglichkeiten unmöglich machen.

Für eine Bündelung linker, ökologischer, solidarischer und feministischer Potentiale in der Gesellschaft sind Netzwerke wesentlich sinnvoller. Es ist bei dieser Organisationsform egal, ob einzelne Aktive ein grünes, sozialdemokratisches oder PDS-Parteibuch haben, solange gemeinsame Strategien, Konzepte und Aktionsmöglichkeiten entwickelt werden können, die alle zusammen voranbringen. Die Netzwerkform erleichtert es auch, den unterschiedlichen sozialen Milieus des potentiellen Reformlagers gerecht zu werden.

Die verschiedenen, häufig an Einzelthematiken orientierten Netzwerke in der Bundesrepublik stehen vor einer entscheidenden Frage: entweder sie beißen sich vereinzelt und mit ihren jeweiligen schwachen Kräften an der rot-grünen Konterreform die Zähne aus - oder sie versuchen, aus ihren jeweiligen Blickwinkeln Gemeinsamkeiten mit anderen Netzwerken und Initiativen zu finden, die Kräfte zu bündeln und einige wenige gemeinsame Strategien und Aktionen zu entwickeln. (...) Programmatisch-konzeptionelle Erneuerung, die Entwicklung von Strategien, die Ansprache heterogener sozialer Milieus, der Aufbau funktionstüchtiger Strukturen und gemeinsamer Aktionen sollten dabei in einem dialogischen Prozeß Hand in Hand gehen. Interessierte politische Kräfte in Parlamenten und Regierungen können die öffentliche Wirkung der Netzwerke verstärken, indem sie sich positiv auf deren Forderungen und Aktionen beziehen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten sowohl mediale als auch parlamentarische Unterstützungsarbeit leisten. Gelingt dieses Zusammenspiel, so würde es in Deutschland überhaupt wieder möglich, strategische politische Alternativen in eine massenwirksame Diskussion zu bringen. (...)

Das Potential zum Aufbau einer anti-neoliberalen politischen Strömung, die auf gemeinsamen Interessen von Frauen, MigrantInnen, "neuen ArbeitnehmerInnen", prekär Beschäftigten und neuen Selbständigen gründet, ist durchaus vorhanden. Die politische Kunst wird darin liegen, diese Interessen hinreichend miteinander zu verknüpfen und eine jeweils milieugerechte Form der politischen Ansprache zu finden. Dies ist die entscheidende Aufgabe im Erneuerungsprozeß der politischen Linken in Europa und in Deutschland.

Annelie Buntenbach/Klaus Dräger,

Ende September 1999