Algerischer Stabilitätspakt
Der "bonapartistische" Präsident Bouteflika als Krisenmanager
Der Chef der künftigen algerischen Regierung wird vermutlich Ali Benflis sein, einer der engsten Berater des im April dieses Jahres "gewählten" Präsidenten Abdelaziz Bouteflika. "Gewählt" in Anführungszeichen, da der von den Militärs auf die Bühne geschobene "candidat du consensus" ohne Gegenkandidat antrat, nachdem alle sechs Mitbewerber sich - gegen den sich andeutenden offenen Wahlbetrug durch die Staatsorgane protestierend - aus dem Rennen zurückgezogen hatten. (vgl. ak 426, 14.5.1999)
Nach dem Referendum vom 16. September 1999 wird Bouteflika durch diese Regierungsbildung, aller Voraussicht nach, zum zweiten Mal dem Gang der innenpolitischen Ereignisse seinen Stempel aufdrücken. Sie wird direkt unter seinen Fittichen vollzogen - obwohl ihm diese Aufgabe von der Verfassung her gar nicht zusteht, derzufolge er lediglich den Premierminister zu ernennen hat. Zum Stil des neuen starken Mannes in Algier gehört es, die Öffentlichkeit hinzuhalten. Dadurch soll seinen Handlungen, nachdem die Spannung gehörig angestiegen ist, um so größere Wirkung verschafft werden. So hatte Bouteflika sich nach seiner etwas mißglückten Wahl am 15. April und seiner Amtseinführung am 27. April wochenlang hinter die Mauer eines absoluten Schweigens zurückgezogen. Die Zeitungen ersuchten ihn immer dringlicher darum, doch endlich etwas über seine Absichten kundzutun: "Reden Sie endlich, Herr Bouteflika!" Und dann redete er - und hörte nicht mehr auf. In den drei folgenden Monaten gab Bouteflika den nationalen wie den internationalen (vor allem französischen) Medien eine größere Zahl von Interviews als seine Amtsvorgänger in den vorangegangenen 20 Jahren zusammengenommen.
Die langwierige Regierungsbildung könnte allerdings, das vermutet die Tageszeitung Le Matin, auch auf Uneinigkeiten zwischen Präsident Bouteflika und seinen ursprünglichen "Auftraggebern", den Militärs hindeuten. So wünsche Bouteflika um jeden Preis den Rücktritt des derzeit noch vorläufig amtierenden Premierministers Smail Hamdani. Doch die Armeeführung widersetzte sich der Absetzung Hamdanis und der Vergabe führender Regierungsposten an Bouteflikas "eigene" Vertrauensleute. Insgesamt sieht es bisher freilich eher danach aus, als ob die Militärs Bouteflika weitgehend freie Hand gewährten, wenn er etwa die Korruption in den Reihen der vorherrschenden militärisch-staatsbürokratischen Nomenklatura attackiert. Denn diese ist sich mittlerweile selbst darüber klar, daß die Begründung eines stabilen und die Bürgerkriegsphase beendenden Regimes voraussetzt, daß die Macht der mafiösen Interessen diverser Cliquen innerhalb der Nomenklatura eingedämmt wird.
Kompromiß mit den Islamisten
Hauptsächlich scheint Bouteflika von den (bisher das politische Leben im Lande im wesentlichen dominierenden) Militärs gerufen worden zu sein, um das Problem des Umgangs mit dem radikalen, und vor allem dem bewaffneten politischen Islamismus einer Lösung zuzuführen. Dessen Terroraktionen hatten dem Land mehrere Jahre lang Negativschlagzeilen eingebracht und zu seiner weitgehenden internationalen Isolierung geführt. Als der politische Islamismus - der Träger eines totalitären ideologischen Projekts - in der algerischen Systemkrise Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre zugleich den sozialen Protest erfolgreich monopolisierte und kanalisierte und 1990/91 zur Mehrheitspartei wurde, schienen die Militärs unfähig, dem Flächenbrand Herr zu werden.
Die Lage hat sich jedoch seit nunmehr zwei Jahren grundlegend gewandelt. 1997 hat der politisch-ideologisch "bewußte" Kern des bewaffneten Islamismus seine sich abzeichnende militärische Niederlage zu erkennen begonnen - während gleichzeitig die extremsten unter den "Bewaffneten Islamischen Gruppen" (GIA) die blutige Flucht nach vorne wählten und in Form kollektiver Massaker ganze Dorfbevölkerungen abstraften, die ihren Diktaten nicht Folge leisteten. Damit isolierten sich die bewaffneten Fundamentalisten immer mehr von der Bevölkerung. Der bewaffnete Arm der verbotenen Islamistenpartei FIS (Islamische Errettungsfront - die im Deutschen eingebürgerte Bezeichnung "Heilsfront" ist eine ungenaue Übersetzung aus dem Französischen), die "Islamische Errettungsarmee" AIS, schloß daraufhin im Spätsommer 1997 ein Waffenstillstandsabkommen mit dem algerischen Militär.
Der genaue Inhalt dieses Abkommens, und damit auch die den Fundamentalisten ohne Zweifel in Aussicht gestellten Gegenleistungen, wird bisher nach wie vor geheimgehalten. Fest steht: Diese zwischen bewaffneten Formationen - des Staates einerseits, des FIS andererseits - geschlossene Vereinbarung benötigte eine offizielle Deckung auf politischer Ebene. Zu diesem Zweck trat Bouteflika an, der als eine seiner ersten effektiven Amtshandlungen das Amnestiegesetz vom Parlament absegnen ließ. Es erlaubt den ,Gotteskriegern` - unter bestimmten, weit gefaßten Bedingungen -, der Strafe gänzlich oder teilweise zu entgehen, sofern sie die Waffen niederlegen.
Das Referendum vom 16. September wiederum diente lediglich der symbolischen Absegnung dieses Vorgehens - denn das Amnestiegesetz befindet sich seit dem 13. Juli 1999 in Anwendung. Kaum jemand in Algier zweifelt heute daran, daß die 98 Prozent Zustimmung anläßlich des Referendums "echt" waren; lediglich die hohe Wahlbeteiligung (offiziell in Höhe von 85 Prozent) wird hier und dort in leisen Zweifel gezogen.
Schließlich konnte jedes politische Lager seine eigenen Vorstellungen vermeintlich in Bouteflikas Reden und Handeln widergespiegelt sehen, da der präsidiale Diskurs hinreichend schillernd und "nach allen Seiten hin offen" blieb. So erklärte Bouteflika im August, der politische Islamismus habe in Algerien kein Existenzrecht. Anfang September präzisierte er bei einem Auftritt in Oran, eine islamistische Politik sei widersinnig, da Algerien ohnehin eine muslimische Identität habe, an der nicht zu rütteln sei; folglich sei das Land "weder für eine laizistische Politik noch für eine islamistische Politik" zu haben. Am Vortag des Referendums wiederum äußerte er vor versammelten islamischen Würdenträger und politischem Personal in der Salle El-Harscha im Zentrum von Algier, er habe immer "eine Sympathie für die islamistische Bewegung gehabt, aber es wurde eine rote Linie überschritten, so daß der Staat handeln mußte".
Der Kollaps des Staatssozialismus
Unter der Präsidentschaft Bouteflikas sollen durch eine Form bonapartistischer Macht die im zurückliegenden Jahrzehnt aufgeworfenen Gräben zugeschüttet werden. Aus allen großen politisch-ideologischen Lagern der Gesellschaft (Laizisten/Modernisten einerseits wie Islamisten andererseits) soll Unterstützung für das Regime gewonnen werden. Darin widerspiegelt sich auch das Bestreben der herrschenden Klassen, ein neues ökonomisches Modell zu realisieren.
Nach dem Ende des dem "real existierenden Sozialismus" ähnelnden Systems der antikolonial-nationalistischen Einheitspartei FLN, das nach den Jugendunruhen des Oktober 1988 zerbrach, setzte in Algerien ein Zerfallsprozeß der ehemals staatlich gelenkten Ökonomie ein. Unter deren Deckmantel hatten sich im Laufe der 80er Jahre in zunehmendem Maße Interessenpole herausgebildet, die der Selbstbereicherung diverser Clans und Seilschaften innerhalb der militärisch-staatsbürokratischen Nomenklatura dienten (und insbesondere der dominierenden Armee, die nach dem Ende des Befreiungskriegs gegen Frankreich faktisch an der Macht geblieben war). Das staatliche Außenhandelsmonopol umgehend, betrieben diese den Import westlicher Waren, die auf den florierenden Schwarzmärkten und über informelle (Bekanntschafts-, Verwandtschafts-)Strukturen weiterverkauft wurden. Finanziert wurde das ganze durch die Ölrente, die theoretisch vom Staat abgeschöpft wurde, von der aber ein stattlicher Teil in Kanäle der Nomenklatura floß, die ausschließlich der privaten Bereicherung dienten.
Zugleich wurde im öffentlichen Wirtschaftssektor, etwa in den staatlichen Vertriebszentren "Souk-el-Fellah" (wörtlich "Bauernmärkte"), die Knappheit der Waren organisiert, oftmals durch das Horten der Güter oder ihren Aufkauf in großem Maßstab durch Angehörige der Nomenklatura. Das Ende des FLN-Einparteienstaates nach 1989 war Ausdruck des wirtschaftlichen Zusammenbruchs: Der Kollaps des antiimperialistischen Entwicklungsmodells Algeriens ist sowohl auf dessen innere strukturelle Deformierungen als auch auf weltwirtschaftliche Faktoren zurückzuführen (den Ölpreisverfall 1986 wie auch den Wegfall des sowjetischen Machtbereichs, der Algerien nicht-kapitalistischer Handelspartner beraubte und damit brutal dem Weltmarkt und seinem Konkurrenzdruck aussetzte).
Parallel zur inneren Krise des Landes begannen die privaten Interessenpole sich in noch größerem Ausmaß zu verselbständigen. Das in den 80er Jahren in der Schattenökonomie akkumulierte Kapital wurde nunmehr massiv investiert, und zwar zumeist in den massenhaften Import auf dem Weltmarkt eingekaufter, westlicher Waren. Dadurch wurde der nationalen Produktion an Gebrauchsgütern (die gegenüber den westlichen Industrien nicht konkurrenzfähig war) schwerer Schaden zugefügt. Zugleich suchten die Neureichen, von der Privatisierung bisher staatlicher Unternehmen zu profitieren und sich die Filetstücke anzueignen. Das wurde begleitet von der Zerstörung der nicht-rentablen Betriebe; 700.000 bis 900.000 Arbeitsplätze gingen dabei seit 1994 verloren.
Ein bedeutender Teil nicht-rentabler öffentlicher Betriebe verbleibt noch in öffentlicher Hand. Und zugleich bestehen immer noch für ein "Dritte-Welt"-Land geradezu unerhörte soziale Errungenschaften wie eine beinahe kostenlose medizinische Grundversorgung. Gleichzeitig finden beachtliche soziale Abwehrkämpfe statt.
Das Gesamtwohl der herrschenden Klasse
Teile der herrschenden Kaste haben heute erkannt, daß das bisher praktizierte, destruktive Bereicherungsmodell auf kürzere Frist dem Überleben einer (sich um- und neuformierenden) herrschenden Klasse in ihrer Gesamtheit abträglich ist. Daher wird heute ein starkes, fest im Sattel sitzendes Regime benötigt, das notfalls dafür sorgen kann, daß die vom derzeitigen Modus profitierenden Privatinteressen (auch hochrangiger Mitglieder der nomenklaturistischen Mafia) gegenüber dem Gesamtwohl der herrschenden Klasse hintangestellt werden. Das Hauptziel Bouteflikas und seiner Stützen besteht heute darin, die Eigentümer des in räuberischer Weise akkumulierten Kapitals dazu zu motivieren oder zu drängen, in den Aufbau einer warenproduzierenden Ökonomie zu investieren. Dasselbe gilt für die (offiziösen Schätzungen zufolge) mehreren Dutzend Milliarden Dollar im europäischen Ausland investierter "Raub"gewinne. Schließlich gilt es, auch ausländische und insbesondere westliche Investoren zu gewinnen. Ob der Übergang zu einem anderen ökonomischen Modell gelingt, hängt im wesentlichen von zwei Bedingungen ab.
Zum einen muß eine, zumindest relative, innenpolitische Stabilität einkehren und der Terror beendet werden. Auch wenn die Gewalt der bewaffneten Islamistengruppen heute großenteils auf abgelegene ländliche Zonen beschränkt ist, die diesen Gruppen als Rückzugsräume dienen, so sorgt sie doch stets aufs Neue für internationale Negativschlagzeilen und bildet dadurch ein Investitionshemmnis. Auch hat der "heilige Krieg" der fundamentalistischen Banden - unbewußt, oder jedenfalls jenseits ihrer primär verfolgten ideologischen Zielsetzungen - sein Teil zum kriegskapitalistischen Privatisierungsprozeß beigetragen.
Denn in ihrem Kampf gegen das "gottlose Regime" zerstörten und sabotierten sie in großem Ausmaß staatliches und öffentliches Eigentum, gleichgültig ob Schulen (tausende Schulgebäude wurden während der Konfliktjahre zerstört oder unbrauchbar gemacht), staatliche Transportmittel oder öffentliche Betriebe. Zugleich gingen sie nicht - jedenfalls nicht systematisch - gegen privates Eigentum vor, zumal sie das Privateigentum grundsätzlich akzeptierten, solange es nur nicht "ungläubigen" Zwecken wie dem als Taqout (ungefähr: Moloch) bezeichneten weltlichen Staat diente und solange es nicht in der Hand "unmoralischer" Eigentümer war.
Die Vernichtungsaktionen gegen öffentliches Eigentum kamen somit oftmals privaten Anbietern zugute, jedenfalls sofern diese die Entrichtung einer Art "Revolutionssteuer" an die selbsternannten Gotteskrieger akzeptierten. So schossen ab 1994 die privaten Transportgesellschaften in den Städten wie Pilze aus dem Boden, nachdem die öffentlichen Busse in großer Zahl durch die "Glaubenskämpfer" abgefackelt worden waren; alsbald folgte die offizielle Freigabe der Fahrpreise.
Wenn das Land eine relative Stabilität finden soll, dann muß das Regime in die Lage versetzt werden, die hinter solchen Erscheinungen stehenden Privatinteressen innerhalb der herrschenden Klassen zurückzudrängen und ein minimal wirksames, zentralstaatliches Gewaltmonopol durchzusetzen. Denen, die sich bisher "urwüchsig" bereichert haben, würde es im Gegenzug ermöglicht, ihr Kapital nunmehr offiziell und auf "normalem" Wege zu investieren.
Der Kampf um soziale Rechte
Zum zweiten müssen, soll Algerien für potentielle - inländische und exil-algerische wie auch internationale - Investoren attraktiv gemacht werden, die bisher im Land noch vorhandenen sozialen Errungenschaften in stärkerem Masse abgebaut werden. Denn Algerien müßte dabei mit den Nachbarländern Marokko und Tunesien konkurrieren, die - im Vergleich zu dem ex-sozialistischen Land - als Investorenparadiese gelten können und deren Ökonomien weitgehend westlichen Interessen unterworfen sind. Nach wie vor gibt es in Algerien eine Reihe sozialer Rechte und Errungenschaften, an die in Marokko und Tunesien nicht zu denken ist. Die dunkle Kehrseite der Medaille ist dabei freilich, daß die Arbeitslosenquote derzeit offiziell 29 Prozent beträgt, wenn auch ein Teil der Betroffenen im informellen Wirtschaftssektor tätig ist. Ohne sozialen Schutz leben insbesondere viele Jugendliche, die keinen Platz im System finden - die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 30 Jahre.
Um soziale Rechte weiter abbauen zu können, wird wiederum ein fest im Sattel sitzendes und gegen potentielle gesellschaftliche Widerstände gefeites Regime benötigt. Bisher scheint der "bonapartistische" Präsident Bouteflika das dafür nötige Format zu haben - und damit sogar bei "den Massen" auf Zuspruch zu stoßen. So äußerte er anläßlich seines Auftritts am 15. September in der Salle El-Harscha, an die im Saal sitzenden Vertreter des offiziellen (an der Spitze absolut staatsfrommen) Gewerkschaft-Dachverbands UGTA gewandt, diese sollten "nun bloß nicht am Tag nach dem Referendum über den Frieden zu mir kommen und Wohnungen und Arbeitsplätze verlangen". Denn, so Bouteflika, "ich habe keine Wohnungen anzubieten". Und die Menge applaudiert dem Präsidenten bei solchen Worten!
Das ist in der derzeitigen Situation Ausdruck einer aktuellen politischen Resignation. Am Ende der blutigen Bürgerkriegswirren herrscht bei vielen der Reflex des "Hauptsache überleben" vor - gemischt mit der Freude darüber, daß endlich ein Präsident der Bevölkerung in die Augen sieht und "unverblümt die Wahrheit sagt". Nach Jahren, in denen schwächliche Regimes sich hinter einem offenkundig verlogenen Diskurs ("Es gibt keine ernsthaften Terrorismusprobleme mehr, nahezu alles ist unter Kontrolle ...") verschanzten, gilt eine solche offensive Kaltschnäuzigkeit bereits als wohltuend.
Bernhard Schmid (12.10.1999)