Die Democrazia Cristiana lebt
Nach Andreottis Freispruch hofft Italiens Christdemokratie auf ein Comeback
Wieder ist "der Fuchs" entwischt. Vier Wochen nach seinem Prozess in Perugia (wegen Anstiftung zum Mord) kam Giulio Andreotti, der mächtigste Mann der italienischen Nachkriegspolitik, auch in Palermo ungeschoren davon. Unterstützung der Mafia hatte der Staatsanwalt dem siebenmaligen Ministerpräsidenten vorgeworfen und 15 Jahre Haft gefordert. Die beiden Freisprüche lassen die Protagonisten der diskreditierten "Ersten Republik" auf ein politisches Comeback hoffen.
Der Freispruch von Perugia war vorauszusehen - die Anklage beruhte allein auf den Aussagen "reumütiger" Kronzeugen (pentiti). Der Mafioso Tommaso Buscetta hatte Andreotti im April 1993 beschuldigt, den Mord an dem Journalisten Mino Pecorelli in Auftrag gegeben zu haben. Pecorelli hatte Anfang 1979 dem amtierenden Ministerpräsidenten Andreotti Unannehmlichkeiten bereitet. In einer Titelgeschichte seines Skandalblättchens Osservatorio Politico (OP) sollte dessen Rolle im sog. Italcasse-Skandal enthüllt werden. Dabei ging es um viel Geld für die Wahlkämpfe der DC.
Belastende Hinweise stammten aus bis dahin geheim gehaltenen Teilen des "Memoriale", das Aldo Moro 1978 als Geisel der Roten Brigaden angefertigt hatte. Nach Interventionen von christdemokratischen Politikern verzichtete Pecorelli auf eine Veröffentlichung. Die fertige OP-Ausgabe mit Andreottis Porträt und dem Titel "Die Schecks des Präsidenten" wurde eingestampft, nachdem die mit Pecorelli geschäftlich verbundene Druckerei eine höhere Summe erhalten hatte. Einen Tag nach der Geldübergabe, am 20. März 1979, wurde Pecorelli ermordet; am selben Tag wurde Andreotti zum fünften Male Ministerpräsident.
Es ist möglich, dass Andreotti mit diesem Mord nichts zu tun hat - dass die Killer vielmehr "auf Kredit" mordeten, ihre mafiosen Auftraggeber auf spätere Entschädigung hofften. Denn Andreotti war erwiesenermaßen ihr Partner (wenn er auch behauptet, er habe von ihren kriminellen Aktivitäten nichts gewusst). Die Democrazia Cristiana (DC) war auf Sizilien, wo Andreotti seine Hausmacht hatte, die Partei der Mafia. Sie garantierte weitgehend ungehinderte kriminelle Geschäfte und wurde mit Wählerstimmen belohnt, die von den Familien der Cosa Nostra in erheblichem Umfang kontrolliert werden (seit 1994 sind die Clans zu Berlusconis Forza Italia umgeschwenkt).
Mafiosi küsst man nicht
Ernste Verstimmungen zwischen der Mafia und ihren politischen Partnern gab es spätestens seit 1987. Der Mafiaprozess von Palermo (maxi processo) lief schlecht für die 460 Angeklagten, die über die offensichtliche Untätigkeit ihrer Gewährsleute aus der Politik besorgt waren. Es war Zeit für eine "Klärung auf höchster Ebene", schreibt der Mafia-Experte Pino Arlacchi.
Nach Aussage des Kronzeugen Baldassare Di Maggio fand das klärende Gespräch am 20. September 1987 im Haus des Christdemokraten und Mafioso Ignazio Salvo statt. Dort habe Totò Riina, der "Boss der Bosse", Andreotti daran erinnert, dass sein Pakt mit der Mafia weiterhin gültig und unkündbar sei. Er tat das "entsprechend den Regeln der typischen mafiosen Gestik", schreibt Arlacchi: "Er gestattet (dem rangniederen Mafioso) Baldassare Di Maggio, das Zimmer zu betreten, in dem Andreotti wartet, und in Gegenwart des uomo d'onore (Mafioso; wörtlich: ,Mann von Ehre`) küsst er den Abgeordneten auf die Wangen. Dann verabschiedet er Di Maggio, weil der Zweck erreicht ist. Die Darbietung ist in der Tat ebenso an Andreotti wie an Di Maggio gerichtet." (1)
Dieses angebliche Treffen, das Andreotti natürlich leugnete, war auch Gegenstand des Prozesses von Palermo. Das Gericht erklärte Di Maggios Aussagen für unglaubwürdig - ein bemerkenswerter Vorgang: Immerhin führte seine Denunziation 1993 zur Verhaftung Totò Riinas. Auch die Aussagen der übrigen 37 Zeugen der Anklage befand das Gericht als nicht ausreichend für eine Verurteilung. Ein Durchschnittsbürger wäre bei einer so stattlichen Anzahl von Belastungszeugen mit Sicherheit verurteilt worden. Andreotti wurde freigesprochen (wenn auch mangels Beweisen) - ein Fall von Klassenjustiz auch dann, wenn er "im Sinne der Anklage" tatsächlich unschuldig sein sollte.
Damit wären die über den Fall hinausweisenden Implikationen dieses ohne Zweifel politischen Prozesses benannt - wenn nicht mit dem Urteil, wie schon mit dem von Perugia, ganz offen reaktionäre Politik betrieben würde. Die korruptesten Figuren der alten partitocrazia empfanden Andreottis Freisprüche als persönliche Rehabilitierung und sprachen das auch offen aus.
Die Volkspartei (PPI), größte Nachfolgerin der nach dem "Korruptionsschock" von 1992 auseinandergebrochenen Democrazia Cristiana, nutzte schon Andreottis ersten Freispruch für eine politische Kampagne: "Andreotti freigesprochen. Geduld ist die Tugend der Starken" war auf großflächig verklebten PPI-Plakaten zu lesen. Dass neben Andreotti in Perugia auch zwei Mafiosi und zwei berufsmäßige Killer freigesprochen wurden, übergingen die christlichen Jubler. Nun müsse die Geschichte neu geschrieben werden, forderte der ehemalige DC-Sekretär Arnaldo Forlani - denn mit Andreotti hätten auch die übrigen Protagonisten der zu Unrecht diskreditierten "Ersten Republik" auf der Anklagebank gesessen. Auch sie müssten rehabilitiert, ihr politisches Werk zum Wohle des Vaterlandes gewürdigt werden.
Die erste Ratte verlässt das sinkende Schiff
Dass mit der "Verfolgung" von Politikern durch die (gar nicht existierende) "Partei der Staatsanwälte" endlich Schluss sein müsse, forderten einmal mehr auch Silvio Berlusconi und seine Getreuen. Die Tageszeitung Il Giornale, die Berlusconi vor Jahren seinem Bruder Paolo überschrieben hat, erschien mit der Schlagzeile FINE - Ende. Der unvermeidliche Francesco Cossiga, der ehemalige christdemokratische Staatspräsident "mit dem Eispickel" (vgl. ak 420, 19.11.1998), inszenierte sogleich eine kleine Regierungskrise. Hatte er vor gerade mal einem Jahr, nach dem Rücktritt Romano Prodis, der amtierenden Regierung D'Alema zur Mehrheit verholfen, so forderte er jetzt mehr Gewicht für die "Mitte", die er natürlich von ehemaligen Christdemokraten repräsentiert sieht. Als bekennender Antikommunist geißelte er den "Antisozialismus" der Linksdemokraten (und Ex-Kommunisten) D'Alema und Veltroni: Christdemokraten und Sozialisten hätten "die NATO und Europa aufgebaut", die Erben des PCI hingegen negierten nicht nur ihre eigene, sondern auch die Geschichte ihrer verfeindeten Brüder, der Sozialisten.
Hinter dem von Cossiga zur Schau gestellten "Geschichtsbewusstsein" verbirgt sich ein brandaktuelles politisches Ziel: Um die "Mitte" zu stärken, müssen die Macher der "Ersten Republik" rehabilitiert werden - nach Andreotti auch dessen Partner Craxi (PSI) und Forlani (DC). In dem informellen Triumvirat "CAF" (so genannt nach den Initialen seiner Mitglieder) hatten sie seit Ende der 80er Jahre die politische Macht zum Wohle ihrer Parteien verwaltet. Ihre Karriere endete 1992, als der Korruptionsskandal von Tangentopoli DC und PSI in Stücke riss.
Craxi, der die Zeichen der Zeit sofort erkannte, meldete sich umgehend zu Wort. Nun sei das Urteil gesprochen, auf das "wir alle" gehofft hätten, faxte er aus dem tunesischen Exil, in das er sich 1994 nach einer Verurteilung wegen illegaler Parteienfinanzierung geflüchtet hatte. Im Unterschied zu dem mittlerweile 80-jährigen Andreotti wäre Craxi mit seinen 65 Jahren für ein politisches Comeback noch nicht zu alt. Nicht nur er, auch der Führer des Rechtsblocks, Silvio Berlusconi, arbeitet daran.
Als weiterer Partner könnte Cossiga fungieren, der gerade mal wieder ein neues Bündnis geschlossen hat: das "Kleeblatt" (trifoglio) mit dem Sozialisten Boselli und dem Republikaner La Malfa. Die Gruppierung verfügt zwar nur über wenige Mandate, fühlt sich aber stark genug, um Bedingungen zu stellen. Die regierende Mehrheit brauche "ein zweites erkennbares Gesicht" neben der postkommunistischen Linken, fordert Cossiga und droht ein Arrangement mit Berlusconi an, der sich angeblich auf die Mitte zubewege. In Wahrheit ist Berlusconis Bündnis mit Finis neofaschistischer Alleanza Nazionale stabil. Die taktischen Manöver Cossigas und seiner Partner laufen letzten Endes darauf hinaus, sich dem rechten Lager anzuschließen. Das hatte bekanntlich auch 1996, als das von Prodi angeführte Mitte-Links-Bündnis Ulivo siegte, die Mehrheit der Stimmen erreicht.
Die Saubermänner strahlen nicht mehr
Die Gegenwehr der Regierungsmehrheit fällt eher schwach aus, auch wegen interner Streitigkeiten. Dass man mit dem amtierenden Premier D'Alema die nächsten Wahlen nicht gewinnen kann, scheint ausgemacht. Dessen "Drohung" mit vorgezogenen Neuwahlen ist angesichts der Umfrage-Ergebnisse nicht ernst zu nehmen. Wahrscheinlicher wäre eine Übergangsregierung von Technokraten, wie sie u.a. von Cossiga mal wieder ins Spiel gebracht wird. Daran anschließend könnte dann 2001 die Revanche der Rechten gelingen.
Die 1996 mit Jubel und Getöse gestartete "erste Linksregierung" ist an diesen Entwicklungen nicht schuldlos. Unter Prodi hatte die Sanierung der Staatsfinanzen oberste Priorität. Der gegenwärtig diskutierte Haushalt für das nächste Jahr kommt zwar mit vergleichsweise geringen Einsparungen aus. Er sieht aber z.B. einen Einstellungsstopp im öffentlichen Dienst für das erste Halbjahr 2000 vor; die erhoffte "Wende auf dem Arbeitsmarkt" ist so natürlich nicht zu erreichen.
Auch der entscheidende Bonus der Mitte-Links-Regierung ist inzwischen aufgebraucht: ihre moralische Integrität, die sie von den korrupten Gestalten der "Ersten Republik" positiv abhob. Die Hoffnung auf die neuen Saubermänner ist weitgehend verflogen, dubiose Machenschaften von Amtsträgern werden wieder akzeptiert, wenn sie denn "im Rahmen" bleiben. Das wird auch in Umfragen zum zweiten Prozess gegen Andreotti deutlich: 20,5 Prozent der Befragten meinten, Andreotti habe sich der Mafia bedient, um politische Ziele durchzusetzen; 31,1 Prozent fanden, er habe nur gelegentlich von der Unterstützung der Mafia profitiert; nur 23,9 Prozent vertraten die Ansicht, er habe weder Kontakt zur Mafia gehabt noch deren Hilfe in Anspruch genommen. Gleichzeitig waren nur 33,9 Prozent der Befragten mit dem Freispruch von Palermo unzufrieden, 37,9 Prozent hielten ihn für gerecht.
Die rechten Kritiker der "rachsüchtigen linken Justiz" verfolgen zwar unverkennbar eigennützige Ziele; gleichwohl dürften sie mit ihrer Forderung, einen Schlussstrich zu ziehen, mittlerweile mehrheitsfähig geworden sein. Dieser Meinungsumschwung erklärt sich auch aus der Enttäuschung über haltlose Versprechungen nach dem Ende der partitocrazia: Der "moralische Neuanfang" in einer von allen Schurken gesäuberten "Zweiten Republik" würde allen anderen ein besseres Leben bringen.
Js.
Anmerkung:
1) Pino Arlacchi: Il processo. Giulio Andreotti sotto accusa a Palermo; Mailand (Rizzoli) 1995; S. 149