Im Zweifel gegen die Flüchtlinge
Die "Altfall-Regelung" ist weniger als ein fauler Kompromiss
Der Versuch, eine humanitäre Lösung für lange in Deutschland lebende Flüchtlinge ohne Aufenthaltsstatus zu finden, ist gescheitert. "Wir wollen gemeinsam mit den Ländern eine einmalige Altfallregelung erreichen", so hieß es im Koalitionsvertrag zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Nachdem nicht nur die unionsregierten Bundesländer monatelang eine solche Regelung blockiert hatten, beschlossen die Innenminister des Bundes und der Länder am 19. November in Görlitz eine Regelung, die alle Erwartungen enttäuschte.
Dabei war selbst die Ankündigung im Koalitionsvertrag schon dürftig, war hier doch die Rede von einer "einmaligen" Regelung. Aber angesichts der restriktiven Flüchtlingspolitik wären "viele schon dankbar für jede Regelung, die mehr als gar nichts ist", wie es der Frankfurter Anwalt Reinhard Marx ausdrückt. (SZ, 19.11.99) Katholische und evangelische Bischöfe, die Wohlfahrtsverbände, amnesty international, Pro Asyl und viele andere, die in Deutschland mit Ausländer- und Flüchtlingsarbeit zu tun haben, versuchten vergeblich auf die Innenminister in Bund und Ländern Einfluss zu nehmen.
Um was geht es bei der sogenannten Altfall-Regelung? "Altfälle" sind im Behördendeutsch Menschen, die nach Deutschland geflohen sind, hier allerdings kein Asyl bekamen, aber geduldet werden. Laut Genfer Flüchtlingskonvention muss diesen Menschen jedoch Schutz gewährt werden, da in ihrer Heimat entweder Krieg herrscht oder ihnen nicht-staatliche Verfolgung droht. Eine Lebensperspektive in Deutschland können sie sich allerdings nur sehr bedingt aufbauen - geduldet zu sein bedeutet nur Aussetzung der Abschiebung und einen prekären "Aufenthaltsstatus". In der Regel werden Duldungen auf maximal ein halbes Jahr ausgesprochen und bei Fortbestehen des Duldungsgrundes verlängert.
Der Grundgedanke der "Altfall-Regelung" sollte sein, diesen geduldeten Flüchtlingen, die sich während ihres jahrelangen Aufenthalts eine bescheidene Existenz aufgebaut haben, eine Perspektive zu geben und sie vor Verhaftung und Abschiebung zu bewahren. Voraussetzung dafür ist, dass man ihnen endlich einen gesicherten Aufenthaltsstatus verleiht. Pro Asyl forderte deshalb von Anfang an, dass eine Regelung "klar und großzügig" sein muss, "damit die ihren humanitären Zweck erfüllen kann".
Das Geplänkel im Vorfeld zeigte aber schon, dass mit einer klaren und großzügigen Regelung nicht zu rechnen war. Der rheinland-pfälzische Innenminister Walter Zuber (SPD) hatte Ende 1998 ein Modell vorgeschlagen, wonach Flüchtlinge mit Familie, die vor dem 1. Juli 1993 nach Deutschland gekommen sind, eine Aufenthaltsbefugnis bekommen sollten - unter der Voraussetzung, dass sie nicht straffällig geworden sind und ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten. Für allein Stehende war als Stichtag der 1.1.1990 vorgesehen. Offensichtlich wurde, dass die Innenminister einiger sozialdemokratisch regierter Bundesländer eine nur hinsichtlich der Stichtage veränderte Neuauflage der letzten "Altfall-Regelung" anstrebten. Tatsächlich deckten sich die Empfehlungen für die "Altfall-Regelung" 1999 mit der, die die Kohl-Regierung 1996 erlassen hatte. Auch damals war ein humanitäres Bleiberecht an einen Einreise-Stichtag gekoppelt. Flüchtlinge, die bereits länger als sechs bzw. neun Jahre in Deutschland gelebt hatten, waren von jener Regelung begünstigt. Genau wie heute mussten die Flüchtlinge eine feste Arbeit und ausreichenden Wohnraum nachweisen.
Bayern und Baden-Württemberg lehnten diese Stichtagslösung bei den aktuellen Verhandlungen vollkommen ab. Der baden-württembergische Innenminister Thomas Schäuble (CDU) bezeichnete eine Stichtagsregelung als "Steilvorlage für Flüchtlinge und illegale Migranten, um ihre Verfahren hinauszuzögern". (Berliner Zeitung, 18.11.99) Die beiden unionsregierten Ländern brachten dagegen eine Gruppenlösung ins Spiel; davon hätten lediglich Flüchtlinge aus acht Staaten (darunter Afghanistan, Kongo, Iran, Pakistan und Syrien) profitiert.
Doch auch innerhalb der SPD-geführten Bundesländer gab es Widerstand gegen eine Stichtagsregelung, und Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) ließ erkennen, dass er eine Gruppenlösung bevorzugen würde: "Niemand darf hier bleiben, weil es ihm gelungen ist, die Verfahren zu verzögern", so Schily. Es gebe aber Regionen, "in die die Menschen nicht zurückkehren können." (Berliner Zeitung, 1.11.99) Kein Wunder, dass der bayrische Innenminister Günther Beckstein mittlerweile "große gemeinsame Grundlagen auch bei der Ausländerfrage" mit der SPD sieht. (taz, 20.11.99)
Die Innenminister von Bund und Ländern einigten sich schließlich in Görlitz auf einen Kuhhandel. Kompromiss kann man diesen Tauschhandel auf dem Rücken der Flüchtlinge nicht nennen: Bleiberecht für einige Tausend abgelehnte Asylbewerber gegen die Abschiebung von 180.000 Flüchtlingen aus dem Kosovo. Im Beschluss der Innenministerkonferenz vom 19.11.99 heißt es hierzu: "Die Kosovoflüchtlinge müssen zügig zurückgeführt werden ... Die Rückführung muss im nächsten Jahr im Wesentlichen abgeschlossen sein." Damit setzte sich die Union in diesem Punkt durch, die unmissverständlich die Abschiebung der Kosovoflüchtlinge gefordert hatte; Bayern und Baden-Württemberg legten hierfür einen Stufenplan vor.
Die Zahl der Begünstigten geht gegen Null
Die beschlossene "Altfall-Regelung", die auf dem Modell des rheinland-pfälzischen Innenministers Walter Zuber beruht, enthält "mehr Ausschlussklauseln als Substanz" - so kritisierte Pro Asyl das Ergebnis von Görlitz. Die Hürden, die für die Flüchtlinge aufgebaut wurden, sind sehr hoch. Von 20.000 Begünstigten sprechen die Innenminister, Pro Asyl rechnet mit weniger als 5.000 Menschen, die ein Bleiberecht erhalten werden. Bei der "Altfall-Regelung" 1996 hatten die Innenminister ebenfalls von 20.000 Begünstigten gesprochen, tatsächlich hatten aber nur etwa 7.800 von der Regelung profitieren können (z.B. in Hamburg 72, in Mecklenburg-Vorpommern 9).
Denn wie die Flüchtlinge nachweisen sollen, dass sie ohne staatliche Hilfe das nötige Geld verdienen können, bleibt das Geheimnis der Innenminister. In manchen Bundesländern dürfen geduldete Flüchtlinge überhaupt nicht arbeiten, in anderen können sie zwar einen Job bekommen - aber nur, wenn weder ein Deutscher noch ein EU-Bürger diesen haben will. Aber auch wenn Flüchtlinge einen Job haben, sind sie oft - vor allem, wenn eine Familie zu ernähren ist - auf ergänzende Sozialhilfe angewiesen. Ausreichenden Wohnraum nachzuweisen, dürfte für viele Flüchtlinge nicht möglich sein. Ist es doch selbst für Einwandererfamilien mit gesichertem Aufenthaltsstatus schwer, geeigneten Wohnraum zu finden, weil Ausländer eben immer noch oft die unerwünschten Mieter sind.
Generell fallen solche Flüchtlinge aus der Regelung heraus, die nach Ansicht der Behörden "die Aufenthaltsbeendigung ... vorsätzlich hinausgezögert" haben - durch "selbst verursachte Passlosigkeit, Aufgabe der Staatsangehörigkeit, verzögerte sukzessive Asylanträge, wiederholte Folgeanträge, zwischenzeitliches Untertauchen". Damit sind alle Menschen ohne Papiere, aber auch Flüchtlinge im Kirchenasyl definitiv ausgeschlossen. Aber auch Flüchtlinge, die die Rechtsmittel ausschöpfen, um als Flüchtling anerkannt zu werden, sollen kein Bleiberecht erhalten. Die Ausländerbehörden entscheiden, was vorsätzliches hinauszögern der Aufenthaltsbeendigung konkret bedeutet. Damit ist der Willkür Tür und Tor geöffnet. Die Innenministerkonferenz bestätigt erneut, dass ihrer Ansicht nach die Prinzipien des Rechtsstaates für Flüchtlinge nicht gelten.
Die Zahl der Flüchtlinge, die von der "Altfall-Regelung" begünstigt sind, wird durch einen perfiden Trick noch kleiner gehalten. Die Innenminister einigten sich darauf, dass die Bedingungen für das Bleiberecht bereits am 19. November 1999, dem Tag des Beschlusses, erfüllt sein mussten. "Wer so etwas beschließt", so Pro-Asyl-Sprecher Heiko Kauffmann, "der will den Betroffenen gar keine Chance geben, sich zunächst mit einer Aufenthaltsbefugnis auf Arbeits- und Wohnungssuche zu begeben. Das ganze Geheimnis, warum der jetzt verabschiedete Text für alle Innenminister als Kompromiss akzeptabel war, liegt darin, dass er jedem Bundesland weitgehende Interpretationsspielräume eröffnet, um die Zahl der Begünstigten gegen Null zu treiben."
Bayern hat schon einmal gezeigt, wie man das macht. Die vom bayerischen Innenministerium vorgelegten Anwendungsrichtlinien grenzen den Personenkreis restriktiv ein. So wird die Regelung dort nur auf Familien angewendet, die zusammen vor dem 1.7.1993 eingereist sind und seitdem in einem Haushalt leben. In puncto Straflosigkeit führt das bayerische Innenministerium einfach die Sippenhaftung ein. Die Straffälligkeit auch nur eines Familienmitglieds verhindert die Anwendbarkeit der "Altfall-Regelung" für die gesamte Familie, wobei nach bayrischem Verständnis dafür mehrere addierte Geldstrafen ausreichen. Wo Interpretationsspielräume vorhanden sind, könnten sie - jedenfalls theoretisch - auch im Sinne der Flüchtlinge ausgelegt werden. Dass daran generell kein Interesse besteht, zeigt das rot-grün-regierte NRW. Dort verzichtete man auf eigene Ausführungsbestimmungen und machte den Beschluss der Innenministerkonferenz zur Grundlage des behördlichen Handelns.
Flüchtlingspolitik unter Rot-Grün, dass zeigen die Beschlüsse der Innenministerkonferenz in Görlitz, unterscheidet sich nicht von der Flüchtlingspolitik der Kohl-Regierung. Die Sozialdemokraten unter der Führung von Otto Schily sind entschlossen, die Arbeit des ehemaligen Innenministers Manfred Kanther fortzusetzen. Die Grünen, die wissen, dass sie in dieser Frage nichts ausrichten können, tauchen ab. Der Tauschhandel Bleiberecht für einige geduldete Flüchtlinge gegen die Massenabschiebung von Kosovo-Albanern bestätigt erneut die Existenz der großen Anti-Flüchtlings-Koalition in der Bundesrepublik.
Deren nächstes Ziel ist die vollständige Beseitigung des einklagbaren Asylanspruchs im Namen der "Harmonisierung des Asylrechts in der EU", wie sie auch in Görlitz angemahnt wurde. Und schon werden auch im grünen Lager die ersten Stimmen hörbar, die das bundesdeutsche Asylrecht in Frage stellen. Es wird immer deutscher in Kaltland.
mb., Berlin