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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 433 / 16.12.1999

Teamsters and Turtles

"Unamerikanische Umtriebe" in Seattle

Eine Reportage von unserem Autor Max Böhnel, der sich während der Aktionstage gegen das WTO-Treffen in Seattle (30. November bis 3. Dezember) vor Ort befand

So etwas hatte es in den USA noch nie gegeben und für Seattle war es tatsächlich der Protest des Jahrhunderts . Eine Woche lang verwandelten Umweltschützer, Straßentheater-Gruppen, Bauernverbände, Dritte-Welt-Solidaritäts- und Nichtregierungsorganisationen die Stadt an der US-amerikanischen Pazifikküste in ein Protest-Spektakel, das in der ganzen Welt für Aufsehen sorgte. Als zahlenstärkster Verband und mit spektakulärer Präsenz ganz vorne dabei: die längst abgeschriebenen US-Gewerkschaften. Am Ende des Ausnahmezustandes, den die Behörden in Seattle verhängten, vertagte sich die WTO ohne greifbares Ergebnis.

Schon Dienstag morgen um sieben haben sich Hunderte nach Downtown Seattle zum Kongresszentrum begeben, wo ein paar Stunden später das WTO-Ministertreffen eröffnet werden soll. Das Direct Action Network (DAN), ein Zusammenschluss radikaler Umweltschützer, hatte schon Wochen zuvor aufgerufen, Seattle gewaltfrei dichtzumachen, um das Treffen zu verhindern. "Shut down the WTO", lautet das Motto. Die Artikel in der Kampagnenzeitung des Netzwerkes richten sich gegen die Ausbeutung der Dritten Welt, das Wohlstandsgefälle in den westlichen Industriestaaten, die mangelnde Umweltverträglichkeit des Welthandelssystems und die Vermarktung von Genen.

Der Nieselregen hat die Straßen blank gewaschen, ein feiner Nebel durchzieht kalt die Stadt. Verschlafene Menschen haben sich in Regenjacken gehüllt und stehen schon vor Sonnenaufgang auf den Kreuzungen rund um das Kongresszentrum. Das Areal ist für die nächsten Tage verkehrs- und einkaufsfreie Zone. Auf selbstgemalten Plakaten heißt es "Arrest the corporate criminals", "Rettet die Delphine" und "WTO-No". Eine Punkerin mit blauen Haaren hat ein mindestens fünf Meter hohes Skelett aus Holz um die Hüfte geschnallt.

Am Kongresszentrum haben sich vor einem schmalen Korridor, der nach innen führt, zwei Dutzend Polizisten in Kampfanzügen postiert. Offenbar sollen hier später offizielle WTO-Delegierte durchgelassen werden - mit allen Mitteln, daran lassen die Beamten keinen Zweifel. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkt ein LKW-Anhänger mit einer Lautsprecheranlage, aus der Funkrhythmen tönen. Es ist ein Lastwagen der "Teamsters", der legendären Transportarbeiter-Gewerkschaft. "Fight the power" dröhnt es über die Straße, und schon 200 Demonstranten wärmen sich tanzend im Rhythmus auf. Die Kreuzung ist einer von dreizehn Blockade-"Distrikten" um die WTO-Tagung. Die Organisatoren des DAN haben das Areal in monatelangen Vorbereitungen am Reißbrett aufgeteilt.

Für jeden Distrikt sind mindestens fünf Aktivisten zuständig, die per Megafon mit blockadewilligen Neuankömmlingen kommunizieren, die Menge über Polizeibewegungen informieren und den Distrikt abriegeln. Funkgeräte dienen der Koordination zwischen den Distrikten. Der 22-jährige Gerald Coolidge, von Beruf Fahrradkurier, ist heute Blockadekoordinator, "eine Art menschliches Funkgerät", erklärt er. Und wendet sich einer Mitstreiterin zu: "Am Cavanaughs Hotel steht FBI, dort müssen hochrangige WTOler untergebracht sein." Die DAN-Frau bittet daraufhin per Megafon um Verstärkung in Richtung des Hotels, und ein Dutzend Studenten machen sich nach kurzer Beratung auf den Weg. Gerald verschnauft. Sonst arbeitet er zehn Stunden pro Tag für rund 100 Dollar. "Heute sind die Geschäfte sowieso zu", erklärt er den Lohnverlust. Er wolle etwas Sinnvolles gegen die WTO machen. Und er freue sich schon auf die Gewerkschaftler, meint er beim Aufsteigen aufs Rad, "wenn die kommen, dann geht bei der WTO nichts mehr".

Zwei Stunden später tummeln sich auf dem Areal um die Tagungsgebäude, etwa 500 mal 500 Meter, Tausende von Menschen. Bombastisch anzusehen sind die bunten Riesenpuppen des "Art and Revolution"-Kollektivs aus San Francisco: ein flammenresistenter, blauer Wal namens "Flo" in Originalgröße blockiert fast ganz alleine eine Kreuzung, mehrere schwarz-weiße Skelette mit Furcht erregenden Schädeln und WTO-Aufdruck ragen über der Menschenmenge auf. Eine haushohe Hexe kehrt die WTO aus. Clowns mit bunten Plastiknasen tragen Gasmasken am Gürtel. Eine Gang von rotgekleideten Nikoläusen hat sich statt weißer die auffallenderen blauen und schwarzen Bärte angeklebt. Sie unterbrechen ihr Schwätzchen nur mit dem Verlesen einer Anklageschrift gegen die WTO. Zwischendrin schlängeln sich Menschen, die sich grüne Kostüme von Meeresschildkröten - "turtles" - umgeworfen haben. Damit verknüpft ist der Hinweis auf das Aussterben der "turtles", seit die WTO ein entsprechendes Tierschutzgesetz ausgehebelt hat.

Und schließlich erscheint in übertrieben-ironischem Stechschritt die "Infernalische Geräuschbrigade", ganz in schwarz mit Bärenmützen, Springerstiefeln, Trommeln und grünen Holzgewehren. Vom postmodernen Intellektualismus habe er genug, erklärt der 31-jährige "Che" und meint zwinkernd: "Visualize corporate breakdown". Sein Satz - "den Zusammenbruch der Konzerne sichtbar machen" - wird sich am Nachmittag später an eine Wand gesprüht wiederfinden - neben einer der zahlreich eingeschlagenen Scheiben der Bank of America.

Zu jenem Zeitpunkt haben die Cops die friedlichen Sitzblockaden mit Tränengas, Gummigeschossen, Geräuschgrananten und einer üblen Knüppelei bereits aufgelöst. Ergebnis: freier Zugang für die WTO-Abgeordneten, mehrere hunderttausend Dollar Sachschaden und das Eingreifen der "National Guard". Zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg wird wieder der Ausnahmezustand im wohlhabenden, sonst recht verschlafen-liberalen Seattle herrschen. Hunderte haben sich trotz des immer wieder einsetzenden Nieselregens und trotz der ersten Drohgebärden der Cops vom Sondereinsatzkommando auf den Straßenkreuzungen niedergelassen, manche haben gar ihre Arme quasi unverrückbar einbetoniert.

Wo bleiben die Gewerkschafter?

Ortswechsel: die Gewerkschafter-Demonstration des Dachverbands AFL-CIO hat sich noch nicht auf den Weg gemacht. Im Sportstadium, wo sich rund 30.000 KollegInnen versammelt haben, werden die letzten Reden gehalten. Unglaublich, aber wahr - die Gewerkschaftsspitze, sonst eng verbündet mit dem Weißen Haus, ist persönlich erschienen: AFL-CIO-Präsident John Sweeney, Teamsters-Chef James Hoffa und die Vorsitzenden der Textil-, Stahl- und Hafenarbeiter. Was vor Jahren wegen eines verkrusteten Apparates und einer altertümlichen Gewerkschaftspolitik noch undenkbar war, ist heute möglich: ein südafrikanischer Minenarbeiter zitiert vom Podium herunter unter donnerndem Applaus Marx und fordert die Vereinigung aller Arbeiter weltweit. Ein mexikanischer Gewerkschafter lässt die Zapatisten hochleben. Eine Studentin agitiert gegen die Billigproduktion in den Sweatshops der USA. Eine US-Grüne erläutert den Zusammenhang zwischen Freihandel und mangelndem Umweltschutz. Der AFL-CIO hat aus seiner Niederlage gelernt, die ihm die Clinton-Regierung vor fünf Jahren mit der Errichtung der NAFTA-Freihandelszone bereitet hat.

Die neue Rhetorik hochrangiger AFL-CIO-Spitzen überrascht selbst eingefleischte Altlinke. "Die nationalistische Rhetorik", freut sich der Radiokommentator Doug Henwood, "ist weitgehend verschwunden". Als sich der Zug, eine der größten US-Gewerkschaftsdemonstrationen seit 50 Jahren, in Bewegung setzt und Richtung Kongresszentrum marschiert, ziehen dort, 20 Fußminuten entfernt, bereits die ersten Tränengasschwaden die Hochhäuser hoch. "Teamsters and turtles - together at last" - "Teamsters und Schildkröten - endlich zusammen", liest sich ein rührendes Transparent. Dass die Gewerkschaftermassen in das Geschehen dann doch nicht eingreifen, um den attackierten Blockierern gegen die Polizei zu Hilfe zu kommen, sondern kurz vorher wieder umkehren, sei ein Skandal, kommentiert später ein linker US-Journalist. Doch Henwood winkt ab und meint dazu "Revolutionsromantik". Gemessen an US-Verhältnissen sei die neue Bündnisbereitschaft des AFL-CIO hoffnungsversprechend. Denn das traditionelle Verhältnis des Verbandes zur Demokratischen Partei weise Risse auf, erklärt er, und die seien vorsichtig zu vertiefen, um endlich eine amerikanische Reformbewegung links von der politischen Mitte zu schaffen.

Die nächste Bewährungsprobe steht bereits fest: das jüngst von der US-Regierung unterzeichnete Handelsabkommen mit China. Die Ratifizierung im US-Kongress steht noch aus, und der AFL-CIO hat angekündigt, eine Gegenkampagne zu starten. Aber auch Isolationspolitiker und rechtsextreme Gruppen wollen das Abkommen verhindern. So bleibt in nächster Zukunft die Frage, wie sich die US-Gewerkschaft gegen falsche Freunde von rechts wappnen will. Eine zufrieden stellende Antwort konnte in Seattle niemand geben.

Max Böhnel, Seattle