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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 434 / 20.1.2000

Flucht nach vorn?

Wladimir Putin beerbt Jelzin

Welchen Weg wird Wladimir Putin einschlagen? Hat er eine Zukunft oder nicht? Nahe Beobachter der aktuellen Kreml-Ereignisse meinen, der Kampf werde zwischen der Jelzin-Familie, der Tschubajs-Mafia und den Geheimdiensten geführt. Das mag sein, so weit es den Inner-Circle angeht. Wladimir Putin hat einige der engsten Berater Boris Jelzins, u.a. dessen skandal-umwitterte Tochter Tatjana Datchenko, entlassen und deren Posten mit seinen Leuten besetzt. Die Clique der "jungen Reformer" um Anatolij Tschubajs ebenso wie Mitglieder der Geheimdienste rechnen sich Chancen auf Posten in der neuen Regierung bzw. im Beraterstab des Interims-Präsidenten aus.

Das dürfte aber wohl noch nicht alles sein. Die Interessen dieser Gruppen sind, auch wenn sie sich um die Macht streiten, doch weitgehend identisch: Erhaltung und Ausbau der Machtstellung des privaten, genauer privatisierten Kapitals, Stärkung der Präsidialmacht. Oppositionelle Kräfte werden sich dagegen um die jetzigen Wahlverlierer scharen - "Vaterland - das ganze Russland", "Jabloko" und die Kommunistische Partei. Deren Interessen sind - bei allen vordergründigen Differenzen - ebenfalls identisch: ein Kurs des patriarchalen Sozialdemokratismus russischer, d.h. korporativer Prägung, Einschränkung der Präsidialmacht, Stärkung der korporativen Leitungsorgane.

Der Kernpunkt, an dem sich die Auseinandersetzung in nächster Zeit entwickeln wird, ist die Frage: Fortführung des Krieges oder Kampf gegen die Korruption? Das bedeutet: Will - und vor allem kann - Wladimir Putin weiterhin von der Krise auf eine äußere Bedrohung ablenken, oder versucht er eine Bekämpfung der Ursachen der Krise im Lande selbst?

Die Lage ist brisant: Wladimir Putin könnte schon sehr bald, auch wenn es im Moment nicht so scheinen mag, in ernsthafte Schwierigkeiten kommen. Zum einen wird er die Zustimmung für den Krieg nicht auf der bisherigen Höhe halten können, schon gar nicht, wenn die Kämpfe von den anfänglichen "Erfolgen" in langandauernde Auseinandersetzungen mit einer gut ausgerüsteten Guerilla übergehen. Das aber wird mit Sicherheit geschehen, wenn Grosny eingenommen worden sein sollte. Zum anderen wird er in dem Moment, in dem er sich gegen die Korruption wendet, Sturm von den bekannten Geldjongleuren ernten, allen voran von den Jelzin-Vertrauen Beresowski und Abramowitsch, ebenso aber von der Tschubajs-Mafia.

Was kann Wladimir Putin tun? Der bisherige Ausweg aus dieser Situation ist versperrt, denn nun gibt es keinen Boris Jelzin mehr, der aus dem Hintergrund für ein schnelles Auswechseln verbrauchter Pferde sorgen könnte. Abdanken ist aus demselben Grunde nicht möglich. Einige Kommentatoren wollen in Wladimir Putin einen "neuen Andropow" sehen. Das ist er selbstverständlich auch nicht. Andropow hatte, als er 1982 zu einer letzten "Säuberung" gegen die Schattenwirtschaft ansetzte, noch die gesamte Parteimacht, einschließlich eines funktionsfähigen KGB, hinter sich. Trotzdem ist er gescheitert. Perestroika war der einzige Ausweg, der sich für die damalige Nomenklatura anbot.

Wladimir Putin ist in einer völlig anderen Situation: Was damals illegal war, ist jetzt legal. Heute stehen sich nicht Nomenklatura und Schattenwirtschaft gegenüber - sie sind identisch, dafür aufgeteilt in diverse, miteinander konkurrierende Clans. Boris Jelzin verstand es, sie im Gleichgewicht zu halten - das aber nur, solange es etwas zu verteilen gab. Jetzt gibt es nichts mehr zu verteilen - nun geht es darum, sich in den neuen Besitzverhältnissen zu behaupten. Der Kampf Clan gegen Clan ist seit dem Bankenkrach vom August 1998 eröffnet. Mit dem Ende der Umverteilung endete Boris Jelzins Politik. Sein Interims-Nachfolger Wladimir Putin kann sich weder auf eine Goodwill-Kampagne der Partei stützen wie seinerzeit Andropow, noch auf Bestechungsmöglichkeiten zu Zeiten einer noch laufenden Umverteilung wie Jelzin - er kann bestenfalls einen Clan gegen den anderen auszuspielen versuchen.

Dafür hat Jelzin ihm aber die denkbar schlechtesten Voraussetzungen hinterlassen. Putin steht kein demokratisches oder auch nur halbwegs pluralistisches staatliches Instrumentarium zur Verfügung, mit dem er diesen Interessensausgleich organisieren könnte. Die einzige Möglichkeit, die ihm bleibt, wenn er in den nächsten Wochen in Schwierigkeiten kommt, ist die Flucht nach vorn - anders ausgedrückt, der Rückgriff auf seine "Hausmacht", die Geheimdienste und das Militär. Es sei denn, er beendete den Krieg in Tschetschenien sofort. In einer Situation, in der der Krieg aus dem Ruder zu laufen droht, wäre das für ihn der geschickteste Schachzug. Mit ihm könnte er auch diejenigen matt setzen, die, wie Ex-General Alexander Lebed, mit dem Versprechen antreten, gleichzeitig den Krieg und die Korruption zu stoppen.

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de