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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 434 / 20.1.2000

NS-Zwangsarbeit in Privathaushalten und Landwirtschaft

"Fremdarbeiter" von Entschädigungen ausgeschlossen

Das Bundesfinanzministerium hat mittlerweile den 2. Entwurf für die Errichtung einer öffentlichen Stiftung, die Entschädigungszahlungen an NS-ZwangsarbeiterInnen zahlen soll, vorgelegt. Dieser 2. Entwurf schließt weiterhin die Mehrheit der überlebenden NS-ZwangarbeiterInnen von Leistungen aus und beraubt sie gleichzeitig jeder Möglichkeit, ihre Ansprüche auf Schadenersatz durchzusetzen. Zu ihnen gehören auch die ZwangarbeiterInnen, die in Privathaushalten und der Landwirtschaft arbeiten mussten.

Herr C. ist 15 Jahre alt, als er 1939 in seiner Geburtsstadt E. in Polen auf der Straße von deutschen Wehrmachtssoldaten festgenommen wird. "Man hat mit dem Gewehr auf mich gezielt und mich aufgefordert, in den Lastwagen zu steigen. Man hat mich mit anderen Gefangenen zum Arbeitsamt gefahren. Dort wurdne die Personalien aufgenommen, überprüft und wir bekamen den Haftbefehl mit. Zwei Tage später mussten wir am Bahnhof erscheinen. Es wurde gesagt, beim Nichterscheinen würde die ganze Familie bestraft werden." Mit dem Zug wird er nach mehreren Etappen schließlich nach M. verfrachtet. "Dort musste ich dann beim Bauern Zwangsarbeit leisten. Unter harten Bedingungen musste ich von 5 Uhr morgens bis 20 Uhr abends auf dem Hof, auf dem Feld etc. Arbeit verrichten. Ich hatte wenig zu Essen bekommen, von der Feldarbeit hatte ich Rückenschmerzen und geschwollene Füße, unter denen ich heute noch leide. Nach der Arbeit musste man aufs Zimmer und durfte dies nicht mehr verlassen. Zwischendurch folgten Kontrollen, wo wir nach Lust und Laune von den SS-Leuten geschlagen wurden, ohne etwas getan zu haben." Nach 6 Jahren Zwangsarbeit gelingt ihm die Flucht, kurz darauf wird er von den Amerikanern befreit.

Ein Schicksal wie das von Herrn C. haben viele erlitten, die in NS-Deutschland Zwangsarbeit leisten mussten. Es waren zum größten Teil Kriegsgefangene und Zivilbevölkerung aus den besetzten Ländern, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt wurden. Schätzungsweise 9-10 Millionen Menschen wurden zwischen 1940 und 1945 zum Arbeitseinsatz nach Deutschland gebracht. Die meisten von ihnen kamen aus den osteuropäischen Ländern, darunter fast 3 Millionen aus der Sowjetunion. Das Durchschnittsalter lag bei ca. 20 Jahren, viele OsteuropäerInnen wurden aber schon im Alter von 14, 15 Jahren in das Deutsche Reich deportiert.

Brutale Zwangsmaßnahmen waren Alltag

Bereits im Mai 1940 befanden sich über 1 Million Menschen aus dem überfallenen Polen zur Zwangsarbeit in Deutschland. Drei viertel von ihnen wurden dabei in der Landwirtschaft eingesetzt, um die Ernährung der deutschen Bevölkerung zu sichern. Hatte bereits früher in Deutschland die Beschäftigung billiger SaisonarbeiterInnen aus Polen in der deutschen Landwirtschaft Tradition, so wurden die ArbeiterInnen im besetzten Polen nun mit Gewalt verschleppt. Oft wurden ganze Dörfer umstellt, polnische BürgerInnen wahllos auf der Straße, im Kino, in der Schule etc. aufgegriffen und unter brutalen Zwangsmaßnahmen nach Deutschland deportiert. Hier sorgten die sogenannten "Polenerlasse" für eine starke Repression gegen die polnischen ZwangsarbeiterInnen, die bei Verfehlungen mit Strafen bis zum Tode geahndet wurden. Willkürliche Schikanen, wie Herr C. sie erlebt hat, waren an der Tagesordnung.

Insgesamt wurde ein Drittel der ausländischen Arbeitskräfte in der Landwirtschaft eingesetzt, die meisten von ihnen waren OsteuropäerInnen. So arbeiteten allein 70 Prozent der polnischen ZwangsarbeiterInnen in der Landwirtschaft. 1944 war jeder zweite Beschäftigte in der Landwirtschaft ein Zwangsarbeiter.

Ohne den Arbeitseinsatz der "FremdarbeiterInnen" wäre der 2. Weltkrieg in Deutschland spätestens im Sommer 1943 verloren gewesen. In der Landwirtschaft hätte ein Ausfall der ZwangsarbeiterInnen innerhalb kürzester Zeit zum Zusammenbruch der Produktion geführt. Eine gute Ernährung der deutschen Bevölkerung in den Kriegsjahren war allerdings äußerst wichtig, um keine "Kriegsmüdigkeit" aufkommen zu lassen.

Auch in vielen privaten Haushalten arbeiteten überwiegend osteuropäische Frauen, die Zahl wird auf mehr als 200.000 geschätzt. Gerade die russischen Dienstmädchen waren sehr begehrt, da sie als billig und fleißig galten. Eine von ihnen ist Frau S., die 1942 im Alter von 17 Jahren aus der Ukraine zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt wurde. Dort musste sie in einem Haushalt in M. täglich mindestens 12 Stunden arbeiten. Nach zwei Jahren wurde sie nach Holland deportiert, um am Westwall Panzergräben auszuheben. Als sie wegen schwerer Blutungen nicht mehr arbeiten konnte, steckte man sie zur Arbeit in die Küche einer Fallschirmjägerkompanie. Dort blieb sie bis zu ihrer Befreiung 1945.

Minderschwere Fälle?

Nach den KZ-Häftlingen waren die Lebensbedingungen der sowjetischen ZwangsarbeiterInnen am schlechtesten. So waren die Arbeits- und Lebensbedingungen der osteuropäischen "FremdarbeiterInnen" wesentlich schlechter als vergleichsweise die der ZwangsarbeiterInnen aus West- und Nordeuropa. In der rassistischen Ideologie der Nazis standen die OsteuropäerInnen auf der untersten Stufe. Infolgedessen galt bei ihnen: maximale arbeitsmäßige Ausbeutung, geringstmögliche Ernährung, schlechte Behandlung und Todesstrafe bei den geringsten Vergehen. Die OsteuropäerInnen galten als "Menschenmaterial", das nicht am Leben erhalten werden musste, da es von ihnen einen "unerschöpflichen Vorrat" gab. Viele von ihnen haben die unmenschliche Behandlung durch die Nazis nicht überlebt.

Heute, nach fast 55 Jahren, besteht zum ersten Mal die begründete Hoffnung, dass überlebende Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter unter dem NS-Regime doch noch eine finanzielle Entschädigung und damit eine Anerkennung ihrer Leiden erhalten sollen. In den derzeitigen Verhandlungen um Entschädigungszahlungen wird jedoch die Gruppe der ehemaligen ZwangsarbeiterInnen in Landwirtschaft und Haushalt ausgeschlossen. Die Begründung ist, dass es sich hierbei um "minderschwere Fälle" handele. Und tatsächlich ging es den FremdarbeiterInnen in Landwirtschaft und Privathaushalten in der Regel erheblich besser als in der Industrie, was die Ernährung und die Behandlung betraf.

Die von den Nazis erlassenen rigiden Gesetze für die OstarbeiterInnen ließen sich auf dem Land und in den Privathaushalten wesentlich schlechter durchsetzen als in den Betrieben. Hier konnte die vorgeschriebene Distanz zwischen den deutschen Familien und den ZwangsarbeiterInnen nicht immer aufrechterhalten werden, da die FremdarbeiterInnen durch den engen persönlichen Kontakt manchmal in die Familie integriert waren. So war es - obwohl verboten - durchaus üblich, dass das sowjetische Kindermädchen oder der polnische Hofarbeiter mit der Familie am Mittagstisch zum Essen saß.

Es darf jedoch nicht außer acht gelassen werden, dass es sich bei den ZwangsarbeiterInnen um oft noch minderjährige OsteuropäerInnen handelte, die gewaltsam nach Deutschland deportiert wurden. Fern von ihrer Heimat und ihrer Familie waren sie von Repressionen, Todesstrafe, Abtransport bei Krankheit etc. bedroht. Auch in der Landwirtschaft und in den Privathaushalten mussten ZwangsarbeiterInnen bis zur Erschöpfung oft bis zu 14, 15 Stunden am Tag schwere körperliche Arbeit, in der Regel ohne Lohn, verrichten. Die Versorgung und Behandlung der "ZivilarbeiterInnen" war außerdem sehr abhängig von der individuellen Gunst ihrer jeweiligen ArbeitgeberInnen. Längst nicht alle OstarbeiterInnen saßen mit ihren Herren an einem Tisch. Es gab auch viele Bauern, die die rassistische Ideologie der Nazis teilten und an ihren Gefangenen auslebten, indem sie diese schlugen, hungern ließen etc.

Es ist erwiesen, dass die Erweiterung der unterirdischen Produktionsstätten der Industrie zum Wirtschaftswunder nach dem 2. Weltkrieg beitrugen. Aber auch die vielen Höfe und Güter hätten ohne die Bewirtschaftung durch die "ZivilarbeiterInnen" in den Kriegsjahren brachgelegen. Mittlerweile ist auch deutlich geworden, dass die Industrie und die Bauern die ZwangsarbeiterInnen nicht aufgezwungen bekamen, sondern diese selber angefordert haben.

Heute ist Herr C. 75 Jahre alt und lebt in Deutschland. An den gesundheitlichen Folgen der schweren Feldarbeit in jungen Jahren leidet er noch heute. Da er mit seiner Rente knapp über der Bemessungsgrenze für eine einmalige Härteleistung liegt, hat er bisher keine finanzielle Anerkennung erhalten. Der Härtefonds für NS-Verfolgte in Nordrhein-Westfalen hätte von dieser Regel aus eigenem Ermessen eine Ausnahme machen können, doch galten dort 6 Jahre Zwangsarbeit nicht als "außerordentlich hartes Verfolgungsschicksal". Nach dem jahrelangen Ringen mit den Behörden um eine Entschädigung ist Herr C. müde und will nicht weiter kämpfen, um nicht immer wieder aufs neue gedemütigt zu werden.

Zur Zeit sollen - so der aktuelle Stand - nur die am schlimmsten betroffenen Opfergruppen eine Entschädigung von Seiten der Industrie- und Bundesstiftung erhalten. Diese Entscheidung erfolgt auf Grund des stark begrenzten Geldbudgets, dass die Stiftung für die NS-Opfer aufzuwenden bereit ist. Zweifelsohne ist es die Gruppe der ehemaligen KZ-Häftlinge, die am härtesten von den unmenschlichen Gräueln des Naziregimes betroffen war. Auch steht außer Frage, dass die ZwangsarbeiterInnen in den Industriebetrieben unter wesentlich schwereren Bedingungen leben und arbeiten mussten als diejenigen in der Landwirtschaft und in den Haushalten. Oft starben die ZwangsarbeiterInnen in den Fabriken nach wenigen Monaten an Hunger, Erschöpfung, Krankheit und Misshandlungen und wurden gegen neue ArbeiterInnen ausgetauscht. Dennoch ist nicht nachzuvollziehen, dass die ZwangsarbeiterInnen in der Landwirtschaft und in den Haushalten ganz von der Zahlung einer Entschädigungssumme ausgeschlossen werden sollen.

Entschädigung ist das mindeste

Viele dieser inzwischen alten Menschen leben unter ärmlichen Lebensbedingungen in Polen oder in der Ukraine. Sie leiden auch heute noch unter den gesundheitlichen Schäden, die ihnen durch die schwere körperliche Zwangsarbeit in jungen Jahren entstanden sind. Auch die psychischen Traumata durch die erlittenen Ängste dieser Zeit verfolgen sie bis heute, haben bei vielen im Alter sogar noch zugenommen. Eine Entschädigung würde für diese misshandelten Menschen nach über 50 Jahren eine Anerkennung ihrer erlittenen Demütigungen darstellen, und sie würde für viele einen großen Unterschied in der Lebensqualität ihrer letzten Lebensjahre darstellen.

Frau S. ist heute ebenfalls 75 Jahre alt. Nach dem Krieg hat sie einen deutschen Mann geheiratet, der mittlerweile verstorben ist. Auch ihre Bemühungen, eine einmalige Entschädigung zu erhalten, scheiterten bisher. Zum einen befinde sie sich auf Grund ihrer Altersrente nicht in einer materiellen Notlage, zum anderen handele es sich bei ihrem Verfolgungsschicksal "nur um Zwangsarbeit", so lautete die offizielle Begründung. Dass Frau S. mittlerweile sehr krank ist, jenseits von Pflegestufen höhere Aufwendungen hat und ihre Krankheit zum Teil auch durch die körperliche Überlastung in ihrer Jugend während des NS-Faschismus verursacht wurde, fand bisher keine Beachtung.

Frau S. kann jedenfalls nicht verstehen, weshalb sie bis jetzt keine Anerkennung für die Zeit ihrer Zwangsarbeit erhalten hat: "Man hat uns die Kindheit gestohlen, uns weggerissen von unseren Familien, wir konnten keine Ausbildung machen, haben unsere Gesundheit ruiniert, unser Leben wurde schon in jungen Jahren kaputtgemacht. Warum haben wir bis heute keine Entschädigung für unsere Leiden erhalten?"

Marion Leuther

Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte