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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 435 / 17.2.2000

Der Siegeszug eines "undeutschen" Spiels

100 Jahre Fußball in Deutschland, Teil 1: 1900 bis 1933

Im Januar feierte der DFB, "der größte Sportverband der Welt", sein hundertjähriges Bestehen - mit Festakt, Funktionären und Udo Jürgens. Für uns ist das Jubiläum Anlass für einen Rückblick auf die Entwicklung des Fußballspiels in Deutschland, seine Sozialgeschichte und seine politische Instrumentalisierung.

Deutschland war fußballerisch lange Zeit ein Entwicklungsland. Mit dem Turnen hatte sich bereits eine andere Disziplin als "nationaler Sport" etabliert, die keine Konkurrenz neben sich duldete. Schon gar nicht, wenn diese ausländischen Ursprungs war. "... Sport zu treiben, war im Grunde identisch mit Turnen, und Turnen wiederum war eine höchst nationale Angelegenheit. Nicht nur damals, am Ausgang des 19. Jahrhunderts, sondern noch tief ins 20. Jahrhundert hinein. Stocknational in der Denkungsart und humanistisch in der Bildung, so hatte der vorbildliche Deutsche zu sein, weshalb die kickenden Gymnasiasten, denen wegen der ,Fußlümmelei` Verweis von der Schule angedroht war, zutiefst bedauerten, dass die ersten fußballspielenden Menschen nicht die alten Griechen gewesen waren." (Schröder 1990)

Die deutschtümelnde Turnerschaft betrachtete das Fußballspiel als "undeutsche", importierte Modetorheit, deren Ausbreitung zu begegnen sei. Aber trotz aller Einsprüche und sonstiger Widrigkeiten, die die Einführung des Fußballs hier zu Lande begleiteten, zählte Deutschland zu den ersten Ländern auf dem europäischen Kontinent, wo er gespielt wurde. Schriftliche Erwähnung fand er bereits 1796, als sich der Turnvater Guts Muths in seinem "Ersten deutschen Spielbuch" über ihn ablehnend äußerte. 1865 spielte der spätere erste Präsident des DFB, Ferdinand Hueppe, mit englischen Schülern der Lehranstalt Neuwied Fußball.

Fußball wurde zunächst vor allem dort gespielt, wo sich "Engländerkolonien" befanden, die nach dem Wiener Kongress in Handelszentren (z.B. Hamburg, Berlin, Frankfurt), Residenzstädten (z.B. Hannover, Braunschweig, Dresden) und Modebädern (z.B. Baden-Baden) entstanden waren. Bei den Engländern handelte es sich "teils um Langzeit-Touristen, teils um Verwandte der deutschen Herrschaftshäuser. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts kamen auch Unternehmer, kaufmännische Angestellte und ,engineers` hinzu. (...) Um den Zusammenhalt unter den Landsleuten zu stärken, pflegten sie die bekannten ,sports and pasttimes`, zum Beispiel Lawn-Tennis, Leichtathletik und Hockey, Rudern und Rollschuhlaufen, Angeln und natürlich das Fußballspiel." (Eisenberg 1997)

Als einheimischer Pionier betätigte sich der Gymnasialprofessor Konrad Koch, der 1874 das "englische" Spiel als Schulspiel am Braunschweiger Martino-Katharineum-Gymnasium einführte. Die Höheren Schulen und Gymnasien wurden zu den hauptsächlichen Keimzellen des Fußballs. Kochs Engagement für den Fußball lagen primär pädagogische Überlegungen zu Grunde, die jenseits der traditionellen Methoden der reinen Repression und der Belehrung lagen. Er wollte von der reinen Fremddisziplinierung zur stärkeren Selbstdisziplinierung der Schüler. Dazu schien ihm das Fußballspiel weitaus tauglicher als das autoritäre und militaristische Turnen.

Mit Sport zum nationalistischen Schulterschluss

Kochs pädagogisches Konzept war in dem Sinne politisch, dass es die Überwindung aristokratischer Verhaltensmuster und die Entfeudalisierung des deutschen Bürgertums anstrebte. Der Gymnasialprofessor gehörte außerdem dem Zentralausschuss für Volks- und Jugendspiele (ZA) an, einer Vorfeldorganisation der Nationalliberalen Partei und des Alldeutschen Verbands, "die durch Initiierung einer massenhaften ,Spielbewegung` unter der männlichen Jugend den aufstrebenden Sozialdemokraten den Nachwuchs abwerben wollte. Die Aktivisten der ZA ... empfahlen nicht nur das ,deutsche Turnen`, sondern auch ,English sports`, und so kam ihre Werbe- und Lobbytätigkeit auch dem Fußball zugute." (Eisenberg 1997)

Auf Grund der Widerstände der Turnvereine gestaltete sich die Durchsetzung des Fußballs in Deutschland zunächst schwierig. Noch 1894, ein gutes Vierteljahrhundert nach Gründung der ersten Fußballclubs in England, fühlte Konrad Koch sich bemüßigt, in der Deutschen Turnzeitung Überlegungen darob anzustellen, wie Fußball "ein deutsches Spiel" werden könnte. Um die deutschtümlerischen, nationalkonservativen Einwände zu neutralisieren, versuchte Koch zu belegen, dass Fußball keineswegs als rein "englisches Spiel" zu betrachten sei, sondern vielmehr im Mittelalter in diversen Ländern - darunter selbstredend auch Deutschland - gespielt worden sei. Des weiteren schlug er vor, die englische Fachterminologie, der man sich bis dahin mangels eigener Überlegungen bediente, durch "deutsche Kunstausdrücke" zu ersetzen.

Die Fußballer waren zunächst im 1891 gegründeten Deutschen Fußball- und Cricket-Bund organisiert, und nicht wenige Fußballvereine vertrieben sich in den Sommermonaten die Zeit mit Cricketspielen. Als publizistisches Organ diente die "Deutsche Ballspiel-Zeitung", die die Interessen der Cricket-, Croquet-, Bocki-, Fußball- und Tennisvereine vertrat. Die gemeinsame Zeitung dokumentiert, wo der Fußball seinerzeit gesellschaftlich beheimatet war. 1894 erschien dann erstmals eine eigenständige Fußballzeitung mit dem Titel "Der Fußball".

Da der Deutsche Fußball- und Cricket-Bund sich wiederholt gegen die Aufnahme neuer Vereine sperrte, kam es im September 1897 in Berlin zur Gründung eines Konkurrenzverbandes mit dem Namen Verband Deutscher Ballspielvereine (VBB, ein Vorläufer des heutigen Berliner Fußball-Verbands - BFV). Am 28. Januar 1900 wurde im Leipziger Mariengarten schließlich in Anwesenheit von 36 Vertretern, die 86 Vereine repräsentierten, die Gründung des Deutschen Fußballbundes (DFB) vollzogen, dem wenig später auch der Berliner Verband als Regionalverband beitrat. England war 1863 mit der Football Association das erste Land der Welt gewesen, das einen nationalen Fußballverband konstituierte. Es folgten Schottland (1873), Wales (1876) und Irland (1880). Aber auch auf dem Kontinent gehörten die Deutschen zu den Nachzüglern.

Der DFB übernahm bald die nationalkonservative Engstirnigkeit der Turner. Zwar konkurrierten im DFB bis zum Machtantritt der Nazis zwei Strömungen miteinander, von denen man die eine als "internationalistisch" und die andere als "nationalistisch" bezeichnen könnte, aber schon zu Kaisers Zeiten war letztere eindeutig stärker. 1911 trat der DFB dem paramilitärisch-nationalistischen Jungdeutschlandbund bei. Auch der DFB interpretierte den Sport als ein Instrument zur Schmiedung der inneren Geschlossenheit des Volkes gegenüber seinen "äußeren Feinden". Dementsprechend enthusiastisch begrüßten viele seiner Funktionäre den Ersten Weltkrieg.

Der internationalistische Flügel wurde vor allem von dem Karlsruher Fußballspieler und Kosmopoliten Walther Bensemann repräsentiert. Von der in Deutschland damals nicht gerade zeitgemäßen Idee beseelt, das Spiel solle die Grenzen überwinden und die nationalen Vorurteile brechen, reiste Bensemann mit seinen Karlsruher "Kickers" nach Belgien, Holland, England, Ungarn, Frankreich und in die Schweiz und holte 1899 die erste englische Mannschaft auf den Kontinent. Der nationalistische Widerpart betrachtete indes das sportliche Kräftemessen mit anderen Nationen als Teil eines allgemeineren Ringens von Völkern und deren Staaten um Hegemonie. Beim Fußball ging es darum, die Überlegenheit der eigenen Nation und deren Tugenden zu demonstrieren.

Mit seinen grenzüberschreitenden Aktivitäten erntete Bensemann mehr Misstrauen als Zustimmung, und noch 1960 schrieb ein anderer deutscher Urfußballer, Dr. Ernst Karding, in der Festschrift zum 60-jährigen Jubiläum des DFB: "Es war eine bescheidene und genügsame Freude, mit der wir unseren Sport trieben. Wir waren glücklich, wenn man uns nicht Schwierigkeiten machte, und dankbar, wenn unsere Probleme in der Tagespresse nicht behandelt wurden. Deshalb lehnten wir Bensemann ab mit seinen viel zu frühen Spielen zusammengeholter Mannschaften aus England und Frankreich, die nur Kritik in der Presse auslösen konnten. Erst wollten wir im eigenen Haus Ordnung haben." Nach 1933 musste Bensemann wegen seiner jüdischen Abstammung in die Schweiz flüchten.

Allgemeine gesellschaftliche Anerkennung errang das Spiel erst in den Jahren vor Ausbruch des 1. Weltkriegs, als sich führende Vertreter verschiedener deutscher Dynastien öffentlich zu ihm bekannten. Zu nennen sind diesbezüglich vor allem der Bruder Kaiser Wilhelms II., Prinz Heinrich von Preußen, wie des Kaisers Söhne Kronprinz Wilhelm, der auch als Stifter eines begehrten Fußball-Wanderpokals (des Kronprinzen-Pokals) in den Annalen des deutschen Fußballs geführt wird, und Prinz Friedrich Karl von Preußen, der gar selbst - im Trikot des SC Charlottenburg - dem Ball nachjagte. Dass der Fußball seit der Jahrhundertwende auch beim Heer, vor allem aber bei der Marine gespielt wurde, ist ebenfalls als Beleg für seine wachsende gesellschaftliche Akzeptanz zu werten. 1910 wurde das Fußballspiel durch einen Militär-Turnerlass in die Ausbildungspläne der Armee aufgenommen.

Arbeitervereine verdrängen die bürgerlichen Clubs

Hierbei spielten die englischen Erfahrungen eine Rolle: Während das Militär zuvor Disziplin und Präzision betonte, Kennzeichen der Gymnastik, wurden nun Teamwork und individuelle Initiative gepredigt. Der preußische Militarismus förderte die Entwicklung des Fußballsports, indem er die Exerzierplätze als Fußballfelder zur Verfügung stellte. Das ist mit eine Erklärung dafür, warum sich Berlin zum ersten deutschen Fußball-Mekka entwickeln konnte.

Auch in Deutschland blieb der Fußball nicht dauerhaft ein exklusives Freizeitvergnügen von Angehörigen des bürgerlichen Milieus, sondern wurde von der Arbeiterschaft begierig aufgegriffen. Nicht von ungefähr war es das schwerindustriell geprägte Ruhrgebiet, wo sich der Fußball nach dem Ersten Weltkrieg am meisten ausbreitete.

Vor dem Ersten Weltkrieg war der leistungsstärkste Verein des Ruhrgebiets der Duisburger Spielverein, dessen Mannschaft 1913 auch als erste Ruhrgebiets-Elf das Finale um die deutsche Meisterschaft erreichte (und 1:3 gegen den VfB Leipzig verlor). Zwischen 1904 und 1927 gewannen die Duisburger nicht weniger als zehn Mal den Titel des Meisters des Westdeutschen Spielverbandes (WSV). Der Duisburger SV war aus einer Abspaltung des Duisburger Turnvereins von 1848 hervorgegangen. Seine hauptsächlichen Konkurrenten waren der ETB Schwarz-Weiß Essen und der Lokalrivale Duisburger Sport-Club Preußen.

In allen drei Vereinen spielten Arbeiter bestenfalls eine marginale Rolle. Die Duisburger Preußen gestatteten laut ihrer Satzung gar nur solchen Personen die Mitgliedschaft, die mindestens das "Einjährige" (d.h. das Zeugnis der Obersekundarreife) vorweisen konnten.

Auch in Deutschland war die Arbeitszeitverkürzung die wichtigste Voraussetzung für die Ausbreitung des Fußballsports unter der Arbeiterschaft. Im November 1918 ordnete das Reichsamt für wirtschaftliche Demobilmachung an, dass die reguläre tägliche Arbeitszeit (ausschließlich der Pausen) acht Stunden nicht überschreiten dürfe. Mit der Arbeitszeitverordnung vom 21. Dezember 1923 fand der Achtstundentag auch Einzug in die ordentliche Gesetzgebung.

Welche Bedeutung die Einführung des Achtstundentags für den Sport hatte, belegen die folgenden, 1919 geschriebenen Sätze des Sportjournalisten Hans Heiling: "... Wir wollen kühn und nüchtern sondieren, welche Vorteile der freie Spätnachmittag dem Sport gebracht hat. Und da ist zuerst das Erziehungsmittel zum guten Resultat, das Training, zu erwähnen, dessen tägliches Pensum früher in kargen Abendstunden durchgepeitscht wurde, ohne dass auf eine systematische Einzelausbildung Wert gelegt werden konnte. Die Hauptbedingung für die harte und eiserne Übungszeit im Wettkampf ist Regelmäßigkeit, sei es regelmäßige Erholung, regelmäßiger Schlaf oder Regelmäßigkeit der täglichen Übung. Früher konnte dieser Regelmäßigkeit nur huldigen, denen Freizeit genug neben dem Hauptberuf gegeben war... Jetzt bleibt eine viel größere Menge täglicher Zeit zum Training..., und der geschickte Sportlehrer, den heute jeder Verein von gutem Klang haben müsste, wird aus der Masse der Sport Treibenden mehr herausholen können, als es früher der Fall war. (...) Erfassung größerer Massen für die Sportidee, regelmäßiges Training, Durchbildung weiter Volksschichten, das sind in der Hauptsache die Angelpunkte des freien Nachmittags..."

Neben der Verkürzung der Arbeitszeit war aber auch noch das vielfältige System der Förderung des Sports durch die öffentliche Hand von Bedeutung, das sich bis Mitte der 1920er Jahre durchsetzte. Diese Förderung manifestierte sich insbesondere in der Ausweitung des Sportstättenbaus.

Die Verbreitung des Fußballs unter der Arbeiterschaft spiegelt sich auch in der Mitgliederstatistik des DFB wider. 1904 waren erst 194 reine Fußballvereine mit 9.317 Mitgliedern im DFB vertreten. 1913 zählte der Verband immerhin schon 161.613 Mitglieder. Nach dem Ersten Weltkrieg stieg die Mitgliederzahl rapide an: 1920 hatte der DFB 756.703 Mitglieder und 1925 823.425, d.h. mehr als fünf Mal so viele wie vor dem Krieg. Die Arbeitervereine verdrängten die bürgerlichen Clubs auch mehr und mehr leistungsmäßig, obwohl der Duisburger SV noch bis 1927 den westdeutschen Fußball dominierte.

Doch 20 Jahre nachdem der Fußball seinen Siegeszug in der Arbeiterschaft begonnen und sich zur populärsten Freizeitbeschäftigung entwickelt hatte, war Schwarz-Weiß Essen unter den zwölf Ruhrgebietsvereinen, die in der Saison 1939/40 den Gauligen (den damals höchsten Ligen) "Westfalen" und "Niederrhein" angehörten, der einzige, der eindeutig dem bürgerlich-mittelständischen Milieu zuzuordnen war. Hingegen entstammten sieben Vereine dem proletarischen Milieu, nämlich neben Schalke 04 noch Arminia Marten, Spielvereinigung Röhlinghausen und Spielverein Hamborn 07, die alle mit der Bergarbeiterschaft verbunden waren, sowie die vornehmlich aus Metallarbeitern bestehenden Gelsenguss Gelsenkirchen, Fußballverein Duisburg 08 und Ballverein Borussia 09 Dortmund.

Dietrich Schulze-Marmeling

Zitierte Literatur:

- Ulfert Schröder: Fußball in Deutschland; in Karl-Heinz Huba (Hg.): Fußball-Weltgeschichte; München 1990

- Christiane Eisenberg (Hg.): Fußball, Soccer, Calcio. Ein englischer Sport auf dem Weg um die Welt; München 1997