Ab 60 gehört Opa mir
Tarifpolitik wird zum Ausputzer der Rentenreform
"5,5 Prozent mehr Lohn plus vorgezogenes Rentenalter", so lautet die IG Metall-Forderung für die diesjährige Tarifrunde. Mit der "Rente mit 60" wird die Alterssicherung so nicht mehr zu einer Frage der grundsätzlichen Reform der Rentenversicherung sondern zu einer Frage der Tarifpolitik.
Seit 1997 werden bei den Renten sämtliche Altersgrenzen vorzeitig und schneller als 1992 beschlossen angehoben:
- von 60 auf 65 Jahre für Erwerbslose und nach Altersteilzeit seit 1997 (Geburtsjahrgänge ab 1937) bis Dezember 2001 (Geburtsjahrgänge ab Dezember 1941),
- von 60 auf 65 Jahre für Frauen ab 2000 (Geburtsjahrgänge ab 1940) bis Dezember 2004 (Geburtsjahrgänge ab Dezember 1944),
- von 63 auf 65 Jahre für langjährig Versicherte (Geburtsjahrgänge ab 1937) bis Dezember 2001 (Geburtsjahrgänge ab Dezember 1939),
- von 60 auf 63 Jahre für Schwerbehinderte ab 2001 (Geburtsjahrgänge ab 1941) bis Dezember 2003 (Geburtsjahrgänge ab Dezember 1943).
Auch künftig können diese Rentenarten mit vollendetem 60. bzw. 63. Lebensjahr bezogen werden. Wer allerdings vor Erreichen der Altersgrenze in eine der genannten Altersrenten wechselt, erhält pro vorgezogenem Rentenbezugsmonat einen dauerhaften Abschlag von 0,3 Prozent; im Extremfall sind das 18 Prozent weniger an monatlicher Bruttorente.
Darüber hinaus blockiert ein weiteres Hindernis den Weg in den früheren Ruhestand: Wer heute unmittelbar aus einem Beschäftigungsverhältnis heraus mit 60 Jahren in Rente gehen will, muss entweder schwerbehindert, weiblich oder zuvor zwei Jahre in Altersteilzeit beschäftigt gewesen sein. Nur für diese Personengruppen ist nach geltendem Rentenrecht überhaupt eine Altersrente mit 60 Jahren möglich. Der weit überwiegende Teil der älteren Männer kann heute frühestens mit 63 Jahren die vorgezogene Altersrente für langjährig Versicherte in Anspruch nehmen.
Eins ist sicher: weniger Geld
Bei der Forderung nach der "vollen Rente mit 60" geht es daher vor allem um zwei Dinge: a) um den Ausgleich der drohenden Rentenabschläge und b) um die Schaffung der gesetzlichen Voraussetzung, damit auch diejenigen, die weder schwerbehindert noch weiblich noch in Altersteilzeit beschäftigt sind, mit 60 Jahren eine vorgezogene Altersrente beziehen können.
Die Forderung nach "voller Rente mit 60" hat einzig und alleine das Ziel, die sog. versicherungstechnischen Abschläge finanziell auszugleichen. Nicht gemeint ist ein materieller Ausgleich für die fehlenden Jahre; denn wer mit 60 Jahren in Rente geht, dem fehlen immerhin drei bzw. fünf Versicherungsjahre.
Ein statistischer Durchschnittsverdiener in den alten Bundesländern mit 45 Rentenversicherungsjahren bekäme mit 65 eine Rente von 2.173,05 DM. Mit den jetzt geltenden Abschlägen würde ein Renteneintrittsalter von 60 Jahren für diese Person eine Rente von 1.583,91 DM bedeuten, also 589,14 DM weniger. Davon entfallen 241,45 DM auf die fehlenden fünf Versicherungsjahre und 347,69 DM auf die Abschläge. "Volle Rente mit 60" kompensiert nur letztere. Der Durchschnittsverdiener käme mit 60 so auf 1.931,60 DM, also immer noch 241,45 DM weniger. Egal, ob die Rentenabschläge voll durch höhere Beitragssätze für die Rentenversicherung oder teilweise auch durch private Zusatzzahlungen kompensiert werden: Gänzlich ohne Einkommensverlust wird es keine "volle Rente mit 60" geben.
Die Kompensation der Rentenabschläge könnte von den Tarif-, Betriebs- und/oder Arbeitsvertragsparteien schon hier und heute geregelt werden. Zur Lösung des zweiten Problems ist jedoch der Gesetzgeber gefordert; nur er kann die rechtlichen Möglichkeiten für einen erweiterten Rentenzugang mit 60 Jahren schaffen. Genau an dieser Stelle aber hakte es in der Vergangenheit. Eine Herabsetzung der Altersgrenze bewirkt infolge des vermehrten Rentenzugangs Mehrausgaben sowie Mindereinnahmen der Rentenversicherungsträger und führt damit zu einer Erhöhung der Rentenbeiträge. Und dies ist politisch weitgehend tabuisiert: Im Bündnis für Arbeit waren sich alle Parteien in der Festlegung auf eine "weitere dauerhafte Senkung der gesetzlichen Lohnnebenkosten" einig.
Der Bundesarbeitsminister will sich jetzt dafür einsetzen, dass für langjährig Versicherte die Altersgrenze von 63 Jahren befristet für fünf Jahre auf 60 Jahre herabgesetzt wird. Dies soll an folgende Voraussetzung geknüpft werden: Wer zwischen 60 und 62 Jahren Altersrente beziehen will, für den muss vor Rentenbeginn der maximal mögliche zusätzliche Beitrag an die Rentenversicherung gezahlt worden sein. Ohne diese volle zusätzliche Beitragszahlung könnten also auch künftig langjährig Versicherte erst mit vollendetem 63. Lebensjahr in vorgezogene und abschlagsgeminderte Altersrente wechseln.
Sollte Walter Riesters Einsatz erfolgreich sein, dann könnten die Tarifvertragsparteien - so die Überlegungen innerhalb der IG Metall - paritätisch finanzierte Fonds aus der Taufe heben, deren Aufgabe die Zahlung der zusätzlichen Beiträge zum Ausgleich der Rentenabschläge wäre. Die Rentenversicherungsträger hätten wegen der obligatorischen Kompensationszahlungen des Tariffonds keine ungedeckten Mehrausgaben zu fürchten: Den maximalen Vorfinanzierungskosten von rd. 61 Mrd. DM stünden Fondseinzahlungen von rd. 66 Mrd. DM gegenüber. Während Riester sich dafür stark machen will, die Einzahlungen in die Tariffonds steuerfrei zu stellen, wird dies von Finanzminister Eichel bisher abgelehnt. Der Arbeitsminister ist zufrieden mit dem gefundenen Kompromiss, da die gesetzlichen Lohnnebenkosten hierdurch nicht erhöht werden. Den schwarzen Peter haben jetzt die Tarifparteien. Riester: "Die Rente mit 60 ist Tarifprojekt, kein Regierungsprojekt. (...) Wen diese Regelung wie belastet, ist eine Frage für die Tarifparteien, nicht für die Regierung."
Der Begünstigtenkreis einer Tariffonds-Lösung, die innergewerkschaftliche Akzeptanz eines solchen Modells sowie schließlich dessen Arbeitsmarktwirkung hängen ganz wesentlich von der endgültigen tarifpolitischen Forderung und natürlich von ihrer Durchsetzung ab. Die berechtigten ArbeitnehmerInnen müssten zum Zeitpunkt der Neuregelung mindestens 55 Jahre alt sein (wegen deren Befristung auf fünf Jahre); davon abgesehen ließe sich der zu begünstigende Personenkreis nach folgenden Kriterien bestimmen:
Fragen über Fragen
Ein Anspruch auf Fondsleistungen könnte allen Beschäftigten zugestanden werden, die die Möglichkeit eines vorgezogenen Altersrentenbezugs wahrnehmen - also unabhängig von der Rentenart und unabhängig von der bis dahin zurückgelegten Wartezeit.
Die Fondsleistungen könnten sich aber auch auf diejenigen Beschäftigten beschränken, die irgendeine vorgezogene Altersrente in Anspruch nehmen, andererseits aber die Wartezeit von mindestens 35 Jahren erfüllen müssen.
Denkbar wäre drittens die Begrenzung des Begünstigtenkreises auf jene, die eine Wartezeit von mindestens 35 Jahren erfüllen und gleichzeitig die Rentenart für langjährig Versicherte in Anspruch nehmen; diese Lösung würde den tariflich begünstigten Personenkreis letztlich auf jene ArbeitnehmerInnen beschränken, die auch von der in Aussicht gestellten gesetzlichen Neuregelung begünstigt wären.
Frauen wären bei einer Begrenzung der tariflichen Leistungen auf langjährig Versicherte strukturell sicherlich benachteiligt; zu bedenken ist hierbei allerdings, dass die Wartezeiterfordernis von 35 Jahren nicht nur durch Pflichtbeitragszeiten, sondern auch mit sog. Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung erfüllt werden kann.
Kosten und Akzeptanz des Tariffonds-Modells werden schließlich auch davon beeinflusst, ob der volle versicherungstechnische Rentenabschlag oder nur der Abschlag für diejenigen, die vor vollendetem 63. Lebensjahr in Altersrente wechseln, auszugleichen ist. Von allen vorstellbaren Fallgestaltungen dürften für die innergewerkschaftliche Debatte nur jene tatsächlich relevant sein, die in jedem Einzelfall einen vollen Abschlagsausgleich vorsehen.
Die teuerste Lösung wäre die volle tarifliche Abschlagskompensation für alle Beschäftigten, die den gesetzlichen Vorgaben zufolge ab vollendetem 60. Lebensjahr in Rente wechseln könnten. Diese Variante hätte die größte potenzielle Arbeitsmarktwirkung und entspricht auch den Vorstellungen der meisten Älteren von einer "vollen Rente ab 60".
Vieles deutet aber darauf hin, dass es am Ende auf folgende Lösung hinausläuft: Eine volle Kompensation der Rentenabschläge erhalten nur diejenigen Beschäftigten, die bis zum Rentenbeginn eine Wartezeit von mindestens 35 Jahren zurückgelegt haben.
Gerade diejenigen, die in den vergangenen Monate völlig zu Recht Gerechtigkeitslücken monierten und ihre Forderung nach der "Rente ab 60" mit deren Arbeitsmarktwirkung begründen, kämen damit in Erklärungsnotstand: Mit welcher Begründung soll etwa Frauen oder Altersteilzeitlern mit weniger als 35 Jahren Wartezeit, die schon nach heutigem Recht eine Altersrente mit 60 Jahren beziehen und einen Arbeitsplatz freimachen könnten, der tarifliche Abschlagsausgleich verwehrt werden, während sie doch gleichzeitig zur Finanzierung von Fondsleistungen an diejenigen herangezogen werden, die 35 und mehr Jahre der Rentenversicherung angehört haben und ihre allein deshalb in der Regel höhere Rente auch noch um bis zu drei Jahre früher beziehen könnten?
Unbeantwortet ist z.Z. auch die Frage, ob und wie Erwerbslose in die Tariffonds-Lösung eingebunden werden. Insgesamt ist berechtigte Skepsis gegenüber gewerkschaftlichen Strategien angebracht, die mit tarifpolitischen Mitteln staatlichen Sozialabbau zu kompensieren suchen; die Tarifpolitik ist mit der Rolle des sozialpolitischen Ausputzers völlig überfordert.
Tarifpolitische Sackgasse
Hinzu kommt, dass kaum ein anderer Aspekt bei der Debatte um die "Rente mit 60" so sehr überschätzt wird wie deren Arbeitsmarktwirksamkeit. Auch ohne Neuregelung würden während der in Frage stehenden fünfjährigen Laufzeit von dem auf insgesamt zwischen 1 und 1,2 Mio. geschätzten Potenzial rd. 600.000 Personen in Rente für langjährig Versicherte gehen. Zudem würde ein Teil der verbleibenden maximal rd. 600.000 Älteren über andere Rentenarten verrentet werden. Und da auch bei einer flächendeckenden Regelung längst nicht alle Berechtigten vom vorzeitigen Rentenbezug Gebrauch machen werden, beliefe sich der Kreis der über die fünf Jahre zusätzlich verrenteten Beschäftigten am Ende auf insgesamt zwischen 0,4 bis höchstens 0,5 Millionen Personen. Bei einer angenommenen Wiederbesetzungsquote von 0,5 könnten maximal rd. 250.000 Personen zusätzlich in Beschäftigung gebracht werden.
Nach Ablauf der gesetzlichen Sonderregelung schlüge die Entlastung am Arbeitsmarkt allerdings in ihr genaues Gegenteil um: Mindestens drei zusätzliche Jahrgänge langjährig Versicherter verharren dann länger in Beschäftigung. Auch die "Aufschieber-Quote" derjenigen, die wegen der Abschläge länger arbeiten, wird dann höher liegen als heute, weil die Altersgrenzen und damit die jeweils maßgebenden Abschlagshöhen ab Ende des Jahres 2004 durchweg ihr Maximum erreicht haben werden.
Die Finanzierung des Tariffonds soll über eine paritätisch aufzubringende Umlage der Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Höhe von zusammen 1 Prozent der Bruttolöhne und -gehälter erfolgen. Dafür wäre die IG Metall bereit, auf höhere Lohnprozente zu verzichten und eine "planbare" Tarifpolitik für die kommenden Jahre zuzusagen. Wie soll aber gewährleistet werden, dass die Fondsfinanzierung am Ende nicht auf eine Parität à la Pflegeversicherung hinausläuft: Auf dem Lohnzettel halbe-halbe, in Wirklichkeit aber alleine von den Arbeitnehmern getragen?
Schließlich bleibt noch die Frage, ob eine Tariffonds-Lösung ohne Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) überhaupt vorstellbar ist.
Unterm Strich schafft ein Fonds-Modell zur Abschlagskompensation mehr Probleme, als es löst. Letztlich ist kein Instrument besser geeignet, die mit der "Rente ab 60" verfolgten sozialpolitischen Ziele zu verwirklichen, als die gesetzliche Rentenversicherung. Manch einer außerhalb der Gewerkschaften denkt beim anvisierten Tariffonds-Modell heute auch schon an übermorgen: Nach Ablauf der fünfjährigen gesetzlichen Sonderregelung ließe sich der Tariffonds beibehalten und ausbauen zu einem alleine von den Arbeitnehmern finanzierten System privater Vorsorge. Wer in der Tarifpolitik einen solchen Fliegenfänger wie die fondsfinanzierte "Rente mit 60" aufhängt, darf sich nicht wundern, wenn er am Ende ideologisch dran kleben bleibt.
Johannes Steffen
Die ungekürzte Version dieses Beitrags ist erschienen in Sozialismus Nr. 11/1999