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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 435 / 17.2.2000

Zone der Entspannung im Kriegsgebiet

Die schwierige Suche nach Frieden in Kolumbien

- Eine Reportage -

Die Provinzhauptstadt San Vicente de Caguan liegt am Rande des Amazonasgebiets im Süden Kolumbiens. Es herrscht tropische Hitze, selbst nachts sinkt das Thermometer nicht unter 35 C. Mit 13.000 EinwohnerInnen ist San Vicente in dieser dünn besiedelten Gegend ein geschäftiges Regionalzentrum. Pferdefuhrwerke, lärmende Motorräder und verbeulte LKWs rattern durch die schmalen, staubigen Straßen rund um den Marktplatz. Dort bieten Straßenhändler vom Zuckerrohrsaft Guarapo bis zur Machete alles Erdenkliche feil. Ohrenbetäubende Salsa-Klänge dringen aus den handtuchschmalen Kneipen und tiendas - kleinen Geschäften, die den Platz umsäumen. Schuhputzer, die meisten kaum zehn Jahre alt, hocken auf den Bürgersteigen und warten auf Kundschaft. Berühmt geworden ist San Vicente jedoch aus einem anderen Grund:

Hier sitzen sich seit einem Jahr die Unterhändler der konservativen Regierung unter Andres Pastrana und der kommunistischen Guerilla Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens - Volksheer (FARC-EP) am Verhandlungstisch gegenüber, um eine politische Lösung für den längsten Bürgerkrieg in der Geschichte Lateinamerikas zu finden. Debattiert wurde bisher allerdings lediglich über Rahmenbedingungen für die eigentlichen Gespräche, die einmal in einen "neuen kolumbianischen Staat auf der Grundlage von Frieden und Gerechtigkeit" münden sollen. Auf die zentralen Punkte dieser Diskussion hatten sich FARC und Regierung in einer gemeinsamen 11-Punkte-Agenda im Mai letzten Jahres geeinigt.

Die 10-15.000 FARC-KämpferInnen sind in den vergangenen Jahren von der klassischen hit and run-Guerillataktik zu regulären Militäroperationen übergegangen, in deren Folge die kolumbianische Armee schwere Verluste hinnehmen musste. Vor dem Hintergrund der offensichtlichen militärischen Stärke der FARC-Guerilla gestand ihr die Pastrana-Regierung im November 1998 den Abzug von Militär- und Polizeieinheiten aus fünf Landkreisen zu und unterstellte die Gebiete offiziell der Kontrolle der Aufständischen. Damit erfüllte der Präsident eine Vorbedingung der "dienstältesten Befreiungsbewegung des Subkontinents" für Gespräche mit der Regierung.

Tauziehen um
die Tagesordnung

Die sogenannte zona de despeje ("Entspannungsgebiet") in den Regionen Caqueta und Meta umfasst ein Gebiet von der Größe der Schweiz. Im Gegenzug verpflichteten sich die FARC, die Sicherheit der Regierungsunterhändler zu gewährleisten, die in der geräumten Militärkaserne von San Vicente untergebracht sind. De facto kontrollieren die FARC bereits seit Mitte der 90er Jahre weite Teile des infrastrukturell schwach entwickelten und von Hochgebirgen und undurchdringlichem Amazonaswald geprägten Süden und Osten Kolumbiens.

Die Zufahrtswege zur zona de despeje werden von der Armee durch Straßensperren blockiert. Mehrfach haben paramilitärische Gruppen bereits Menschen entführt oder ermordet, die in die zona wollten. BesucherInnen können San Vicente deshalb nur auf dem Luftweg erreichen. Nach misstrauischen Fragen und eingehenden Kontrollen auf dem Flughafen der Hauptstadt Bogotá dauert es eine gute Stunde, bis die kleine Maschine der Linie Satena - ein Unternehmen im Besitz der kolumbianischen Luftwaffe - auf der Asphaltpiste des Flughafens von San Vicente de Caguan aufsetzt.

Sind die Lebensverhältnisse in San Vicente schon bescheiden, so wird die Armut - je weiter man sich vom Zentrum entfernt - zunehmend offen sichtbar. Schon am Ortsrand lösen Bretterbuden, meist ohne Wasser- und Stromanschluss, die ein- bis zweistöckigen Häuser der Innenstadt ab. Die Straßen, mehrheitlich Sandpisten, verwandeln sich in der Regenzeit von März bis November in schwer passierbare Schlammrutschen.

Haupteinkommensquelle ist die Vieh- und Milchwirtschaft, die auf ausgedehnten Ländereien rund um San Vicente betrieben wird. Die Gegend verfügt weder über gute Böden für den Ackerbau noch über nennenswerte Bodenschätze. Die offizielle Arbeitslosenrate liegt bei 60 Prozent.

Die erste Gesprächsrunde zwischen FARC und Regierung im Jahr 2000 begann am 13. Januar mit einem Tauziehen um den ersten Verhandlungs-Top, wobei die Guerilla ihre Forderung, die Arbeitslosigkeit und damit die neoliberale Wirtschaftspolitik Pastranas zum wichtigsten Diskussionspunkt zu machen, durchsetzen konnte. In der zona de despeje werden gleichzeitig die audiencias publicas vorbereitet - öffentliche Hearings, deren Finanzierung die Guerilla der Regierung abtrotzen konnte. Erstmals wird damit der Versuch unternommen, die Bevölkerung des ganzen Landes an der Diskussion über die angestrebten sozialen und ökonomischen Veränderungen zu beteiligen.

Im ehemaligen Kulturzentrum von San Vicente, gegenüber des Rathauses, ist das lokale Büro der FARC untergebracht. Vor dem Haus sitzt eine Gruppe bewaffneter Guerilleros. Insgesamt sind wenige KämpferInnen im Ort zu sehen: junge Männer und auffällig viele Frauen mit AK47-Gewehren und Macheten, in Gummistiefeln und Uniformen, ziehen eher schlendernd als patroullierend durch die Straßen. Manche suchen im Schatten der Cafés Schutz vor der flirrenden Hitze, andere unterhalten sich in den Geschäften mit den Leuten.

Mauricio Gareca, verantwortlicher FARC-Kommandant in San Vicente, betont, die Guerilla sei in erster Linie eine politisch-moralische und keine militärische Autorität. Ihr Ziel sei es, so der comandante weiter, die Bevölkerung zu ermutigen, sich zu organisieren und für ihre Interessen einzusetzen. So wurden verschiedene Bürger-Komitees gegründet, mit deren Hilfe die sozialen und ökonomischen Probleme in Angriff genommen werden. Die Bilanz eines Jahres kann sich sehen lassen: unter Beteiligung der Bevölkerung ist ein Großteil der Straßen in den ärmsten Stadtteilen asphaltiert worden. Die FARC setzte zudem beim Stadtrat die Reinigung des Leitungswassers durch. Einhellig betonen Kneipenbesucher und Ladenbesitzerinnen, dass kaum noch Raubüberfälle vorkommen und die Mordrate um 98 Prozent zurückgegangen sei. Gleiches gilt für den Handel mit Bazooka, einem Billig-Derivat des Kokains. Die Guerilla hat den Handel untersagt und Dealern mit der Ausweisung aus der "Entspannungszone" gedroht.

Bürgerkomitees
und Friedensrichter

Um für die alltäglichen Konflikte in einer Kleinstadt Lösungen anzubieten, hat die FARC die oficinas de quejas y reclamos - Büros für Beschwerden und Forderungen - eingerichtet. Das nächste "Büro" liegt etwa 20 Autominuten außerhalb des Ortes, abseits der Straße, am Rande eines Guerilla-Camps: ein stabiles Gerüst aus Bambusstöcken, überspannt von einer schwarzen Plastikfolie, zwei grob gezimmerte Holzbänke und ein Tisch - das ist der Arbeitsplatz von Arturo Medina. Vor dem "Büro" wächst eine riesige Palme, in deren Schatten eine Traube von Menschen aus San Vicente darauf warten, Medina ihre Anliegen vorzutragen. Schulden, Ehescheidungen, Gewalt in der Familie, Autounfälle und Schlägereien, die Fälle seien vielfältig, so der FARC-Friedensrichter.

Arturo Medina spricht wenig, hört bedächtig den KontrahentInnen und ZeugInnen zu, lässt sich die Probleme erläutern, notiert sich jeden Fall und hält schließlich Übereinkünfte und Urteile fest. Doch auch über schwere Delikte wird hier Recht gesprochen. Ein Besucher des Büros schildert, dass der Medina kürzlich einen Mörder dazu verurteilt habe, 200 Meter Dorfstraße zu bauen und drei Jahre lang Zahlungen an die Familie des Opfers zu leisten. In allen von den FARC kontrollierten Gebieten des Landes wird diese Form von Konfliktlösung und "neuer Justiz" angewendet, erzählt Friedensrichter Medina. Perfekt sei das System zwar nicht, aber es werde von der Bevölkerung in Anspruch genommen und anerkannt.

Auch in den anderen vier von der kolumbianischen Armee geräumten Gemeinden - Macarena, Vistahermosa, Mesetas und La Uribe - sind die Lebensverhältnisse ähnlich wie in San Vicente. Einen gravierenden Unterschied gibt es allerdings: In den kaum erschlossenen Gegenden haben sich desplazados angesiedelt, von Paramilitärs aus fruchtbareren Regionen vertriebene Bauernfamilien. Durch Brandrodung trotzen sie dem Urwald kleine Parzellen Land ab, auf denen sie die berüchtigte Kokapflanze anbauen. Hier, jenseits der "Agrargrenze", fernab von jeglicher staatlichen und wirtschaftlichen Infrastruktur, ist Koka für die Bauern die einzig vermarktbare Ware. Die Preise werden von den Zwischenhändlern des Kokainexports, die jedoch auch den Transport garantieren. Die Koka-Anbaugebiete sind laut staatlicher Statistik um ein Drittel ärmer als die übrigen Landesteile. Hier ist der Staat nur in Form von Militärflugzeugen sichtbar, die Koka-Felder mit chemischen Giften besprühen.

Die FARC - traditionell in dieser Gegend präsent - verhält sich als Schutzmacht der Koka-Bauern, was ihr international den Ruf der "Narco-Guerilla" eingebracht hat. Ivan Rios, Mitglied des Oberkommandos der FARC, bestätigt, dass die Organisation den Koka-Anbau dulde, solange es für die Bauern keine Alternative gebe. Die FARC besteuere zwar die Zwischenhändler, allerdings erhebe sie auch von anderen Wirtschaftsunternehmen in ihren Gebieten Kriegssteuern, erklärt Rios und fügt hinzu: "Hinter dem Koka-Anbau verbirgt sich ein grundlegendes soziales Problem, das nach einer sozialen und nicht nach einer militärisch Lösung verlangt." Die FARC habe in einer Region den Koka-Anbau auch einmal verboten, berichtet der Guerilla-Funktionär, allerdings mit dem Ergebnis, dass die Regierung daraufhin eine große Anzahl Militärs geschickt habe, die den Anbau wieder genehmigten. Seitdem toleriert die FARC den Koka-Anbau, sucht aber internationale finanzielle Unterstützung für ihren Vorschlag eines Modellprojektes zur Koka-Substitution.

Milliarden
für Militärs

Während der Dialog zwischen Aufständischen und Regierung in der geräumten Zone im Süden des Landes seit Mitte Januar fortgesetzt wird, geht der Krieg in den übrigen Landesteilen mit unverminderter Härte weiter. Nach einer einseitigen "Weihnachts-Feuerpause" zerstörten die FARC kurz vor dem erneuten Verhandlungsbeginn mehrere Polizeistationen im Norden des Landes.

Was passieren wird, wenn das Übereinkommen zwischen FARC und Regierung über die geräumte Zone im Sommer 2000 nicht verlängert wird, bleibt offen. Die Bevölkerung jedenfalls hat Angst, dass die Paramilitärs ihre Drohungen Wahrmachen und Rache nehmen könnten.

Ebenso gibt es Befürchtungen, dass die militärische Auseinandersetzung durch die verstärkte Einmischung der USA in Kolumbien weiter eskaliert und der Friedensprozess scheitern könnte. Der Schwerpunkt des "Plan Colombia", für den Präsident Pastrana internationale finanzielle und politische Unterstützung seitens der USA und der EU gefunden hat, liegt auf einer militärischen Lösung des Konfliktes.

Am Tag der Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen mit den FARC, erhielt die kolumbianische Regierung von den USA den Zuspruch für eine Militärhilfe in Höhe von 1,6 Milliarden Dollar - mehr erhalten nur Israel und Ägypten für diesen Zweck. Die Gelder sind unter anderem für weitere Militärberater und die technische Ausstattung zweier Eliteeinheiten der Armee mit Kampfhubschraubern und High-Tech-Geräten vorgesehen. Diese neuen Einheiten heißen zwar offiziell bataillones antinarcoticos - Sondereinsatztruppen gegen den Drogenhandel, aber US-Außenministerin Albright wollte keine Zweifel über ihren Einsatzbereich aufkommen lassen: die FARC unterstütze den Drogenhandel, deshalb müsse sie bekämpft werden. Das US-State Department wurde noch konkreter: es gehe darum die "Kontrolle über den Süden des Landes wiederzugewinnen".

Eine direkte militärische Invasion der USA in Kolumbien wird von der FARC nicht länger ausgeschlossen. Ob die Verhandlungen zwischen einer starken Guerilla und einer von den USA gestützen Regierung mehr politische Spielräume für die Linke Kolumbiens schaffen, muss mit Skepsis verfolgt werden. Die Situation im Land verdient jedenfalls Aufmerksamkeit - und Engagement.

H. P. Kartenberg