Unzureichende Verstopfung und rassistische Säcke
Die Aufhebung des Castortransporte-Stopps durch das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) eine Woche vor der Konsensrunde am 4. Februar ist als politisches Signal zu werten: Rot-Grün will keine "Verstopfung" der AKWs und verzichtet auf den Atomgesetzvollzug. Offensichtlich hängt der Betrieb eines AKW unter Rot-Grün nicht mehr von dem Nachweis einer gesicherten Entsorgung ab.
Wenn - wie im Koalitionsvertrag richtig festgestellt wird, das Entsorgungskonzept der Kohl-Ära als gescheitert anzusehen ist, wenn sogar in interministeriellen Arbeitspapieren der Nachweis geführt wird, dass die Wiederaufarbeitung nicht dem Gebot der schadlosen Verwertung entspricht und natürlich auch kein Beitrag zur "geordneten" Beseitigung des Atommülls ist, dann gehört sie verboten und/oder als Entsorgungsnachweis nicht anerkannt. Allein nach den Buchstaben des geltenden (Un-) Rechts gäbe es Handlungsmöglichkeiten für eine Regierung bzw. ein Ministerium, das sich der Sicherheit der Menschen vor der Strahlung und nicht der Sicherung der Profite von Reaktorbetreibern verschriebe. Im Wahlkampf hörte sich das auch noch so an: Ausstiegsgesetz, sicherheitsorientierter Gesetzesvollzug und Novelle der Strahlenschutzverordnung seien die Instrumente einer Regierung, die den Atomausstieg erreichen wolle. Davon ist nicht viel geblieben.
Als Anti-AKW-Bewegung sind wir schon immer Sand im Getriebe - allerdings auf anderen Handlungsebenen. Wer diese mit Regierungshandeln vermischt oder verkennt, dass das sehr unterschiedliche Ebenen sind, macht einen gewaltigen Fehler. Der Anti-AKW-Bewegung steht es frei, die rot-grüne Regierungspolitik an radikalen Forderungen zu messen ("Sofortausstieg!"). Diese Forderung ist recht und billig. Recht ist sie, weil der Reaktorbetrieb auch dann nicht akzeptabel ist, wenn er befristet wird. Die Forderung ist aber auch billig, weil sie die Antwort auf die Frage verweigert, wie aus einem unbefristeten Reaktorbetrieb auf einen Schlag ein befristeter wird. Befristet schreibe ich aus großer Verlegenheit. Denn ich kenne niemanden, der seriös und unter Beachtung der rechtlichen und machtpolitischen Verhältnisse dargelegt hätte, was "sofort" eigentlich bedeutet. Selbst diejenigen in der Anti-AKW-Bewegung, die seit Jahren konsequent rechtsstaatlich unter Verweis auf den Grundgesetzartikel 2 (2) "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit" argumentieren, haben wohlweislich nicht versucht, dieses Grundrecht einzuklagen.
Rot-Grün will keine Verstopfung
Das Versagen der Grünen in dieser historischen Konstellation (denn wer weiß, ob es jemals wieder eine Regierung gibt, die das Thema Atomausstieg auf die Tagesordnung setzt) beantwortet die Anti-AKW-Bewegung mit Gejammer und Schuldzuweisungen. Richtig ist es, die Grünen beim Wort zu nehmen und das Versagen zu benennen. Merkwürdig wird es jedoch, wenn das Rückbesinnen auf die eigene Kraft und die gesellschaftliche "Aufgabe" unterbleibt. Ich meine nicht die Verbalradikalität. Ich meine die Authentizität der Forderungen, die sich paaren muss mit einem Bündel an Fähigkeiten: Kongresse zum Strahlenschutz, Energiepolitische Ratschläge, Symposien zum Demonstrationsrecht, Fachtagungen zu Endlagerkriterien... sind ebenso wichtig wie die Teilnahme an Erörterungsterminen zum Bau dezentraler Zwischenlager. All diese Instrumente müssen eingesetzt werden, wenn man sich in die laufenden politischen Debatten einmischen und ernst genommen werden will, wenn gesellschaftliche Veränderungen erreicht werden sollen. Handlungsfähigkeit ist eben mehr als Aktionsfähigkeit, und hier gibt es große Defizite.
Am Ende ist es aber immer wieder unsere Aktionsfähigkeit, die wir unter Beweis stellen müssen. Beides gemeinsam besorgt das gesellschaftliche Klima, das - in diesem Fall - Rot-Grün dazu zwingt, sich mit dem Atomausstieg zu befassen. In Ahaus und Gorleben/Arendsee bereiten wir uns auf den nächsten Transport vor, wir mobilisieren auch gegen den Betriebsbeginn der Pilot-Konditionierungsanlage in Gorleben, eine Atommüllfabrik, die überflüssig wäre, würde das Endlager Gorleben nicht realisiert.
X-tausend-mal-quer will an den AKW-Standorten die Atommülltransporte blockieren ... Sand im Getriebe sein. Was ich an der Verstopfungsstrategie von X-tausend-mal-quer in erster Linie bemängele, ist nicht die Tatsache, in Zukunft auch direkt an den AKWs Blockadeaktionen zu veranstalten und nicht zu warten, bis ein Castor aus La Hague nach Gorleben rollt oder in Ahaus eintrifft. Es ist die Verkürzung des Politikbegriffs auf den instrumentellen Selbstvollzug: Es ist größenwahnsinnig und naiv anzunehmen, durch direkte Aktionen könnten wir direkt (Ausstiegs-) Wirkung erzielen.
Wir haben eine Wächterfunktion, wir geben immer wieder Anstoß zur Ausstiegsdebatte, wir geben keine Ruhe, ganz gleich, was regierungsoffiziell beschlossen wird. Das ist unsere Stärke. Wie unsere Beharrlichkeit und Unberechenbarkeit. Dass es Ruhe geben könnte an der Atomfront, dass sich mit einem Ausstiegsbeschluss auf dem Papier der Protest gegen Castortransporte befrieden ließe, das glauben doch nicht einmal die grünen SpitzenpolitikerInnen.
Wir sind also Sand im Getriebe, ein Störfaktor, der den reibungslosen Ablauf des Atomstrom- und -müllgeschäfts vermasselt.
Bewegung antwortet mit Gejammer
Direkte Einflussmöglichkeiten auf politisch-parlamentarisches, regierungsoffizielles Handeln oder juristische Entscheidungen hatte der außerparlamentarische Protest selten. Wir erinnern uns gern an den Satz des einstigen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht (CDU): "Die WAA in Gorleben ist technisch zwar machbar, politisch aber nicht durchsetzbar." So etwas klingt sogar an, wenn Gerhard Schröder heute am Rande der Konsensverhandlungen andeutet, die nukleare Entsorgung sei nicht gesichert, weil möglicherweise PolizistInnen sich massenhaft weigern könnten, die Castortransporte gegen Tausende von DemonstrantInnen durchzuprügeln. Indirekte Einflussmöglichkeiten haben wir allemal, indem wir für das "Ausstiegsklima" sorgen und die "Ausstiegsdebatte" immer wieder anfachen.
Deshalb wäre eine Politik der Anti-AKW-Bewegung völlig falsch, die sich nicht in innergrüne Debatten einmischt, und selbst bei der SPD, in den Gewerkschaften und Kirchenkreisen gibt es Menschen, die ernsthaft für den Ausstieg streiten. Somit liegt nahe, dass bei kommenden Castortransporten - und das ist seit Mitte der 90er Jahre wie im Moment unsere hervorragende Chance - Regierung und Wirtschaft das Konsensgeschäft verdorben wird. Bislang wird uns die Argumentation für massenhafte Querstellerei nicht schwerer fallen als unter der Kohl-Merkel-Ära. Ein Zeichen mehr dafür, dass Rot-Grün nichts erreicht hat.
Als BI Umweltschutz Lüchow-Dannenberg mobilisieren wir folglich ungeachtet der veränderten parteipolitischen Verhältnisse gegen den nächsten Castortransport nach Gorleben, und wir mischen uns auch international ein: in La Hague bei der Info- und Aktionstour im Herbst '99, in Bure/Frankreich wiederholt, dort soll ein nukleares Endlager gebaut werden, und wir haben eine politische Patenschaft gegründet. Wir engagieren uns gegen den Reaktor-Neubau in Frankreich, wir sind Mitglied im Réseau Sortir du nucléaire, und wir sind auf vielen bundesweiten Konferenzen personell vertreten.
Atom"front" habe ich extra formuliert, um auf Schlagworte und Metaphern zu sprechen zu kommen, mit denen sich ein unoffener Offener Brief an die BI Umweltschutz Lüchow-Dannenberg auseinander setzt, der die angedachte Sandsack-Aktion "Tag X - Stoppt die Atommüllflut" als tendenziell rassistisch geißelt.
Hinter der Sandsack-Aktion verbirgt sich die Vorstellung, dass viele fleißige Hände Säcke füllen und sie zu einem symbolischen Schutzwall aufschichten, wenn der nächste Castor rollt. Unoffen war der Brief, weil die Aktionsidee schon fast zwei Jahre alt ist. Sie entstand nämlich nach der Oder-Flut und betont das Moment der Solidarität bei der Abwehr einer Gefahr. Es wäre also monatelang möglich gewesen, die Aktionsidee und/oder das begleitende Flugblatt zu kritisieren. Die anonymen VerfasserInnen (Anmerkung der Redaktion: Der Brief wurde von verschiedenen Gruppen unterschrieben) zogen es aber vor, den Offenen Brief kurzfristig in die Bewegungszeitschrift Anti-Atom-Aktuell zu setzen, und wir bzw. die IdeenspenderInnen für die Sandsack-Aktion sehen uns denunziert.
Die Warnung, dass die "Flut" in rassistischer und fremdenfeindlicher Weise in "Asylantenflut" auftaucht und es besser wäre, auf derartige Bilder und entsprechende - wenn auch unbeabsichtigte Assoziationen - zu verzichten oder ihnen vorzubeugen, akzeptieren wir. Aber dazu hätte es keines Offenen Briefes bedurft. Denunziert werden wir als potenzielle Faschisten, weil es heißt: "Die im Sandsack-Flugi verwendete Bildersprache gleicht unbeabsichtigt auch jener ,Das-Wendland-bleibt-sauber-Mentalität`, womit sich in den letzten Jahren vereinzelt Nazis in die Castor-Debatte mischten. Das ist sicherlich von euch unbeabsichtigt - aber ein Zufall ist es nicht." (Hervorhebung von mir). Denunziert werden wir durch unbelegte Zitate von Nazis, die sich mit der zitierten Parole eingemischt hätten, der unterstellten Haltung, wir hätten den Nazis nicht widersprochen, und der Behauptung, die Wahl der Metapher sei kein Zufall.
Wer aber über bildhafte Sprache und unsere Losungen anfängt als Metapherpolizei nachzudenken, dem wird auch beim "Sand" im Getriebe auffallen, dass es ein Naturbegriff ist, der gesellschaftliche Verhältnisse nicht korrekt abbildet... Stand der internen Diskussion zwischen den BI-SäckInnen ist es, das Begleitflugblatt neu zu fassen. Auch wenn der Umgang miteinander zu wünschen übrig lässt, an unserer Lernfähigkeit soll es nicht scheitern.
Wolfgang Ehmke