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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 437 / 13.4.2000

Von links nach rechts

Zeev Sternhell über die ideologischen Ursprünge des Faschismus

Dass linker und rechter "Extremismus" gleichermaßen zu verurteilen und letztlich "Rot gleich Braun" sei, gehört hier zu Lande zur Staatsdoktrin. Gebildete Antikommunisten, die den Ursprung des Bösen links lokalisieren, glänzen zusätzlich mit dem Argument, schließlich sei selbst Mussolini anfangs ein revolutionärer Sozialist gewesen. In der Tat gab es, nicht nur in Italien, Anfang des 20. Jahrhunderts viele, die von links nach rechtsaußen wechselten. Wie das möglich war und welche "revolutionären" Elemente in die faschistische Ideologie eingegangen sind, hat der israelische Politologe Zeev Sternhell erforscht. Seine Studien sind für Anhänger der Totalitarismustheorie enttäuschend - und für Linke lehrreich.

Seit Ende vergangenen Jahres liegt Sternhells Klassiker endlich auch in deutscher Übersetzung vor: "Die Entstehung der faschistischen Ideologie", dessen französische Originalausgabe ("Naissance de l'idéologie fasciste") schon 1989 erschien. Der Hamburger Edition, dem Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung, muss man für die Herausgabe des umfänglichen Werkes danken - auch wenn das Motiv für diese verlegerische Entscheidung fragwürdig ist: Denn Sternhell und seine Mitautoren Mario Sznajder und Maia Asheri werden vom Verlag quasi als Verfechter der totalitarismustheoretischen "Linie" des Instituts präsentiert. Sternhells Studie, so der Klappentext, zeige "die Bedeutung der revolutionären Ideologie für die Entstehung des Faschismus", mehr noch: "den gemeinsamen theoretischen Kern der später feindlichen Brüder".

In Wahrheit zeigt Sternhell etwas anderes: Schon in der Einleitung definiert er die faschistische Ideologie als "das Produkt der Verschmelzung des organischen Nationalismus mit der antimaterialistischen Marxismusrevision". Dass unter Faschismus der Nationalsozialismus nicht mit gemeint ist, stellt er ebenfalls schon am Anfang klar. Denn Faschismus und Nationalsozialismus "unterscheiden sich in einer fundamentalen Frage: Die Grundlage des deutschen Nationalsozialismus war der biologische Determinismus, der Rassismus in seiner extremsten Ausprägung, und die Vernichtung der Juden."

Der Beitrag ehemaliger Linker zur faschistischen Ideologie besteht gerade nicht darin, dass sie marxistische Elemente eingebracht hätten. Vielmehr gingen sie von einer "antimaterialistischen und antirationalistischen Revision" des Marxismus aus, um schließlich bei dessen totaler Negation zu landen. "Revolutionär" blieb ihre Ideologie nur insoweit, als sie gegen das am Anfang des 20. Jahrhunderts herrschende System des politischen Liberalismus gerichtet war. Das Lager des "revolutionären Revisionismus" bekämpfte zwar denselben Feind wie die linke Minderheit in der Zweiten Internationale (Lenin, Luxemburg etc.): den sozialen Reformismus, wie er in der deutschen Sozialdemokratie zur höchsten Blüte herangereift war. Damit allerdings enden die Gemeinsamkeiten - auch das hebt Sternhell ausdrücklich hervor.

Führender Ideologe des "revolutionären Revisionismus" war der Franzose Georges Sorel. Auf ihn beriefen sich später nicht nur die revolutionären Syndikalisten Frankreichs und Italiens (von denen die meisten Faschisten wurden), sondern auch Mussolini höchstpersönlich. Sorel, ein "guter Schüler von Marx" (Sternhell), brach zunächst mit der marxistischen Ökonomie und bekannte sich zum Privateigentum und zur freien Entfaltung der Marktwirtschaft, blieb aber seinem Verständnis nach ein Revolutionär und hielt am Klassenkampfgedanken fest. Sozialreformen und Demokratie würden das Proletariat nur vom Kampf um seine Befreiung abhalten, der Bruch mit dem als dekadent betrachteten System setze dagegen eine "totale moralische Revolte" voraus - dazu mobilisiere aber nicht die Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen, sondern der Glaube an die Kraft "sozialer Mythen".

In diesem Punkt sieht Sternhell die "Originalität der Sorelschen Marxismusrevision", die zugleich einen totalen Bruch mit dem "reflektierenden und diskursiven Denken" bedeutet, dem sie eine "religiöse Mentalität, die gegen die rationalistische aufbegehrt", entgegensetzt. Der Sorelsche Mythos "erschafft Legenden, die der Mensch lebt, statt die Geschichte zu leben, er erlaubt, einer erbärmlichen Gegenwart zu entfliehen, gewappnet mit einem unerschütterlichen Glauben". Der wichtigste Mythos, der die soziale Polarisierung vorantreibt, ist für Sorel der Generalstreik. Dabei kommt es für ihn nicht darauf an, "ob der Generalstreik eine teilweise Wirklichkeit oder ein Erzeugnis der Volksfantasie ist".

Erst 1909, zwölf Jahre nach dem Beginn seiner Marx-Revision, brach Sorel mit dem Sozialismus. Später verbündete er sich mit den Ultra-Nationalisten der Action francaise. Sorels Wirkung beruht auf seinen Schriften, vor allem den Réflexions sur la violence ("Über die Gewalt"), die neben der Mythentheorie auch ein Loblied auf die Gewalt enthalten: Sie sei "das einzige Mittel..., das den durch Humanitätsideen abgestumpften europäischen Nationen noch bleibt, um ihre ehemalige Energie wiederzufinden." Entsprechend erhoffte sich Sorel "einen großen Krieg, der Männer an die Macht bringen würde, die den Willen zu regieren hätten, oder eine gewaltige Zunahme der proletarischen Gewalt..."

Den entscheidenden Durchbruch erlebten Sorels Ideen in Italien. In Abgrenzung zum Reformismus der Sozialistischen Partei (PSI) konstituierten sich dort 1902 die "revolutionären Syndikalisten" (sindacato = Gewerkschaft), die den Mythos des Generalstreiks übernahmen und dem Parteisozialismus die "direkte Aktion gewerkschaftlich organisierter Arbeiter" entgegensetzten. Sie verstanden sich zwar als linke Opposition, ihre führenden Theoretiker (Labriola, Leone, De Ambris u.a.) sprachen sich aber ebenso wie Sorel für die von staatlichen Interventionen freie Marktwirtschaft aus. Die von ihnen konzipierte "Gesellschaft freier Produzierender" kann als Vorläuferin des faschistischen Korporativismus gelten.

Den entscheidenden Schritt nach rechts taten die meisten revolutionären Syndikalisten Italiens, als sie 1914 den Eintritt ihres Landes in den Krieg forderten (eine Minderheit hatte schon 1910 den Kolonialkrieg in Libyen unterstützt). Damit vollzogen sie nach, was syndikalistische und nationalistische Ideologen jahrelang gepredigt hatten: Der Krieg sei der "Frühling des Fortschritts" (Orano), und die "proletarische Nation Italien" müsse sich ihren Platz in der Welt erkämpfen (Corradini) - letztere Formel wiederholte Mussolini noch Mitte der 30er Jahre, um den Überfall auf Äthiopien zu rechtfertigen. Gleichzeitig erhofften sich die Syndikalisten vom Krieg den Umsturz der sozialen Verhältnisse Italiens.

Sternhells Mitautor Mario Sznajder beschreibt den "langen Weg", den die revolutionären Syndikalisten seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zurücklegten: Ausgehend von der Revision der marxistischen Ökonomie, über die "direkte Aktion" im Generalstreik, brachen sie mit dem Sozialismus und sahen fortan in der Nation die revolutionäre Kraft. Die Ideologie des Nationalsyndikalismus (ausgearbeitet von De Ambris, Lanzillo, Panunzio, Orano und Olivetti) entsprach dem Frühprogramm des Faschismus. So war es durchaus folgerichtig, dass sich am Ende die meisten Syndikalisten mit den Faschisten verbündeten. Auch die Rechtsentwicklung Mussolinis entsprach dieser inneren Logik und darf keineswegs auf realpolitischen Opportunismus reduziert werden.

Dass Sternhell und seine Mitautoren die Rolle der Ideologie beim Aufstieg des Faschismus möglicherweise überschätzen, ist nicht ganz von der Hand zu weisen: Aber ihr Buch befasst sich eben ausdrücklich nur mit der Ideologie. Die Warnung, die Sternhell in seinem Epilog ("Die Anziehungskraft des Faschismus") formuliert, ist jedenfalls berechtigt: "... es genügt nicht, wenn ein Denker die irrationale Komponente im menschlichen Verhalten gelten lässt, um ihn sofort zum Faschisten zu stempeln. Wird diese Grundlage jedoch zum System erhoben, wird der Rationalismus als Grundlage der sogenannten materialistischen Systeme abgelehnt, so stehen dem Faschismus Tür und Tor offen." Als Mittel der Massenmobilisierung gegen den Liberalismus, den Marxismus und die Demokratie führe der Antirationalismus zwangsläufig zu faschistischem Denken, "wenn er mit einem starken Kulturpessimismus, einem ausgeprägten Kult der Gewalt und der aktivistischen Eliten einhergeht". Diese drei letztgenannten Ideen sind aber auch Teilen der Linken nicht ganz fremd.

Die linke Debatte über das Buch, am breitesten geführt in Jungle World (Nr.1-4/2000), hat leider nicht nur kenntnisreiche Beiträge (vor allem der ak-Autoren Jean Cremet und Bernhard Schmid) hervorgebracht - sie offenbart daneben auch Oberflächlichkeit und ideologische Borniertheit. Der erste Rezensent der Jungle-World-Serie, Jochen Baumann, meinte offenbar, das Buch gar nicht erst lesen zu müssen: So findet er "die Ergebnisse der Studie dürftig" - dass es darin ausdrücklich nicht um den Nationalsozialismus geht, ist ihm entgangen. Baumann unterstellt, für Sternhell sei der Faschismus "weder rechts noch links"; schließlich behauptet er, für den Faschismus an der Macht seien seine "vorgeblich revolutionär-syndikalistischen Wurzeln" ohne Bedeutung. Für Baumann ist der siegreiche Faschismus nichts weiter als ein Instrument "der alten herrschenden Gruppen". Dass er gleichzeitig äußerst erfolgreich den Konsens der "Massen" organisierte, erscheint dem Rezensenten als Marginalie. Baumann schreibt: "Der Faschismus als Praxis beruhte in Frankreich, Italien und Deutschland auf der Diktatur einer kleinen Elite, einer hierarchischen, ständische Prinzipien reklamierenden Gesellschaftsvorstellung, die organisch-nationalistisch verklausuliert wurde. Ihre Stützen waren das Militär und nicht die Arbeiter, die kapitalistische Klassenstruktur blieb, außer in Rhetorik und Propaganda, unangetastet."

Diese - gelinde gesagt - unvollständige Beschreibung nimmt Gerhard Scheit (konkret 2/2000) zum Anlass, schnell mal eine Theorie des Nationalsozialismus zu verkünden. Darin ist auch das getilgt, was in Baumanns Darstellung richtig beschrieben ist (u.a. der Klassencharakter der faschistischen Diktatur): "... der Nationalsozialismus in der Praxis war die Diktatur der Volksgemeinschaft; diese Diktatur bedurfte weder der ,Stütze` des deutschen Militärs noch der deutschen Arbeiter, weil beide in ihr aufgingen, so weit sie den Vernichtungskrieg vorbereiteten und ausführten. Und die Volksgemeinschaft bestand nicht aus Rhetorik und Propaganda, wo sie nur aktiviert wurde; sie realisierte sich in der Verfolgung und Vernichtung der Juden."

So ist der Faschismus bei Baumann nichts weiter als die "Diktatur einer kleinen Gruppe", bei Scheit die Diktatur der "Volksgemeinschaft", die keine Klassen mehr kennt, sondern nur noch Deutsche. Auch wenn der "antifaschistische Widerstand der Arbeiterklasse unter der Führung der KPD" in der DDR-Geschichtsschreibung maßlos übertrieben wurde, die Gruppe der aktiven Widerständler zahlenmäßig unbedeutend war - es gab neben Opfern und Tätern auch "Zuschauer" (Raul Hilberg), Menschen, die zwischen "Zustimmen, Hinnehmen und Mitmachen - aber auch ,Abtauchen`, Sich-Distanzieren, mitunter auch Sich-Widersetzen" (Alf Lüdtke) schwankten. Karl Heinz Roth warnt denn auch davor, "die durch die NS-Diktatur in noch nie zuvor da gewesener Intensität zur zweiten Realität erhobene Massenpropaganda zur Integration des ,Arbeitertums` für bare Münze zu nehmen." Für ihn ist klar, dass "die historische Wahrheit zwischen den beiden Extremen von Widerstandsmythos und Integrationslegende" zu suchen ist. (1)

Was den italienischen Faschismus angeht, wurde das Zusammenspiel von Gewalt und Konsens, auch die Bedeutung der pseudo-revolutionären Ideologie bei der Gewinnung des Konsenses, schon Anfang der 1920er Jahre von führenden VertreterInnen der Kommunistischen Internationale deutlich gesehen. (vgl. dazu nebenstehenden Artikel) Hinter diese bemerkenswert klaren Analysen sollte die linke Debatte acht Jahrzehnte später nicht zurück fallen.

Js.

Anmerkung:

1) Die zitierten Aufsätze von Alf Lüdtke und Karl Heinz Roth sind dokumentiert in Heft 5/1993 der "Berliner Debatte. Zeitschrift für sozialwissenschaftlichen Diskurs", Schwerpunktthema "Deutsche Faschismus-Forschung - Positionen".

Zeev Sternhell/Mario Sznajder/Maia Asheri: Die Entstehung der faschistischen Ideologie. Von Sorel zu Mussolini; Hamburger Edition 1999, 410 Seiten, 68 DM

Georges Sorel und der Mythos der Gewalt Von der Marx-Revision zum Nationalismus Diktatur der Eliten oder der Volksgemeinschaft?