Endbearbeitung 1: th/th
"Dann kannst du dem ins Herz gucken"
Rio Reiser in Ost und West
In seinen Liedern steckt etwas Grenzen überschreitendes, etwas, dass nach einem gesellschaftlichen Aufbruch, Umbruch - nach einer neuen Welt sucht. Eine neue Welt, die viele Linke im Westen in den 70er Jahren suchten und die in den 90er Jahren die Menschen in der DDR erträumten. Die Rede ist von Rio Reiser, der wie kaum ein anderer deutscher Musiker und Linker voller Leidenschaft über die Verzweiflung in der Gegenwart und die Hoffnung auf eine gerechten Welt in der Zukunft sang.
Im Oktober 1988 reiste Rio Reiser für zwei Konzerte nach Berlin Ost, in die Hauptstadt der DDR. Auf einer Doppel-CD und als Video hat das RioReiserArchiv Ende letzten Jahres dieses Ereignis veröffentlicht. In der Seelenbinder-Halle, einem ehemaligen Schlachthof am Prenzlauer Berg und inzwischen wie die DDR abgerissen, spielte Rio Reiser vor insgesamt 12.000 ZuschauerInnen. Nicht nur, dass es eine echte Freude ist, die CDs zu hören. Eine Gänsehaut ist nicht zu vermeiden, wenn Rio Reiser in Ostberlin am Klavier die Zugabe "Der Traum ist aus" spielt. Da steigt nicht nur die eigene Geschichte, die Scherben-Feten in einem kleinstädtischen und selbstverwalteten Jugendzentrum hoch. So leidenschaftlich, wie wir dieses einzigartige "Dieses Land ist es nicht" mitzubrüllen verstanden, so bewegend und historisch vermutlich bedeutender, ist es, wenn 1988 12.000 DDR-Bürger ihrer Wut, ihrem Ärger, ihrem Frust und ihren Sehnsüchten freien Lauf lassen - und mitsingen, was die Stimme hergibt.
Organisiert wurden die Konzerte von der Freien Deutschen Jugend, der FDJ. Rainer Börner, heute im RioReiserArchiv tätig, war damals der Sekretär, der Rio in die DDR holte. Um Rio Reiser nicht in Form von Marx-Engels-Werken oder Meisner Porzellan bezahlen zu müssen, hatte Wörner den Radiosender und Devisengeber DT 64 als Mitveranstalter gewonnen. DT 64 erhielt das Recht, das Konzert aufzuzeichnen. Glücklicherweise, denn nur dadurch konnte jetzt diese CD veröffentlicht werden.
Dass ein Rio Reiser Konzert auch 1988 in der DDR keine Selbstverständlichkeit war, liegt auf der Hand. Nicht nur in Westdeutschland waren die frühen Scherben-Stücke quasi mit Rundfunkverbot belegt. Das war in der DDR nicht anders.
Ostberlin 1988:
" ... dieses
Land ist es nicht"
Allerdings ist es doch überraschend, dass Rio Reiser lediglich eine Auflage für seine beiden Konzerte in der Hauptstadt bekam: "Keine Macht für Niemand" sollte er nicht spielen. Eine erstaunliche Übereinstimmung, die die FDJ-Zentrale da mit verschiedenen K-Gruppen aus Westdeutschland zeigte, die dieses Stück ja in den 70ern ebenfalls als nicht "pc" verurteilt hatten. Rio Reiser hielt sich an diese alberne Auflage und eröffnete das Konzert mit "Alles Lüge".
Eine andere Form von Zensur übte das DDR-Fernsehen. Dieses hatte zwar die Konzerte aufgezeichnet, das Material dann aber fernsehgerecht auf einen 90 Minuten Beitrag gekürzt. So mussten natürlich Stücke ausgelassen werden. Dass aber ausgerechnet "Der Traum ist aus" weggeschnitten wurde, kann kaum ein Versehen oder eine musikalische Verirrung der Dame oder des Herrn am Schneidetisch gewesen sein. Fatal an dieser ideologischen Schneidetechnik ist, dass nun das Stück auf dem Video ärgerlicherweise fehlt. Denn wie in der BRD wurden auch beim DDR-Fernsehen lediglich die gesendeten Beiträge archiviert. Das Rohmaterial ist weg. Auf diese Weise werden jedoch die Doppel-CD (über zwei Stunden) und das ebenfalls jetzt veröffentlichte Video zu einer Art Zeitdokument über Zensur, Medien- und Kulturpolitik der DDR.
Für Rainer Börner hat niemand "meine Stimmung, mein Lebensgefühl in der zweiten Hälfte der 80er Jahre in der DDR besser getroffen als Rio mit seinen ersten beiden Solo-Platten" und er erwähnt "Blinder Passagier" und "Wann". Das dürfte kaum eine Einzelmeinung gewesen sein. Wie eigentlich kann das sein, das West-Reiser für den Ost-Börner derartiges zu Wege brachte? Wenn sich Linke in Westdeutschland unter dem "Menschenfresser" eine Gemengelage aus Bonzen, Technokraten und Schreibtischtätern vorstellten, dann war das eben in der DDR nicht anders. Stasi, Technokraten und Bonzen gab es eben auch dort. Und wenn das "Zauberland" abbrennt, dann handelte das von der DDR - oder von gescheiterten Träumen einer Westlinken.
In die Herzen
von Ost und West
Legt man die westdeutsche linke Phasentheorie über Rio Reiser an, dann gibt es zwei bis drei davon. Die erste bis Mitte der 70er Jahre, in der die Texte klar und eindeutig Klassenkampf forderten, Texte, die "mit kämpferischer Agitation und mit klarer Freund-Feind-Benennung" daher kamen, wie es in ak 394 heißt. Doch schon Mitte der 70er Jahre folgte der Abstieg: Reiser stellte "seine Verzweiflung an den Zuständen und seine Sehnsucht nach individuellem Glück" in den Mittelpunkt (ebd.). Nach dieser Lesart stellte der Wegzug aus Berlin-West und die LP "Wenn die Nacht am tiefsten ist" eine "völlige Kehrtwendung der Textaussagen" (ebd.) da. Der dritte Reiser, der dann Mitte der 80er Jahre die deutschen Gassenhauer-Hitparaden im Verbund mit der Plattenfirma Sony stürmte, war für die einschlägige Westlinke der tiefe Abgrund. Der aber war offenbar noch ausreichend, einem großen DDR-Publikum das besagte Lebensgefühl zu vermitteln. Interessant dürfte dabei sein, was all die Menschen, die Rio Reiser in der Hauptstadt erlebten, erhofften: Westanschluss? Einen neuen demokratischen Sozialismus? Beides? Sicher dürfte nur eines sein: Der Traum ist aus ...
"Wenn dieser
Typ das Maul aufmacht ..."
Ohne Frage sind Rio Reisers Texte und er selbst immer politisch gewesen. Dass sich der Inhalt seiner Texte veränderte, dass er sich nicht mehr in reiner Politpropaganda begnügte und sich statt dessen mit Themen beschäftigte, in denen es immer auch um die eigene Befindlichkeit ging, ist gut und nicht schlecht. Jedenfalls wenn man berücksichtigt, dass seit Mitte der 70er Jahre überall von der Krise der Linken, der Krise der Autonomen, der Krise des Marxismus etc. gesprochen wurde. Angesichts all dieser Krisen war und ist es doch nur vernünftig, sich damit auseinander zu setzen, wie es einem selbst in diesem Prozess geht. Dies umso mehr, als doch schon zu dieser Zeit viele ehemalige AktivistInnen, viele, die Ende der 60er mit losgezogen waren, die Welt zu verändern, unter dem Druck der Kaderorganisationen, in heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Organisationen und einer massiven Linienwächterei zerrieben wurden, unter der Last der Termine zusammenbrachen. Fast wie in Notwehr zogen sich die Betroffenen radikal zurück, verabschiedeten sich allzu häufig in die vermeintliche Privatheit. Lust und persönliches Glücklichsein waren eher Gegensatz zum politischen Kampf, denn die Bedingung dafür.
Reiser hat in seinen Texten immer die Sehnsucht nach einer neuen Welt, nach einem glücklichen Miteinander verbunden mit dem Frust und der Ohnmacht, die er mit einer marginalisierten Linken in Westdeutschland teilte. Der Mann hat sein Leiden an der Realität im Kapitalismus, im Staate BRD offen gelegt. Schade nur, dass ein größerer Teil der radikalen Linken so offenkundig nicht dazu bereit war, über die eigenen Sehnsüchte, Hoffnungen und Enttäuschungen öffentlich nachzudenken und zu fühlen. Da dürfte viel nachzuholen sein.
Dass Rio Reiser nach der Wende in die PDS eintrat und deren Europawahlkampf mit einem Song unterstützte, macht vor diesem Hintergrund deutlich, wie tief die Hoffnung auf eine gerechtere Welt in dem Mann verwurzelt war. Natürlich ist es kurios sich vorzustellen, dass ein alter Anarchist und Staatsfeind nun ausgerechnet in der SED-Nachfolge-Partei eine solche politische Hoffnung erblickte. Doch nicht nur er, zahlreiche andere West-Linke hegten mit der PDS zunächst ja die Erwartung, dass es für eine linke Alternative, für einen Aufbruch in der neuen BRD mit angeschlossener DDR reichen könnte, das aus den Scherben der DDR eine neue gesamtdeutsche Linke mit gesellschaftlicher Relevanz entstehen könnte. Auch für diese Zeitung spielte das seinerzeit eine herausragende Rolle und immerhin war auch diese Geschichte mit ausschlaggebend für die Auflösung des ehemaligen Herausgebers von ak.
Rio Reiser suchte die Gemeinsamkeiten mit den Menschen, in dem er die Grenzen zwischen dem Hier und Jetzt und einer hoffnungsvollen Zukunft abschritt. Davon ist er nie abgewichen! Dass er damit in Teilen der Westlinken, in der die Abgrenzung zum obersten Gebot erhoben wurde, nicht landen konnte und daher nicht besonders gut ankam, ist das eine. Dass er damit aber vielen Mut machte, sich für ihren Traum einzusetzen, ist das andere. Lutz Kerschowski, der als damaliger DDR-Musiker mit seiner Band im Vorprogramm des Konzertes auftrat und bis zum Tod von Rio Reiser mit ihm zusammen arbeitete und lebte, brachte es auf den Punkt: "Wenn dieser Typ singt, wenn der den Mund auf macht, dann kannst du dem ins Herz gucken." Von dieser Sorte Linker dürfte es gern mehr geben.
DSe